Eine schier unersättliche Neugierde charakterisiert den Künstler und ehemaligen Meisterschüler von Ólafur Elíasson Andreas Greiner. Seine Kunst befasst sich mit Phänomenen der Natur- und Geisteswissenschaften, mit Medizin, Anatomie und Musik. Wir treffen ihn in seinem Atelier, welches er sich mit einigen ehemaligen Mitstudenten und heutigen Jungstars der Kunstszene teilt.
Andreas, du bist Gewinner des GASAG-Kunstpreises 2016, mit dem alle zwei Jahre eine herausragende künstlerische Position an der Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Technik geehrt wird. In deiner Ausstellung „Agentur des Exponenten“ in der Berlinischen Galerie hast du ein Masthähnchen in der Größe eines Flugsauriers nachgebaut. Kannst du uns einen Einblick in die Entstehungsgeschichte des Projekts „Monument für die 308“ geben?
Durch die Arbeit From Strings to Dinosaurs mit Tyler Friedman bin ich im Vorfeld dazu gekommen, mich mit der Geschichte des Artensterbens zu beschäftigen. Die Idee, dass Spezies aussterben können, ist noch gar nicht so alt und wurde erst mit dem Fund von Dinosaurierknochen begründet. Durch meine Recherche erfuhr ich, dass der französische Anatom Georges Cuvier erst im frühen 19. Jahrhundert den Begriff „espèce perdue“ – verlorene Spezies – mitprägte. Als einer der ersten formulierte er die Theorie, dass es eine gewaltige Katastrophe gegeben haben musste, welche viele Arten nicht überlebten. Damit hat er einen wesentlichen Grundstein für unsere heutige Vorstellung von Evolution gelegt.
So ist also die Idee für die Arbeit entstanden?
Ja. Hühner sind tatsächlich nahe Verwandte der Dinosaurier auf dem Entwicklungsweg zu den Vögeln. Das Huhn ist evolutionsgeschichtlich ein sehr alter Vogel; es kann noch nicht richtig fliegen und flattert stattdessen. Das nehmen Wissenschaftler übrigens auch vom Archeopteryx an, dessen Fund einen wesentlichen Beweis für Darwins Evolutionstheorie darstellte. Monument für die 308 habe ich bewusst als exemplarischen Dinosaurier für die Jetztzeit in der Eingangshalle der Berlinischen Galerie geplant.
Du spricht von Artensterben und von der Darwinschen Evolutionstheorie. Welche Gedanken verkörpert die Arbeit konkret?
Ich bin seit Längerem in meinem Konsumverhalten politisch motiviert, speziell bei der Wahl meines Essens. Die Haltung und Massenproduktion von Masttieren sind eine Katastrophe, Fleisch aus Masttierhaltung lehne ich daher schon seit Längerem ab. Darüber hinaus bin ich schon immer von Anatomie fasziniert, weshalb ich das Thema aus anatomischer Perspektive aufgreife.
Wie lässt sich die Kritik an unserem Konsumverhalten an der Anatomie eines Masthahns ablesen?
Um so viel Fleisch wie möglich zu tragen, haben Masthühner sehr stämmige Beine. Sie wachsen in Höchstgeschwindigkeit, die Knochen jedoch bleiben jung. Aufgrund der kurzen Lebensdauer eines Masthuhns kann das Stadium eines ausgewachsenen Knochens nicht erreicht werden. Monument für die 308 veranschaulicht solche Veränderungen der Hühneranatomie, indem es sie wie mit einer Lupe heranholt. Man sieht die runden Formen eines jungen Knochens, noch nicht zusammengewachsene junge Knochenkerne und die absurden Proportionen. Es ist somit eine spekulative Archäologie und sagt viel über uns, unsere Kultur und besonders unser Verhältnis zur Natur aus.
Wer stand für die Arbeit eigentlich „Modell“?
Es handelt sich um ein Huhn, welches gar nicht mehr „Modell stehen“ konnte, da es aufgrund eines gebrochen Fußgelenkes im Maststall starb. Vermutlich konnten seine Knochen dem schnellen Gewichtszuwachs nicht standhalten. Mein Ziel war es, eine authentische Bestandsaufnahme, eine Art „Diagnose“ unserer Nutztiere und der Massentierhaltung im Jahr 2016 zu erstellen. Ich musste lange durch Brandenburg fahren, um jemanden zu finden, der mir ein dort gestorbenes Masthuhn aushändigte. Aufgrund unserer geltenden Hygienevorschriften ist das illegal, und ich hatte großes Glück, nach mehreren Absagen schließlich das Ziel zu erreichen.
Anschließend bin ich mit dem toten Huhn ins Atelier gefahren. Dort habe ich es gewaschen und mit einem Drahtgestell in die vorher anvisierte Pose gebracht, bevor ich es tiefgefroren in die Charité transportiert habe. In einem Präzisions-CT für Gehirngefäße wurde das Huhn geröntgt und das daraus resultierende 3D-Modell konnte ausgedruckt werden.
Welche Rolle bleibt dir in solch einem Fall noch als Bildhauer angesichts der neuen Techniken?
Bei Monument für die 308 interessierte mich weniger meine Rolle als Bildhauer, sondern vielmehr der Transfer des archäologischen Funds, also des toten Huhns, in ein digitales Archiv und die Übersetzung dieser Daten in ein vergrößertes dreidimensionales Monument. Die Vergrößerung im Maßstab 20:1 ist nicht nur eine Referenz an kunstgeschichtliche Nobilitierungsmethoden, indem einem sonst eher wenig beachteten Lebewesen ein Denkmal gesetzt wird. Sie macht auch den gestalterischen Eingriff von uns Menschen in die Natur des Huhns sichtbar. Ohne Zusammenarbeit mit einem umfangreichen, disziplinübergreifenden Team und moderner Technik wäre es so nicht möglich gewesen. Das fängt bei den Radiologen in der Charité und der Medizinischen Modellbau Manufaktur für die Datenerstellung an. Und geht dann weiter bei Markus Lahr und seinem Team des ViNN:Lab der TH Wildau, denen ich zu großem Dank verpflichtet bin. Das Monument wurde dort mit Hilfe von zwei 3D-Druckern und im Berliner Start-up BigRep innerhalb von zwei Monaten Tag und Nacht gedruckt. Auch ohne meine Helfer im Atelier, die mit mir die Knochen sortiert und an einem Stützgerüst aus Stahl zusammengesetzt haben, wäre ich aufgeschmissen gewesen.
Eine Skulptur dieser Größe zu verkaufen, stelle ich mir nicht ganz leicht vor. Was wäre denn die ideale Heimat für „Monument für die 308“?
Ein Naturkundemuseum.
Durch ihre Vergrößerung begegnen uns in deiner Arbeit teilweise auch sehr kleine Lebewesen sozusagen auf Augenhöhe. Was möchtest du mit dem Stilmittel der Vergrößerung bewirken, das sehr charakteristisch für deine Arbeit geworden ist?
Es geht mir vor allem darum, Aufmerksamkeit auf diese Lebewesen zu richten und ihnen Sichtbarkeit zu verleihen.
Im Mai 2017 hast du deine übergroße Skulptur in Mailand auf einer Messe der Lebensmittelindustrie zu Ernährungsfragen gezeigt, bei der auch Keynote Speaker wie Barack Obama eingeladen waren. Verändert sich deine Arbeit, wenn sie nicht in einem „White Cube“ wie in der Berlinischen Galerie gezeigt wird?
Die Arbeit selbst verändert sich nicht, aber der Kontext. Es war interessant, denn mir ist noch einmal bewusst geworden, wie sehr der White Cube die Arbeiten auratisch auflädt und die Aufmerksamkeit der Besucher hält und sensibilisiert. Bei einer Messe wie in Mailand ist die Aufmerksamkeit anders gerichtet – die Besucher erwarten und suchen keine zweite Bedeutungsebene hinter dem, was sie sehen. Sie sind auf anwendbare Produkte fokussiert.
Hat sich die Präsentation deiner Arbeit auf der Messe gelohnt?
Die Messe war eine gute Gelegenheit für mich, um vor Ort ins Gespräch zu kommen. Dort wurden spannende Ideen unterschiedlichster Start-ups präsentiert: Algen als Nahrungsquelle, Vertical Gardening, Urban Farming, Food Pairing für neue Rezepte, basierend auf AI (künstliche Intelligenz), digitale Bienenstöcke etc. Seitdem bin ich fast verleitet, ein eigenes Start-up zu gründen …
Was kann Kunst heute eigentlich noch in der Gesellschaft ausrichten? Was ist ihre Aufgabe?
Kunst soll Anreiz geben für eine Reflexion der Gegenwart. Ein gesellschaftlicher Freiraum für offene Kreativität. Ein Raum, der inspiriert und neues Denken zulässt. Kunst dient dem Menschen, sich über sich selbst und über die Auswirkungen seiner Aktivitäten, seiner Handlungen und Produktion in Abgrenzung zum „Rest“ bewusst zu werden. Mit der Kunst hat der Mensch eine hypothetische Trennung zwischen menschlichen „Produkten“ und allen anderen Resultaten metabolischer und thermodynamischer Prozesse auf diesem Planeten vollzogen.
Wie lässt sich deine Kunst in unserer Zeit verorten?
Wir leben in einer Zeit, in der wir Menschen eine maßgebliche gestalterische Kraft auf diesem Planeten geworden sind. Unser Fingerprint ist bald überall, und die klassische Dichotomie von Natur und Kunst löst sich auf – Artefakte werden durch Biofakte ersetzt, und der Mensch gestaltet nun auch das, was wir klassisch unter Natur verstehen. Meine Arbeit möchte diese Grenzen oder Nichtgrenzen zwischen Natur und Mensch und auch die ethischen Dimensionen unseres gestalterischen Einflusses hinterfragen.
Kannst du uns einen kurzen Abriss deines sehr vielseitigen Werdegangs geben?
Im Jahr 2000 habe ich Bildhauerei in Florenz und San Francisco studiert, später dann, von 2003 bis 2006, Medizin in Budapest und Dresden, und dann 2007/08 Kunst, zuerst bei Rebecca Horn an der UdK (Universität der Künste in Berlin) und im Anschluss dann, von 2009 bis 2013, in Elíassons „Institut für Raumexperimente“.
Wie kam es dazu, dass du dich in so viele Richtungen orientiert hast?
Meine unterschiedlichen Studien sind das Resultat einer konsequenten Verfolgung unterschiedlicher Fragen, die mich immer noch beschäftigen.
Würdest du sagen, dass du durch die naturwissenschaftlichen Inhalte deines Studiums, wie Anatomie oder Biologie, einen anderen Blick für Lebewesen hast?
Nein. Ich gehöre zu der Generation der ersten TV- und Computerkinder. Als Kind habe ich lieber Computer gespielt als im Wald bei meiner Oma. Wie viele, hat auch sie damals ihren landwirtschaftlichen Betrieb eingestellt. Nutztiere sind aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden – von den Kleinbauern in die Hallen von Großproduzenten. Mein Blick ist also eher geprägt durch die Entfremdung meiner Generation von der Natur. Es ist eine seltsame Mischung aus Empathie und Verwunderung, dass es Leben außer dem Menschlichen gibt.
2015 wurde dir und einem Kollegen der Conlon Music Prize verliehen. Wie wichtig sind dir solche Auszeichnungen außerhalb der bildenden Kunst?
Ja, Tyler Friedman ist ein wahnsinnig begnadeter Komponist, und ich habe das große Glück gehabt, mit ihm schon mehrmals zusammen arbeiten zu können. Bei unserer prämierten Arbeit habe ich hauptsächlich konzeptionell und gestalterisch gewirkt, beispielsweise präparierte ich das Klavier mit leuchtenden Algen und habe für völlige Dunkelheit im Raum gesorgt. Zur musikalischen Ausarbeitung der Feinheiten habe ich kaum beigetragen. Die konzeptuelle Struktur der Komposition haben wir aber zusammen entwickelt: Die Musik wird exponentiell komplexer und dichter und korreliert dabei mit der Kurve von exponentiellem Wachstum einer Population von Algen.
Ist eine solche Auszeichnung typisch für unsere Zeit?
In einer Zeit, in der die Disziplinen immer öfter ineinandergreifen und gemeinsam wirken, ist es nicht verwunderlich, dass man auf einmal eine Anerkennung bekommt für etwas, zu dem man alleine nicht in der Lage gewesen wäre.
Du hast kürzlich ein Reisestipendium des Berliner Senats erhalten, mit dem du in die USA gereist bist. Der allgemeine Blick aus Europa auf die USA ist derzeit sehr besorgt bis kritisch … Wie hast du das Land wahrgenommen?
Insgesamt hatte ich den Eindruck, dass die Lebenshaltungskosten in den USA sehr hoch sind und dass Infrastrukturen wie öffentlicher Verkehr an einigen Orten eher schlecht ausgebildet sind. Das Land ist heterogen auf allen Ebenen, aber gerade dadurch vielseitig und spannend. Mir sind hauptsächlich Menschen begegnet, die der neuen Regierung gegenüber sehr kritisch eingestellt sind. In Harvard und am MIT (Massachusetts Institute of Technology) habe ich einige interessante Wissenschaftler und auch Künstler kennengelernt, was für mich im Hinblick auf kommende Projekte sehr inspirierend war. An den beiden Universitäten arbeiten Forscher aus aller Welt und es herrscht eine sehr internationale Atmosphäre.
Welche Kollaborationen sind auf diese Weise entstanden?
Mit Jan Philipp Balthasar Müller zum Beispiel, einem Freund aus Berlin, der letztes Jahr in Harvard seinen Doktor in Physik abgeschlossen hat, habe ich eine Arbeit angefangen, die mithilfe künstlicher Intelligenz Bilder vom Ausstellungsraum in Echtzeit macht. Das Werk wurde kurz nach meinem Aufenthalt in den USA das erste Mal in Tokio gezeigt. In Los Angeles habe ich zusammen mit Ursula Ströbele (Universität der Künste in Berlin) die zweite Edition von 24h Skulptur kuratiert, eine Ausstellung, die sich mit digitaler Technik und Virtual Reality im Bereich Skulptur auseinandersetzt.
Du arbeitest mit fünf deiner ehemaligen Mitstudenten aus der Absolventenklasse von Ólafur Elíassons „Institut für Raumexperimente“ in einer Fabrikhalle in der Malzfabrik in Berlin-Tempelhof zusammen. Wie funktioniert die Ateliergemeinschaft?
Im Atelier herrscht eine gute Atmosphäre. Es gibt keinen Konkurrenzkampf. Ich würde es eher als gegenseitigen Ansporn beschreiben, wenn man sieht, was die anderen – also Julius von Bismarck, Julian Charrière, Markus Hoffmann, Felix Kiessling und Raul Walch – so machen.
Entstehen durch die offene Atelierumgebung untereinander auch Kollaborationen, die ja, wie eben besprochen, sehr charakteristisch für deine Arbeit sind?
Ja natürlich. Man sieht es in unseren Portfolios. Oft sogar werden wir verwechselt. Die älteste Kollaboration aus unserem Atelier ist das Numen – ein Kollektiv von Julian, Felix, Markus und mir, das schon seit 2009, unserem 4. Studiensemester an der UdK, existiert. Wir zeigen aktuell bei der dritten Ausstellung der Serie Made in Germany im Sprengel Museum Hannover unsere neue Arbeit Das Numen Meatus, direkt neben Julius’ Installation Freedom Table & Democracy Chair.
Welchen Anteil hat Ólafur Elíasson an eurem Arbeitsklima?
Ólafur hatte das große Talent, Freundschaft und Kollaboration unter uns zu fördern – allein schon durch die vielen gemeinsamen Reisen und spontanen Projekte im Ausland. Es war kein klassisches Meisterschüler-Verhältnis: Wir hatten unglaublich viele spannende Gäste und Experten aus aller Welt und den verschiedensten Disziplinen zu Besuch. Kollaboration und ausgeprägtes Voneinander-Lernen waren vorprogrammiert. Das hat unser Studium ungemein bereichert und setzt sich in unseren Freundschaften bis heute fort.
Warum sind eigentlich Künstlerinnen nicht Teil eurer Ateliergemeinschaft?
Gute Frage. Ich glaube eigentlich nicht, dass das genderspezifisch ist. Wir hatten schon öfter Künstlerinnen in der Ateliergemeinschaft. Sie sind nur wieder ausgezogen. Entweder sind sie umgezogen, konnten die Miete nicht bezahlen, oder ihnen war es zu dreckig. Das Gleiche ist uns aber auch mit männlichen Mitmietern passiert. Wir würden gerne Frauen in unserer Gemeinschaft haben, jedoch ist sie momentan tatsächlich 100% biologisch männlich. Das bedeutet trotzdem nicht, dass wir den gängigen Männlichkeitsklischees entsprechen oder irgendwie patriarchalisch auftreten wollen.
Was steht für dich in diesem Jahr noch auf dem Programm?
Unter anderem das Festival of Future Nows im Hamburger Bahnhof, die Gaudeamus Muziekweek 2017 in Utrecht, eine Einzelausstellung bei Dittrich & Schlechtriem und Weltuntergang – Ende ohne Ende, eine Gruppenausstellung im Naturkundemuseum Bern.
Interview: Julia Rosenbaum
Fotos: Michael Danner
Links:
Andreas Greiners Webseite Dittrich & Schlechtriem, Berlin