Ali Cherris Werk besteht aus Videoinstallationen, Zeichnungen, Skulpturen und Filmen. Der in Paris lebende libanesische Künstler erforscht verschiedene Geografien der Gewalt und arbeitet häufig mit zerbrochenen und beschädigten Artefakten der Geschichte. Traumatische Gewalterfahrungen sind nicht etwas, das man verstecken muss, sondern das man nutzen kann, um über die Zukunft nachzudenken.
Ali, du hattest weltweit zahlreiche Einzelausstellungen, unter anderem in Beirut, Paris, New York und London. Erinnerst du dich an die Emotionen, die du erlebt hast, als du deine erste Einzelausstellung eröffnet hast?
Diese Ausstellung fand in Beirut statt, was für mich sehr wichtig war, da es meine Heimatstadt ist. Für meine Familie war es eines der ersten Male, dass sie meine Arbeiten in einem Museum in Beirut ausgestellt sah. Jede Einzelausstellung ist aufgrund des neuen Raums und der neuen Konfiguration eine neue Erfahrung. Ich stelle jetzt in größeren Räumen aus, um meine Arbeiten zu präsentieren. Aber die Ergriffenheit des ersten Mals ist bis heute geblieben, denn man muss neu darüber nachdenken, wie man den Raum von Grund auf erforscht.
Du wurdest in Beirut während der Zeit des libanesischen Bürgerkriegs (1975-1990) geboren. Kannst du dein Leben während dieser Zeit beschreiben und sagen, wie du ein Interesse an der Kunst entwickelt hast?
Meine Lebenserfahrung in dieser Zeit war die einer Stadt, die ich kannte, daher hatte ich das Gefühl, dass es sich um eine Art Normalität handelte. Gleichzeitig gab es im Beirut der Nachkriegszeit eine lebendige Kunstszene mit zahlreichen einflussreichen internationalen Kunstschaffenden aus dem Libanon, die das prägten, was als Beiruter Nachkriegsszene bekannt geworden ist. Diese Zeit war mein Einstieg in die zeitgenössische Kunst. Ich habe keine Kunstschule besucht, sondern viel mit anderen Kunstschaffenden zusammengearbeitet. In dieser Zeit in Beirut zu sein, war sehr interessant, da die Stadt internationale Aufmerksamkeit erregte – wir hatten Dozent*innen, Kurator*innen und Museen zu Gast in unseren Ateliers. Noch bevor ich den Libanon verließ, um meinen Master im Ausland zu machen, war ich bereits sehr gut mit einem internationalen Kunstnetzwerk verbunden.
War Kunst eine Methode, mit der du den Krieg und seine Folgen verarbeitet hast?
Ich sehe es nicht als eine Form der Therapie, aber natürlich war es eine sehr intensive Erfahrung. Sie hat bei mir zahlreiche Fragen aufgeworfen, insbesondere über die Fähigkeit, nach traumatischen Erlebnissen eine Geschichte zu erzählen. Die Kunst hat eine Rolle dabei gespielt, Antworten zu geben oder zumindest eine Richtung vorzugeben und Raum für Diskussionen darüber zu schaffen, wie eine Stadt nach Gewalt und Krieg wieder aufgebaut werden kann.
Nachdem du Beirut verlassen hattest, bist du zunächst nach Amsterdam und später nach Paris gezogen, das zu deiner zweiten Heimat wurde. Welche Möglichkeiten hat Paris dir als Künstler eröffnet, und welche Herausforderungen gab es für dich?
Der Umzug nach Paris war keine karriereorientierte Entscheidung, sondern hatte eher persönliche Gründe. Ich hatte nicht das Bedürfnis, in Paris zu sein, um meine Kunst zu schaffen, da ich mehr mit der internationalen als mit der französischen Kunstszene verbunden war. Meine Ausstellungen fanden meist außerhalb Frankreichs statt, und mein Engagement in der lokalen Kunstszene erfolgte erst viel später. Das Leben in Paris hat meine künstlerische Praxis zwar beeinflusst, aber der Ausgangspunkt, von dem aus ich über Fragen im Zusammenhang mit Geschichte, Gewalt und Stadt nachdenke, stammt von meinen ersten Erfahrungen in Beirut. Obwohl ich nicht mehr dort lebe, besuche ich Beirut immer noch häufig. Außerdem kann Paris etwas einschüchternd sein.
Inwiefern einschüchternd?
Ich habe lange gebraucht, um eine Arbeit namens Somniculus zu machen, die in Paris und dann in anderen Städten Frankreichs ausgestellt wurde. Diese Videoinstallation wurde in fünf leeren Museumsgalerien in Paris gefilmt. Ich fand es einfacher, die Stadt durch das Museum als Hintertür zu betreten; ein sicherer Ort, um Dinge zu hinterfragen, die mit der lokalen Kunst zu tun haben. Paris hat mit den großen Kunstschaffenden, die hier leben, die über die Stadt nachgedacht und Bilder über die Stadt produziert haben, eine Menge an Diskursen hervorgebracht. Um seinen Platz in diesem allgemeinen Diskurs zu finden, braucht man Zeit und Reife, und das ist keine leichte Aufgabe.
Mittlerweile hast du deinen Platz in der Pariser Kunstszene gefunden und bist wahrscheinlich schon oft gefragt worden, wie du deine Kunst beschreibst. Gibt es schon eine allgemeingültige Antwort?
Meine Praxis dreht sich um bewegte Bilder und Skulpturen. Die Fragen, die mich interessieren, beziehen sich auf die Geografien der Gewalt, insbesondere auf die Landschaften, in denen sich gewaltsame Ereignisse ereignet haben, und auf die Möglichkeit, Geschichten nach der Gewalt zu erzählen. Jedes Mal, wenn wir uns mit verschiedenen Konflikten und unterschiedlichen Arten von Gewalt befassen, stellen sich neue Fragen. Diese können die koloniale Gewalt, die Gewalt des Sammelns – wenn wir über die Schädigung von Artefakten durch Institutionen sprechen – sowie die Gewalt gegen menschliche Körper umfassen. Das geht bis hin zur Verschmutzung der Landschaft. Das ist ein allgemeines Thema von mir, das mich in verschiedene Richtungen führt.
Du arbeitest mit historischen Objekten, die häufig zerbrochen oder beschädigt sind. Auf welche Weise sprechen diese archäologischen Artefakte dich an?
Für mich geht es nicht wirklich um Archäologie, sondern eher darum, wie wir Geschichten durch eine Konstellation von zerbrochenen Gegenständen produzieren. Museen stellen im Wesentlichen Objekte mit begleitenden Wandbeschriftungen aus und kontextualisieren sie dann, indem sie eine Zeitachse oder eine Geschichte aufbauen. Für mich war dies auch eine Möglichkeit, über unsere eigenen zerbrochenen Körper nachzudenken, von denen jeder Wunden, Zerbrechlichkeiten und Traumata in sich trägt, ähnlich wie die Körper dieser Artefakte. Für mich gibt es keine Hierarchie – wir können auch von diesen Objekten lernen. Ich betrachte die archäologischen Stätten oder Ausgrabungsstätten als eine Form des Überlebens, denn diese Objekte haben Jahrtausende überdauert, selbst in ihrem zerbrochenen und fragilen Zustand. Wenn wir diese Strategien untersuchen, können wir auch lernen, wie wir die Katastrophen überwinden und unsere eigenen Geschichten erzählen können.
Es ist bekannt, dass du dich auch für Artefakte von Schwarzmärkten interessierst. Was können sie dir erzählen?
Als ich mich zum ersten Mal mit museografischen Untersuchungen beschäftigte, war das zu Beginn der syrischen Revolution im Jahr 2011. In dieser Zeit tauchte eine große Anzahl von Artefakten aus Palmyra und verschiedenen anderen Städten Syriens auf, insbesondere auf dem Schwarzmarkt. Viele dieser Gegenstände entpuppten sich als Fälschungen. Während des Krieges in Syrien, nahe der Grenze zur Türkei und zum Libanon, gab es Menschen, die in Ateliers die gleiche Kunstfertigkeit an den Tag legten, manchmal mit den gleichen Steinen, wie sie vor Tausenden von Jahren verwendet wurden, und hochwertige Repliken herstellten. Für mich war dies in gewisser Weise die zeitgenössische Archäologie des Syrienkriegs. Ich denke, dass diese Fälschungen als Spuren eines bestimmten zeitgenössischen Moments einen noch größeren Wert haben als die Objekte in Museen wie dem Louvre, die Spuren einer fernen Vergangenheit sind. Ich bin weder Archäologe noch Historiker – mein Interesse gilt nicht den Objekten selbst aus rein archäologischer Sicht, sondern dem, was sie uns über den gegenwärtigen Augenblick sagen.
Anfang 2024 hast du in der Fondation Giacometti eine Ausstellung mit dem Titel Envisagement organisiert, die einen Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart ermöglichte. Deine Skulpturen interagierten mit den Werken von Alberto Giacometti, einem berühmten Meister der modernen Kunst. Welche Bedeutung hatte diese Ausstellung für dich?
Wenn ich von Institutionen oder Museen, seien es anthropologische oder archäologische, eingeladen werde, ein Werk als Antwort auf eine bestehende Sammlung zu schaffen, neige ich dazu, diese Einladung zu unterlaufen. Anstatt in einen Dialog mit der Sammlung selbst zu treten, hinterfrage ich den Akt des Sammelns und die Ursprünge der Sammlung. Ich ziehe es vor, diese Museen immer mit einer Meta-Lesart zu betrachten, denn der Akt des Sammelns ist ein Instrument der Macht. Sie produzieren in der Regel eine bestimmte Erzählung auf Kosten anderer Erzählungen, sie wählen also aus, welche Geschichte sie erzählen. Es ist mir sehr wichtig, diese Machtstrukturen zu klären, denn Museen sind Machtstrukturen, da sie den offiziellen Diskurs prägen. Als Künstler glaube ich, dass es unsere Aufgabe ist, diese Narrative wenn nicht zu dekonstruieren, so doch zumindest zu hinterfragen und eine nuanciertere und facettenreichere Geschichte zu zeigen als das, was Museen normalerweise vermitteln.
Hast du normalerweise die Freiheit, das zu tun?
Das kommt auf den Kontext an. Ich hatte zum Beispiel eine Einladung für einen Aufenthalt in der National Gallery in London. Normalerweise wird man eingeladen, Arbeiten im Dialog mit einer Gemäldesammlung zu schaffen. Da meine übliche Arbeit nicht in diesen Rahmen fällt, beschloss ich, mich mit der Frage der Gewalt zu befassen und Gemälde zu untersuchen, die im Museum vandalisiert worden waren. Ich betrachtete das Museum als einen politischen Ort, zu dem die Menschen kamen und Gemälde als Zeichen des Protests zerstörten.
War die Galerie an diesem Konzept interessiert?
Es war genau das, worüber sie nicht sprechen wollten. Ihre Strategie ist es, das Kunstwerk schnell zu restaurieren und es auszustellen, als ob das Trauma nie stattgefunden hätte. Mein Argument ist, dass sich etwas im Kern des Gemäldes verändert, nachdem es Gewalt ausgesetzt war, ähnlich wie wir als Individuen verändert werden, nachdem wir Gewalt erfahren haben. Ich möchte betonen, dass das Museum dem Geschehenen Rechnung tragen muss. Ich schlage nicht vor, dass sie das Gemälde in seinem jetzigen Zustand belassen. Der Versuch, den Vorfall zu vertuschen und so zu tun, als wäre er nicht geschehen, ist nicht hilfreich. Schließlich habe ich es geschafft, dieses Projekt zu realisieren.
Zwei deiner Hauptmedien, Skulptur und Videoinstallation, kommen in deinem ersten Spielfilm The Dam zusammen. Er wurde in Cannes im Rahmen der Directors’ Fortnight gezeigt. Was war die Idee hinter diesem Film?
The Dam ist Teil meiner Erkundung von Geografien der Gewalt. Während meines ersten Besuchs im Sudan im Jahr 2017 hatte Äthiopien mit dem Bau des Grand Renaissance Damms begonnen, was zu verstärkten Spannungen, insbesondere zwischen Äthiopien und Ägypten, hinsichtlich der Ressourcen führte. Ich fand es fesselnd, wie Wasser zu einem Teil der geopolitischen Spannungen geworden war. Ich wollte die Menschen treffen, die für den Bau des Staudamms gewaltsam von ihrem Land vertrieben worden waren. Bei meiner Erkundungstour fand ich eine Ziegelei. Als ich sah, wie die Arbeiter Lehmziegel herstellten, war mir sofort klar, dass der Film an diesem Ort gedreht werden sollte. Es machte so viel Sinn in Bezug auf meine Arbeit und die Fragen, die mich interessieren.
Wie hat sich das Filmprojekt entwickelt?
Ich habe viel Zeit mit den Arbeitern dort verbracht und sie interviewt, sodass der Film von der Realität vor Ort ausging. Deshalb gibt es in diesem Film auch keine Schauspieler. Es ist ein Ort, der Zeuge eines sehr gewalttätigen Ereignisses war, nämlich des Baus des Staudamms, der als einer der zerstörerischsten der Welt für das Ökosystem und die lokale Bevölkerung gilt. Wir gehen von dieser Landschaft aus, in der Gewalt geschieht, und versuchen zu sehen, wie diese Störung das Leben der Menschen und die Gewalt gegen die Natur verändert hat.
The Dam wurde während der sudanesischen Revolution gedreht. Wie betrachtest du dieses historische Ereignis in Bezug auf den Film?
Es war das Ende von 30 Jahren islamischer Militärdiktatur und der Beginn der Hoffnung auf eine gewisse Demokratie im Sudan. Wir haben mit den Dreharbeiten begonnen, als die Diktatur noch existierte, und im Laufe des Prozesses ist das Regime dann gefallen. Wir haben The Dam nach der Revolution fertig gestellt, sodass der Film Zeuge eines historischen Moments wurde. Unabsichtlich wurde er zum ersten Spielfilm, der nach der sudanesischen Revolution produziert wurde und direkt von der Revolution erzählt. Plötzlich hatte dieser Film eine Bedeutung für das sudanesische Volk. Es war faszinierend zu beobachten, wie ein kreatives Werk auf die historischen Ereignisse reagieren, relevant bleiben und von der Realität in die Fiktion und von der Fiktion in die Realität einfließen kann.
Ein Denkmal im Film, das von der Hauptfigur Maher errichtet wird, besteht aus Schlamm. Das ist ein Hauptmaterial, mit dem du häufig arbeitest. Warum hast du es ausgewählt?
Schlamm ist in allen Kulturen der Anfang von allem. Aus Schlamm bauen wir unsere Mythologie auf. Wir haben die ersten Töpferwaren und die ersten Häuser aus Lehm hergestellt. Es ist auch die erste künstlerische Geste der Herstellung kleiner Statuen und Objekte. Als Künstler dachte ich, dass die Rückkehr zu diesem Ursprung auch ein Weg ist, um die Kraft dieses einfachen Zusammentreffens von Erde und Wasser zu erforschen.
Ende 2024 ist eine Ausstellung von dir in der Wiener Secession geplant. Kannst du uns etwas über das Vorhaben erzählen, an dem du gerade arbeitest?
Meine neuen Skulpturen werden eine Mischung von Materialien sein: Schlamm und Bronze. Ich versuche, diese Materialien mit den Vorstellungen, die mit dieser Materialität verbunden sind, zu betrachten. Bronze wird in der Regel für Statuen verwendet, die Helden auf der Straße darstellen, die das offizielle Narrativ historischer Figuren repräsentieren. Diese Statuen sind dauerhafte Symbole aus Bronze, einem Material, das für seine Langlebigkeit bekannt ist. Ich betrachte die Denkmäler als Herrschaftsapparate. Sie sind die Werkzeuge, die von den Mächtigen eingesetzt werden, um ihr Regime und manchmal auch ihre Unterdrückung zu begründen. In meiner Arbeit versuche ich, diese Werkzeuge der Macht und der Dominanz zu demontieren.
Wofür steht der Schlamm?
Schlamm symbolisiert Zerbrechlichkeit und steht für die unterdrückten Menschen, die keine Macht haben. Es gibt eine Machtdynamik zwischen Bronze und Schlamm, die die Spannung zwischen zwei Machtsystemen widerspiegelt – die Macht von oben und die Macht von unten. Ich interessiere mich für die Idee der Fäulnis, dafür, wie die Feuchtigkeit des Schlamms in die Bronze eindringt und sie brüchig und schadhaft werden lässt. Dieser Prozess symbolisiert eine Rückgewinnung der Macht durch Fäulnis.
Hat jedes Material eine politische Bedeutung für dich?
Für mich ist es immer politisch. Über Wasser kann man beispielsweise nicht auf abstrakte Weise sprechen. Wasser ist entweder Leben und etwas, wonach die Menschen suchen. Oder es ist Täuschung, Verwüstung und Dämme. Alles existiert in einem soziopolitischen Kontext.
Abgesehen von den Skulpturen, was wirst du noch in der Ausstellung zeigen?
Ich zeige auch die Dreikanal-Videoinstallation Of Men and Gods and Mud und eine neue Serie von Zeichnungen. Für die Ausstellung entwerfe ich eine Art museografische Vitrine mit verschiedenen Sockeln von Denkmälern. Dazu recherchiere ich Denkmäler, die nach dem Arabischen Frühling in Ägypten, Libyen, Jemen und Syrien, aber auch in Osteuropa und den postsowjetischen Ländern zerstört wurden – all die Relikte von Sockeln, die ihre Monumente verloren haben.
Interview: Anton Isiukov
Fotos: Elise Toïdé