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Agency of Singular Investigations, Moskau

In the Studio

»Der Vorgang des Verstehens unserer Kunst ist Teil unserer Kunst.«

Anna Titova und Stanislav Shuripa gründeten 2014 das Kollektiv „Agency of Singular Investigations“ (ASI) mit dem Ziel, einen kritischen Blick auf die Erinnerung und die Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu werfen. Ihre Projekte sind konstruierte Situationen, in denen Fiktion zur Tatsache wird. Sie arbeiten mit Rekonstruktionen und Originalen, Bildern und Ereignissen, um erworbenes historisches Wissen zu hinterfragen. In Russland geboren und früher in Moskau ansässig, verstehen sie sich heute als eine nomadische, transnationale „Research & Reflection“-Einheit.

Anna, Stanislav, ihr seid ein Künstler und eine Künstlerin russischer Nationalität, die beide nicht mehr in ihrem Heimatland leben. Wie ist es eurer Ansicht nach um die geistige Freiheit in Russland bestellt? Wie haben sich die Dinge seit Februar 2022 und dem Beginn des Krieges in der Ukraine verändert?
Anna (A):
Das Problem in Russland ist nicht nur der Mangel an intellektueller Freiheit – die ganze Realität ist zusammengebrochen. Der Krieg zerstört nicht nur Leben, sondern auch soziale Verbindungen, den öffentlichen Raum, Bereiche kultureller Produktion, Köpfe und Emotionen. Wenn es keine Freiheit gibt, ergeben viele Dinge keinen Sinn.

Stanislav (S): Es hat sich auch so eine spezifische Subjektivität entwickelt. Es fühlt sich an, als ob ein Element aus der totalitären Ära durchgesickert wäre und die Massenmedien infiziert hätte. „Traditionalistische“ Rhetorik, Propaganda und Zensur versuchen heute, blindes Vertrauen in die vorherrschende Mythologie zu erwecken. Der Missbrauch der Kommunikationsmedien zerstört die Wirklichkeit. Nach offizieller Auffassung ist die heutige Welt ziemlich leer: Fast niemand verdient Interesse, Freundlichkeit oder Anerkennung. Es ist ein so krasser Kontrast zu der lebendigen Realität des 21. Jahrhunderts, die sich außerhalb dieses hermetischen, propagandistisch-flachen Universums abspielt.

Wie geht die Agency of Singular Investigations (ASI) mit dieser Wahrnehmung um?
A: Wir blicken auf die Grauzone zwischen Fakten und Fiktion, um Erkenntnisse über die Vergangenheit zu gewinnen. In letzter Zeit häuften sich die Konflikte zwischen Fakt und Fiktion, die Grauzone wurde sukzessive von „alternativen Fakten“, „Fake News“ und „Postfaktischem“ überschwemmt …

S: Wir sind beide in einer völlig anderen Welt aufgewachsen. Damals hatten wir das Gefühl, dass die Dinge besser, freier, komplexer würden. Die Erwartungen an eine bessere Zukunft waren seit den 1980er Jahren Teil unserer Kultur. Das hat sich geändert, und es ist rätselhaft, wie ein Land seine humanistischen kulturellen Traditionen und seine Hoffnung auf Wohlergehen zugunsten eines korrodierten Eroberungsmythos ablehnen kann. Vielleicht geht es in unserer Arbeit auch um den Versuch, Geschichte zu verstehen.

A: Das Ergebnis unserer Überlegungen ist immer eine visuelle Erzählung, die sich im Raum entfaltet. Die Gründung von ASI im Jahr 2014 war eine Antwort auf die historischen Herausforderungen, vor denen wir standen.

Es war das Jahr der Annexion der Krim. Hat euch diese politische Entwicklung zum Handeln angespornt?
A:
Wir wollten diese neue Wirklichkeit überdenken. Alles wurde damals ideologisch durchtränkt, nichts schien unpolitisch. Wir befanden uns in einer neuen, dunkleren und unberechenbareren Realität. Nach 2014 wurden Bilder zu Schlachtfeldern und die Sprache zu einer Waffe neoimperialistischer Politik. Seitdem mutiert die öffentliche Sprache ständig, sie hat sogar angefangen, anders zu klingen. Für uns war es an der Zeit, mit alternativen Visionen zu experimentieren, mit einer Art Gegensprache, die Räume für soziales Engagement schafft. Wir betrachten unsere Praxis als einen Weg aus der Dunkelheit.

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Vor der Gründung von ASI wart ihr bereits als eigenständiger/e Künstler/Künstlerin bekannt. Wie einfach – oder wie schwierig – ist es, zusammenzuarbeiten?
S:
Wenn es eine Idee gibt, die uns beiden gefällt, findet die Arbeit wie in einem Labor statt, zu dem wir immer wieder zurückkehren. Unsere Projekte bestehen oft aus verschiedenen Teilen, die auf experimentelle Weise miteinander verbunden sind. Jede unserer Arbeiten ist der Beginn einer eigenen Welt, die sich aus einer Überschneidung von Geschichten, Subtexten, Objekten und Orten ergibt. Manchmal bekommen wir auch einen anderen Blick auf unsere künstlerische Haltung, wenn wir als ASI arbeiten.

Erzählt von eurer Praxis!
A:
Wir beginnen mit einem Narrativ, das sich entwickelt, und wir versuchen, es für die Betrachter*innen abzubilden. Die Arbeit kann dann die Form einer textbasierten Installation annehmen, die dokumentarische Videos, Animationen, Performances oder andere Dinge enthält. In unserer Arbeit Flower Power. Archive haben wir zum Beispiel ein imaginäres Museum gebaut, das auf den Dokumenten eines Geheimbundes basiert, der für einen parapsychologischen Widerstand gegen das Sowjetregime stand.

S: Wir erweitern gerne die Idee des Dokumentarischen, um zu sehen, was passiert. Es hat für uns eine ästhetische Dimension: Es geht um das Flackern zwischen Glauben und Unglauben, um die Kollision von Wissen und Imagination, um den Wechsel zwischen Fakt und Fiktion.

Wie kann man eine Arbeit, die so konzeptuell ist, visuell ausdrücken?
A:
Für uns existieren unsere Ideen als Ansammlung von Bedeutungen, Bildern und Stimmungen. Und es macht immer Spaß, nach neuen Wegen zu suchen, um eine Idee auszudrücken. Das kann manchmal auch roh, bizarr und ungeschliffen wirken, weil wir immer verschiedene Wege finden möchten, um mit dem Publikum in Kontakt zu treten.

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Ihr habt das Projekt Flower Power. Archive erwähnt, das 2019 im Moskauer Museum für Moderne Kunst ausgestellt war, in dem es um die Dokumentation eines Geheimbundes geht. Die Betrachter konnten dazu Schriftstücke, Bilder und Skulpturen sehen; aber es war nie klar, ob das alles nur ausgedacht oder echt war. Was sollte das Publikum denken?
S:
Der Vorgang des Verstehens unserer Kunst ist Teil unserer Kunst, Teil unserer Botschaft. Es ging um die Ästhetik des Oszillierens zwischen Glauben und Unglauben an das, was man sieht und liest. Es ist immersiv: Man liest die Dokumente und taucht in ihre Realität ein, dann bemerkt man irgendwann, dass einige von ihnen merkwürdig wirken, vielleicht sogar erfunden sind. Diese Erfahrung hat eine befreiende Wirkung.

Braucht man Vorkenntnisse, um eure Arbeit zu verstehen?
A: Unsere Arbeit erfordert keine vorgegebene Herangehensweise, sie kann auf mehr als eine Weise verstanden werden. „Unerfahrene“ Betrachter*innen sind genauso wichtig wie „professionellere“, weil erstere das Werk auf unvorhergesehene Weise entdecken. Es geht weniger um Vorwissen als darum, bisher unbekannten Deutungen offen gegenüberzustehen.

In eurer Arbeit geht es also letztlich darum, Menschen zum Nachdenken anzuregen?
A:
Denken ist eine Möglichkeit, sich etwas vorzustellen. Wir erforschen die Aktualität ausgedachter Welten und konstruieren diese Welten dann aus Teilen, die wir in der Gegenwart finden. Diese Welten zeigen Möglichkeiten eines Heute; sie sind quasi die vergessenen Zukünfte der Vergangenheit. Wir arbeiten viel mit historischen Archiven. Die staatlich kontrollierten sind in den letzten zehn Jahren immer weniger zugänglich geworden, die offizielle Version der Geschichte wird auf plakative Bilder reduziert. Wenn die Vergangenheit also ein Werkzeug ist, schaffen wir „Gegenwerkzeuge“, damit Betrachter*innen komplexer denken können.

In diesem Sinne ist eure Arbeit historisch und politisch?
S:
Das Politische bezieht sich für uns auf die Wechselwirkung zwischen schwach und stark, klein und groß. Es geht um Anerkennung oder darum, wie Gleichheit und Ungleichheit koexistieren. Was wir tun, entspringt der Annahme einer radikalen Gleichheit zwischen Fakten und Fiktionen, zwischen Kopien und Originalen. Das sind die Ausgangspunkte unserer Arbeit.

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Kann man in Russland überhaupt noch ein/e kritischer/e Künstler*in sein?
A:
Nun, die Strafen sind hart und die Hexenjagd intensiv. Diese Instrumentalisierung von Kultur zeigt eine Tendenz, Künstler*innen zum Schweigen oder zum Verlassen des Landes zu bringen. Es gibt so etwas wie eine Mauer der Unsichtbarkeit, die kritische Praktiken von dem trennt, was einst die öffentliche Sphäre war.

Gibt es in Moskau also noch nennenswertes künstlerisches Leben?
S:
Es ist nicht ganz verschwunden, aber es ähnelt einem Blackout. Auch wenn es in einer solchen Situation vielleicht noch möglich ist, kreativ zu sein: Wer will schon ewig unter einem derartigen Druck leben? Beträchtliche Teile der Kunstwelt scheinen sich in wirklicher oder zumindest innerlicher Emigration zu befinden.

Wie geht ihr damit um?
S:
Am besten ist es, sich fernzuhalten; sonst muss man in einem kleinen, geschlossenen Umfeld existieren. Man spürt ständig den Widerspruch zwischen dem Wesen künstlerischer Praxis – wo man durch Zeigen von Kunst kommuniziert – und der Unmöglichkeit öffentlicher Kommunikation. Allein dieses Gefühl ist beängstigend, aber irgendwie interessant, da man bisher unbekannte kafkaeske Aspekte der Realität studieren kann. Es ist jedoch schwierig, diese halbtote Existenz für längere Zeit aufrechtzuerhalten.

Der russische Künstler Oleg Kulig sagte, wenn man mit Zensur konfrontiert werde, gebe es nur zwei Wege: „lecken oder beißen“. Was haltet ihr davon?
S:
Klingt wie aus einer anderen Zeit. Die heutige Realität ist viel komplexer, sie bezieht sich auf die Erfahrung aus totalitären Kontexten. Ein paar Leute versuchen immer noch, quasi im Untergrund, weiterzuarbeiten. Die entscheidende Frage ist nicht einmal, ob die Kunstszene überleben wird, sondern vielmehr, wie sie nach dem Ende dieses Schreckens wieder aufgebaut werden könnte.

Viele Menschen im Westen scheinen zu denken, dass „gute“ russische Kunst heute aktivistisch oder politisch sein muss. Wie denkt ihr darüber?
A:
Aktivismus ist wichtig. Aber Protestkunst geht eben nicht über das eine Bild hinaus, das du machst: Fünf Minuten später wirst du festgenommen, und niemand sieht, was du getan hast. Und dann kann niemand auf dich zukommen oder dich zu deiner Arbeit befragen. Protestkunst ist vor allem Kunst für die Kameras.

Worum geht es dann in der Kunst?
S:
Es kann um viele Dinge gehen. Kunst hilft, die Welt besser zu sehen, sie zu erhellen, dich zu stärken. In der Ästhetik steckt auch etwas Kämpferisches, denn Kultur entwickelt sich durch Konflikte weiter. Jedes Bild ist ein politisches Gebilde, weil es den Betrachter an etwas glauben lassen will. Heutzutage stellt sich wieder die Frage, was Kunst kann und soll. Es geht darum, man selbst zu werden und es zu bleiben – durch Veränderung.

Century Beast, The Agency of Singular Investigations, 2019, Foto: Moscow Museum of Modern Art

Dacha, The Agency of Singular Investigations, 2019, Foto: Moscow Museum of Modern Art

Ihr stellt u. a. in der Wiener Secession aus. Über dem Eingang des Gebäudes prangen die berühmten Worte: „Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit“. Was bedeutet das für euch?
A: Kunst bildet ihre Zeit ab. Als Künstler*in versucht man herauszufinden, was Realität und Zeit sind und wie man sie zeigen kann. In unserer Arbeit beobachten wir die Spuren vergangener Zeit, jene – manchmal unsichtbaren – Spuren, die die Geschichte hinterlassen hat. Die Kunst gehört zu ihrer Zeit wie die Spur zu demjenigen/derjenigen, der sie hinterlassen hat.

S: Die Abbildung der Zeit ist in der Zeit verwurzelt. Ein Bild besteht länger als der Augenblick, den es festhält: Die Zeit vergeht also, während zumindest ein Teil der Kunst überdauert. Kunst kann also Erfahrungen aus verschiedenen Epochen verbinden. Und doch kann man die Kunst der Zukunft nicht erfinden. Kunst kann also helfen, die Gegenwart zu verstehen, aber sie ist keine Zeitmaschine. Kunst ist eine andere Art von Maschine, eine optiko-historische: Sie hilft, besser durch die Zeit zu sehen. Das bedeutet, dass Kunst eine Form der intellektuellen Freiheit ist.

Worum geht es in eurer Arbeit in der Wiener Secession?
A:
Wir zeigen unsere Überlegungen zu den verpassten Möglichkeiten der jüngeren Vergangenheit. Wie könnte der gegenwärtige Lauf der Ereignisse noch aufgehalten werden und nicht in einer Katastrophe enden? Wie viele Wege in andere Zukünfte sind verloren gegangen – und was passierte, wenn wir sie wiederfänden? Es ist interessant, über den gegenwärtigen, unsicheren Moment nachzudenken. Wir arbeiten an dem Portrait eines eingefrorenen Moments.

S: Mit unserer Arbeit kann der/die Betrachter*in vom sogenannten „Happy End der Geschichte“ – also der Welt von gestern – in die Subjektivität der heutigen Massenmedienproduktion reisen und zurück.

Das „Happy End der Geschichte“ – meint ihr den Fall des Eisernen Vorhangs 1989?
S:
Damals war es mehr als das einfache Vorhangfall am Ende eines Theaterstücks. Der Vorhang fiel mit all diesen Dekorationen, mit der ganzen Mythologie … Damals konnte man viele neue Zukünfte sehen, wir fühlten uns als Teil einer großen Befreiungsbewegung. Heute können wir viele Charaktere und Erzählungen aus dieser Vergangenheit sehen, wie in einem Panorama der Psychogeschichte. (Er zeigt auf eine große, auf Papier gezeichnete Mindmap, die sich über alle Wände des Raumes erstreckt.) Hier sehen wir eine Art Landschaft, die von der vergessenen Idee der Perestroika – dem Neuen Denken – handelt, die in den 1980er Jahren grundlegend war. Neues Denken bedeutete Offenheit …

A: … und Frieden … Wir mögen es, die Vergangenheit neu zu überdenken, um Wege in eine bessere Wirklichkeit zu finden. Vielleicht finden wir in diesen vergessenen Träumen Antworten auf die Geheimnisse des Jetzt. Daher wird das, was wir in der Secession machen werden, einen bombastischen Aspekt haben (lacht).

Generell seid ihr für eure Arbeit viel unterwegs – wie beeinflusst das eure Praxis?
A:
Reisen ermöglicht mir, ich selbst zu bleiben und freundschaftliche und professionelle Beziehungen aufrechtzuerhalten. Es ist eine Möglichkeit, etwas von dem zu bewahren oder zu reparieren, was durch den Krieg zerstört wurde: Verbindungen, Gemeinsamkeiten und Austausch.

S: Wir sind daran interessiert, unsere eigene Arbeit aus anderen Blickwinkeln, in neuen Kontexten, mit den Augen verschiedener Menschen zu sehen. Reisen ist Nachdenken.

Interview: Alexandra Markl
Photos: Christoph Liebentritt

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