Die nordeuropäische Szene für zeitgenössische Kunst entwickelt neue Dynamiken und wird zunehmend von internationalen Sammlern beobachtet. Mit den Nordic Notes lenken wir regelmäßig den Blick auf die nordische Kunst- und Kulturszene und stellen ihre wichtigsten Akteure vor.
Mit ihrem Plan, ein Guggenheim Museum zu bauen, startete Helsinki eine Initiative, um sich in der internationalen Kunstszene stärker zu profilieren, wovon letztendlich die gesamte nordische Region profitieren sollte. Wir trafen Sanna-Mari Jäntti, die damals das Guggenheim Helsinki Projekt, das letzten Endes nicht durchgeführt wurde, mit voran trieb. Wir unterhielten uns mit ihr über die anfänglichen Herausforderungen des Projekts, darüber wie David Goliath im größten Architekturwettbewerb aller Zeiten besiegte, und wie die „finnische Art“ den wesentlichen Unterschied ausmachte.
Sanna-Mari, als Direktorin des Guggenheim Helsinki Projekts bei Miltton hast du wahrscheinlich mometan einen der aufregendsten Jobs in der skandinavischen Kunstszene.
Ja, ich habe einen wirklich schönen und sehr interessanten Job. Wir agieren in einem äußerst komplexen Umfeld unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen, in dem es enorm wichtig ist, mit Taktgefühl aufzutreten und den richtigen Ton zu treffen. Genauso erfordert es echten Teameinsatz, mit der Solomon R. Guggenheim Foundation und Organisationen, wie der lokalen Stiftung mit ihrem internationalem Vorstand und der Vereinigung der Finnischen Guggenheim für Helsinki, von denen das Projekt in vielfältiger Weise gefördert wird, Hand in Hand zu arbeiten. Außerdem unterstützen uns viele unternehmenseitige Partner und andere Organisationen. Inzwischen beginnt sich wirklich ein Ökosystem und Netzwerk zu entwickeln.
Ich arbeite natürlich nicht von 9 bis 5. Wie viele, die im skandinavischen Kulturbetrieb tätig sind, bin ich fest davon überzeugt, dass dieses Projekt unsere Kunstszene völlig verändern wird. Mir selbst bedeutet Kunst sehr viel. Ich freue mich, eine so große Chance für Helsinki, Finnland und die gesamte nordische Region in die Wege leiten und mitgestalten zu dürfen. Selbst wenn mir heute irgendwo in der Welt ein anderer interessanter Job angeboten würde, ich würde ihn wohl nicht annehmen. (lacht)
Wie du schon sagtest, wenn man ein hochkarätiges Projekt mit einer derartigen Strahlkraft plant, muss man mit unterschiedlichen Meinungen rechnen. Schon oft haben Projekte dieser Größenordnung mit zähen Auseinandersetzungen begonnen.
Ja, das war auch für die Unternehmung des Guggenheim Helsinki der Fall. Das Projekt wurde 2012 initiiert, als die Stadt Helsinki ein Wirtschaftlichkeitsgutachten zum Bau eines Guggenheim Museums auf einem Brachgrundstück neben dem Marktplatz im Hafen von Helsinki in Auftrag gab. Die Pläne lösten in der finnischen Öffentlichkeit hitzige Debatten darüber aus, wie sich ein solches Projekt auf die Stadt Helsinki und die finnische Identität auswirken würde. Viele Interessensvertreter fühlten sich von den Gesprächen über Konzept, Standort und andere wichtige Aspekte ausgeschlossen. Als die Stadtverwaltung dann 2012 über die nächsten Schritte des Projekts abstimmte, wurde die Idee mit nur einer einzigen Mehrheitsstimme abgelehnt. Es war ein sehr enges Abstimmungsergebnis, das mit einem „Nein“ endete.
Heute stellt sich ein anderes Bild dar. Obwohl die Zukunft des Guggenheim Helsinki Projekts immer noch debattiert wird, scheinen die Bürger Helsinkis inzwischen mit mehr Überzeugung dahinter zu stehen. Was hat sich verändert?
Das Projekt entwickelte sich zu einem echten Change Management-Prozess, während dem wir viel über uns selbst und die finnischen Art Dinge anzugehen, gelernt haben. Obwohl Finnland ein sehr fortschrittliches Land ist, begegnen die Finnen neuen Ideen, die Architektur, Design und andere Neuerungen betreffen und von außen kommen, eher misstrauisch. Man braucht schon sehr mit der finnischen Kultur vertraut sein, um mit der finnischen Gesellschaft und politischen Entscheidungsprozessen erfolgreich in Dialog zu treten.
Die Öffentlichkeit hatte erwartet, bei der Vorstellung des Projekts in einen partizipativen Prozess eingebunden zu werden. Aber weder das Guggenheim noch die Stadt Helsinki hatten damit gerechnet, dass die Finnen derart eng an diesem Prozess beteiligt und gehört werden wollten. Trotz des anfänglich negativen Abstimmungsergebnisses, blieb das Engagement des Guggenheim-Teams unerschüttert und man war entschlossen, das Konzept den Erwartungen und Bedürfnissen der Öffentlichkeit anzupassen. Als Teil dieser Kursänderung wurde beschlossen, wichtige Führungspositionen an die örtlichen Organisationen zu delegieren.
Ich bin seit 2013 Direktorin des Guggenheim Helsinki Projekts und bei Miltton, einer großen skandinavischen Kommunikations- und PR-Agentur, angestellt. Das Guggenheim beauftragte Miltton, das Projekt auf lokaler Ebene zu leiten und als Liaison zwischen den verschiedenen örtlichen Organisationen zu vermitteln und den Dialog mit der Öffentlichkeit zu führen. Ich war schon in die frühen Phasen des Projekts involviert gewesen, aber mehr in einer unterstützenden und beratenden Funktion, weswegen mir die Herausforderungen dieses Projekts bereits bekannt waren.
Was musste neu gedacht werden, um das Projekt zielführender mit der Öffentlichkeit diskutieren zu können?
Es war uns allen klar geworden, dass das Projekt in einen gemeinschaftlichen Prozess überführt werden musste. Das bedeutete, dass wir unseren Blick auf alle möglichen Interessensvertreter ausdehnen und auch diejenigen einbeziehen mussten, die das Gefühl hatten, in den Anfangsphasen nicht gehört worden zu sein. Also erstellten wir einen Plan, um uns mit diesem erweiterten Spektrum von Interessensgruppen genauer befassen und die Belange und Erwartungen jeder einzelnen Gruppe auf konstruktivere Weise aufnehmen zu können.
Es ging im Grunde darum, sich mit den bestehenden Organisationen, den Meinungsbildnern und all jenen zu arrangieren, die sich Sorgen darüber machten, wie das Projekt das Leben in der Stadt beeinflussen würde. Wir begannen einen Dialog mit den verschiedenen Zielgruppen, wie etwa der Hafenverwaltung, den Stadtplanern, den Direktoren der Kulturinstitutionen, den finnischen und skandinavischen Tourismusverbänden, und nicht zuletzt mit lokalen Oppositionsgruppen, die sich während des Prozesses formiert hatten.
Wie gelang es konkret, ein konstruktives Klima für das Projekt herzustellen?
Zunächst galt es, vor allem den Bauplatz, auf dem das Guggenheim ursprünglich gebaut werden sollte, neu in Augenschein nehmen, denn er war durch bereits früher geplante, aber nie umgesetzte Projekte vorbelastet. Wir sahen uns also veranlasst, nach einem neuen Bauplatz umzuschauen, um einen Neustart, frei von Emotionen, hinzulegen.
Wir entwickelten viel Kreativität, um uns an die Öffentlichkeit zu wenden. So veranstalteten wir zum Beispiel Workshops, in denen die Bürger ihre eigenen Vorstellungen des Museums zeichnen konnten. Wir machten eine erneute Eingabe, in die wir diese Zeichnungen integrierten. Die Bürger engagierten sich sehr in diesem Prozess. Wir stellten fest, dass ihre Bedenken sich weniger gegen das Museum an sich richteten, sondern darauf, wie es die Dynamik der Stadt beeinträchtigen und wie jeder Einzelne mit dem Gebäude in Kontakt stehen würde. Diese Bedenken beruhten also weniger auf kühler Logik und mehr auf Emotionen. Diese Einsicht war sehr wertvoll für uns, weil wir zu verstehen begannen, dass wir uns mit dem Einfluss des Museums auf die Stadt Helsinki und Finnland befassen und in den einzelnen Stadien dieses Prozesses transparenter werden mussten.
Der Architekturwettbewerb für das Guggenheim Helsinki war in vielerlei Hinsicht bemerkenswert und beeinflusste maßgeblich, wie das Projekt seitdem in der Öffentlichkeit gesehen wird.
Ja, das stimmt. Es war ein gerade epischer Moment für das Projekt. Ihr wisst natürlich, dass Architektur immer eine wichtige Rolle in der finnischen Identität gespielt hat. Deshalb erregte der Wettbewerb auch so großes Aufsehen. Es war zu erwarten, dass für ein neues Guggenheim viele Bewerbungen eingereicht werden würden. Aber die Zahl der eingereichten Vorschläge übertraf letztlich alles, was wir uns je hätten vorstellen können, denn es wurden 1.715 Entwürfe eingereicht!
Der Wettbewerb war einzigartig. Er war nicht nur sehr partizipativ und inhaltsbezogen, sondern dehnte sich auch auf Diskussionen über die Gestaltung der Stadt und ihrer Bedürfnisse sowie Finnlands Design- und Architektur-Erbe aus. Es waren die Hafenverwaltung, das Stadtbau- und Planungsamt, die Tourismuszentrale und Lobbygruppen involviert. Und uns wurde wieder einmal klar, dass ein Top-Down-Ansatz keine Option gewesen wäre und warum dieser offene Dialog so wichtig war.
Nach diesem offenen, anonymen Design-Wettbewerb, kam es für viele absolut überraschend, dass das final ausgewählte Konzept nicht von einem der Stararchitekten, sondern aus einem kleinen französisch-japanischen Architekturbüro stammte.
Ja, das stimmt. Den Preis gewann nämlich das kleine Büro eines Architekten-Duos namens Moreau Kusunoki aus Paris, das erst seit zwei Jahren bestand. Bis zu diesem Zeitpunkt war es undenkbar, dass ein so kleines Büro eine Ausschreibung dieser Größe gewinnen konnte. Ihr Entwurf wurde unter den letzten sechs Finalisten ausgewählt. Es hat sicherlich auch viele überrascht, dass sich kein finnisches Architekturbüro unter den Finalisten befand.
Moreau Kusunoki beeindruckte die Jury und das Projekt-Team auf verschiedene Weise. Natürlich bedeutet der Gewinn des Wettbewerbs für die beiden Architekten eine Erfahrung, die ihr Leben nachhaltig verändern könnte und wir konnten ihren Enthusiasmus und ihr Engagement regelrecht spüren. Ihr feines handwerkliches Gespür zeigte sich unter anderem in einer dem Entwurf beiliegenden Handzeichnung des zukünftigen Museums am Hafen, mit liebenswerten Details, auf der man einen Fischer mit Mütze in seinem kleinen Fischerboot auf dem Wasser erkennen konnte. Als wir das sahen, war uns klar, dass sie wirklich alles tun würden, um dieses Gebäude in seine Umgebung zu integrieren.
Die Idee eines offenen, anonymen Wettbewerbs sollte möglichst vielen eine Chance geben. Obwohl es so nicht beabsichtigt war, hat die Entscheidung zugunsten eines kleinen Architekturbüros, anstatt eines der großen Starbüros, die öffentliche Wahrnehmung des Projekts komplett verändert. Viele fühlen sich darin bestätigt, dass in diesem Projekt die Dinge offensichtlich etwas anders liefen.
Wenn es um Architektur geht, sind die Finnen sehr involviert. Wie hat die Öffentlichkeit das Design-Konzept angenommen?
Ja, wir Finnen sind extrem kritisch wenn es um Architektur geht, denn in unserem Alltag sind wir von Meisterwerken großer Architekten wie Alvar Aalto umgeben. Wir haben das Gefühl, dass wir Architektur in unserer DNA haben. Es waren aber wirklich fast alle von dem Entwurf von Moreau Kusunoki angetan.
Trotzdem geht die Debatte über bestimmte Aspekte wie Farbschema und Materialwahl weiter, aber im Großen und Ganzen ist der Entwurf doch sehr gut angenommen worden. Sehr wichtig ist auch, dass die Architekten eine gute Verbindung zum örtlichen Gemeinwesen aufgebaut und sich verpflichtet haben, das Guggenheim Helsinki zu einem Ort zu machen, der Menschen in der Stadt auf Augenhöhe begegnet und für alle da sein wird.
In Bezug auf Ästhetik und Funktionalität haben Finnen und Japaner eine ähnliche Sensibilität und Philosophie. War es von Vorteil, dass ein Mitglied des Architektenteams Japanerin ist?
Ich glaube beide Kulturen haben eine ganz besondere Wertschätzung für die Natur und alles Natürliche, und einen Blick für das menschliche Maß. Finnischer und japanische Design-Ästhetik ist sich sehr ähnlich darin, dass sie sich an Funktionalität orientiert und danach strebt, eine Verbindung zur Natur aufzubauen. Das wird beispielsweise anhand der Wahl der Materialien deutlich.
Es war sicherlich kein bewusstes Auswahlkriterium für die Wahl der Finalisten, und dennoch stimmt es, dass einige der Aspekte, die uns an Moreau Kusunokis Entwurf – ihre Materialwahl, ihre Genauigkeit im Detail und ihr echtes Interesse dafür, den Bau in das Stadtbild zu integrieren – beeindruckt haben und möglicherweise mit japanischer Design-Philosophie und Handwerkskunst in Zusammenhang stehen.
Helsinki hätte genauso gut darin investieren können, das Profil einer seiner schon existierenden Kunstinstitutionen wie dem Kiasma oder dem Helsinki Art Museum zu stärken. Warum braucht die Stadt ein Guggenheim?
Schon zu Beginn des Projekts hatten wir nicht nur Helsinki, sondern die gesamte nordische Region im Blick. Die nordischen Länder haben eine Tradition der Zusammenarbeit. Aus nordischer Perspektive sehen wir eine Riesenchance, uns neben Architektur und Design kollektiv auch als Destination für Kunst und Kultur zu positionieren. Wir haben eine sehr lebendige Szene mit talentierten jungen Künstlern. Hervorragende Institutionen wie das Moderna Museet in Stockholm, das Louisiana Museum of Modern Art bei Kopenhagen oder das Kiasma hier in Helsinki legen hohe Maßstäbe an.
Doch hat sich diese Reputation noch nicht außerhalb unserer eigenen Region herumgesprochen. Wir brauchen mehr Strahlkraft in die internationale Kunstszene und müssen Teil des internationalen Diskurses werden. Mit dem Guggenheim Helsinki in einer Art Leuchtturmfunktion für die Region wären wir in der Lage, den kommerziellen Kunstsektor einschließlich der Galerien, Unternehmenssammlungen, und Kunstmessen für alle skandinavischen Länder zu stärken. In dem Maß, in dem der kommerzielle Kunstsektor wächst, werden sich auch neue Fördersysteme und andere Möglichkeiten für Künstler aus den nordischen Ländern entwickeln.
Könnte das Guggenheim auch den skandinavischen Tourismus fördern?
Absolut. Man stelle sich vor, der Flughafen Helsinki-Vantaa allein hat etwa 4.000 Transitreisende, die täglich in Helsinki landen. Wenn wir auch nur einen Teil dieser 4.000 Gäste dazu bringen könnten, die Stadt zu besuchen, und sei es auch nur für einen Tag, würde das schon einen enormen Unterschied machen. Wir sollten wirklich beginnen, in Destinationen zu denken. Wenn wir das Projekt aus der Perspektive eines Reisenden betrachten, bieten wir bereits jetzt schon ausgezeichnete internationale Verkehrsverbindungen, und wir erfreuen uns einen wachsenden Sektor mit attraktiven Hotels und einer sehr lebendigen Bar- und Restaurant-Szene. Aber natürlich kommen Touristen nicht wegen der Hotels oder der guten Restaurants. Sie brauchen andere Gründe. Mit dem Guggenheim Helsinki könnten wir der Landkarte Skandinaviens eine weitere spektakuläre Destination hinzufügen.
Als wir vor ein paar Tagen auf dem Flughafen Helsinki-Vantaa gelandet sind, war die hohe Zahl asiatischer Fluggäste auf der Durchreise nicht zu übersehen. Auch hier in der Stadt fallen einem die vielen asiatischen Touristen auf.
Helsinki hat eine einzigartige geographische Lage als Tor zwischen Europa und Asien. Reisende nach und aus Asien sind auf jeden Fall ein Publikum, dem wir viel Aufmerksamkeit schenken. Die Metropole Helsinki, der Flughafen Helsinki-Vantaa und Finnair widmen diesem Segment große Aufmerksamkeit. Asiatische Touristen sind sehr gebildet und interessieren sich für Kunst und Kultur. Das Guggenheim Helsinki soll eine Flagschiff-Rolle übernehmen, von der auch andere Kulturinstitutionen der Region profitieren werden. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit den schwedischen Kulturinstitutionen und Tourismusverbänden und versuchen sie davon zu überzeugen, wie einfach es doch eigentlich ist nach Stockholm zu fliegen, dann die Fähre nach Helsinki zu nehmen und von dort nach St. Petersburg weiterzureisen. Das kann man gut in vier Tagen schaffen.
Die öffentliche Debatte um das Guggenheim Helsinki Projekt dauert an. Hand aufs Herz, wird das Guggenheim Helsinki irgendwann Realität werden?
Wir hoffen, dass die Regierung bis zum Herbst eine Entscheidung bezüglich ihres Engagements treffen wird. Bis dahin müssen wir abwarten. Die Zeichen für die Realisierung des Projekts stehen besser als je zuvor und wir sind froh, dass wir die Unterstützung so vieler lokaler Interessensvertreter haben. Aber gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass sehr viele Entscheidungsträger involviert sind: allen voran die Stadt Helsinki, die eine unabhängige Entscheidung treffen muss, welche Rolle sie darin spielen wird, und natürlich die vielen privaten Kostenträger, die lokale Stiftung und das Guggenheim in New York. Diese unterschiedlichen Akteure in ein Boot zu kriegen und das Projekt nach vorn zu bringen, ist ein sehr komplizierter Vorgang. Aber wer hat denn behauptet, dass es einfach werden würde?
Interview: Michael Wuerges
Fotos: Florian Langhammer