In ihrem medienübergreifenden Werk beweist die in Leningrad (UdSSR) geborene Anna Jermolaewa immer wieder, dass sie eine scharfe Beobachterin des menschlichen Daseins, seiner gesellschaftlichen Bedingungen und politischen Voraussetzungen ist. Als Gründungsmitglied der Oppositionspartei Demokratische Union und Mitherausgeberin deren Wochenzeitung wurde sie der antisowjetischen Agitation und Propaganda bezichtigt. Um einer Verhaftung zu entgehen, floh sie 1989 über Polen nach Wien, wo sie heute lebt. Für den österreichischen Beitrag zur 60. Biennale von Venedig spannt Anna Jermolaewa den Bogen von ihren persönlichen Migrationserfahrungen bis hin zu Formen des gewaltfreien Widerstands gegen autoritäre Regimes.
Anna, wo und wie arbeitest du?
Ich arbeite meistens am Computer, was mir die Freiheit gibt, fast überall zu arbeiten. Ich finde zum Beispiel, dass der bequemste Platz zum Schneiden von Videos das Bett ist. Ich arbeite jedoch mit einer Vielzahl von Medien und schätze daher mein Studio in Oberösterreich besonders. Draußen am Land kann ich mich gut konzentrieren, außer eine meiner Katzen wirft etwas um.
Würdest du dich als Videokünstlerin bezeichnen?
Lange Zeit wurde ich als Videokünstlerin bezeichnet, aber ich arbeite hauptsächlich konzeptionell. Ich habe mich schon vor langer Zeit davon entfernt, reine Videoarbeiten zu machen. Ich schaffe hauptsächlich Installationen, und Videos sind manchmal ein Bestandteil davon. Zuerst kommt das Konzept, dann entscheide ich, wie ich es umsetze, sei es durch Zeichnungen, Videos, Objekte usw. oder durch eine Kombination verschiedener Medien.
Da wir gerade von Konzepten sprechen: Zu Beginn deiner Karriere hast du die meisten deiner Gemälde in Stücke geschnitten und aufgestapelt ausgestellt, als ein neues Werk. War das Zerschneiden dieser Bilder eine Befreiung?
Ich glaube, meine frühen Bilder waren ziemlich schlecht. Ich hatte mich fünf Jahre hintereinander an der Akademie der Bildenden Künste in Wien beworben und wurde jedes Mal abgelehnt! Es war ein großer Schritt, mich von den Werken zu lösen, die aus meinen akademischen Studien in der Sowjetunion hervorgegangen waren. Es war auch eine Frage des Platzes: Plötzlich passten all diese riesigen Leinwände in eine Tasche!
Denkst du, dass Kunst immer politisch ist?
Ich bin da bei Hans Haacke: „Jede Kunst ist politisch, und dann gibt’s noch politisch engagierte Kunst“.
Hast du das Bedürfnis, Menschen etwas mitzugeben?
Das Leben der Menschen wirklich mit Kunst zu beeinflussen … das ist ein wichtiges Ziel für mich. Für mein Werk Singles Party (2003) lud ich meine Single-Freunde zu einer Party ein, bei der sie mit einer Orange tanzen mussten. Wenn ich heute das Video dieser Party zeige, erkläre ich, dass es sich dabei nur um eine Dokumentation handelt, denn das wirkliche Kunstwerk sind die Paare, die an diesem Abend entstanden sind. Ein anderes Beispiel ist back to the silk routes (2010), das ich für die Wiener Festwochen geschaffen habe. Es geht um Verkäufer*innen am Naschmarkt. Wann auch immer ich etwas an einem Stand einkaufte, sprachen sie russisch mit mir. Ich fand heraus, dass die meisten von ihnen bucharische Juden aus Samarkand sind. Viele von ihnen waren seit 20, 30 Jahren nicht mehr zuhause. Für meine Arbeit back to the silk routes fuhr ich in ihre Heimat und brachte ihnen mit, was sie wollten.
Was zum Beispiel?
Meistens baten sie mich um Bilder oder Videos ihrer Häuser, der Gräber ihrer Eltern … arbeitete mich durch die Listen, die sie mir gegeben hatten und zeigte das Resultat auf einem großen Bildschirm am Stand von Dr. Falafel am Naschmarkt. Sie waren sehr berührt, und ich hatte das Gefühl, etwas Wichtiges getan zu haben.
Ich erinnere mich an deine Arbeit bei der Biennale von Venedig 1999, Hendl Triptych (1998), wo man Hühner auf einem Grill braten sieht.
Es war in meinem ersten Jahr an der Akademie, als der Kurator Harald Szeemann auf meine Arbeit aufmerksam wurde. Hendl Triptych war eines meiner ersten Videos, und er zeigte es bei der Jahresausstellung der Akademie. Ein Jahr später kam ein Fax beim Portier im Semper Depot an, mit der Anfrage, die Arbeit auch in Venedig zu zeigen.
Bei der Biennale von Venedig 2024 wirst du ein neues Werk zeigen, das das Ballett Schwanensee in eine Form von Protest verwandelt.
Ja, die Arbeit basiert auf einem Code, der wahrscheinlich außerhalb von Russland und den postsowjetischen Staaten nur wenig bekannt ist. Wenn man in der Sowjetunion aufgewachsen ist und Schwanensee in einer Schleife im Fernsehen lief (manchmal tagelang), bedeutete dies, dass ein Machtwechsel bevorstand. Die Regierung nutzte das Stück, um die Bevölkerung in Zeiten politischer Instabilität abzulenken, als eine Form der Zensur. Ich habe es dreimal als Teenager erlebt. An dem Tag, als jeweils Breschnew, Andropov und Tschernenko gestorben sind, lief den ganzen Tag das Ballett statt des üblichen Fernsehprogramms. Währenddessen wurde auf den oberen Etagen der Machtwechsel unter Dach und Fach gebracht. Eine meiner neuen Arbeiten für die Biennale von Venedig 2024 – in Zusammenarbeit mit der Balletttänzerin und Choreografin Oksana Serheieva – trägt den Titel Probe für Schwanensee(2024). Es handelt sich um ein Video und eine Installation, in der Oksana eine von ihr zusammengestellte Truppe bei den Proben ausgewählter Szenen aus Schwanensee anleitet. Sie proben für einen Regimewechsel in Russland, beschwören diesen herauf. Wir deuten das Ballett in einen Protest gegen Putin und sein mörderisches Regime um, gegen die russische Invasion in der Ukraine.
Interessiert dich Ballett eigentlich?
Anfangs nicht, aber ich habe gelernt, es zu lieben. Ich habe erfahren, wie unglaublich anstrengend es ist, und wieviel Hingabe es erfordert. Während unserer Dreharbeiten sah ich manchmal blutige Zehen, wenn die Tänzer:innen ihre Schuhe auszogen. Aber nach der Pause zogen sie sie wieder an und machten einfach mit den Proben weiter. Sie sind hart im Nehmen. Wir sehen ja normalerweise nur das Endergebnis: schön, anmutig, mit einer fast klinischen Perfektion. Was ich aber bei der Produktion dieser Arbeit gesehen habe, das ist der Kampf, der Prozess, die Fehler, die diese „perfekten“ Momente ausmachen, in denen sich die Probenarbeit auszahlt, und sie in meinen Augen umso schöner machen. Ich werde Ballett nie wieder mit denselben Augen sehen. Oksana Serheieva hat mich in diese Welt eingeführt und ich habe ein großes Glück, sie als Freundin und Kollegin gewonnen zu haben. Oksana und ihre Familie lebten bis zum vollständigen Einmarsch Russlands im Jahr 2022 in Tscherkassy in der Ukraine, wo sie eine Ballettschule leitete. Sie und ihre drei Töchter landeten in Wien und wir lernten uns durch meine Arbeit für Ukrainer kennen, denen ich bei der Anpassung an ein Leben in Österreich helfe. Wir beide sehen diese Arbeit als eine Gelegenheit, unsere „Stimmen“ – Oksana spricht durch das Ballett, ich durch die Konzeptkunst – zu einer Form des Protestes zu vereinen.
Welche anderen Werke werden im österreichischen Pavillon heuer gezeigt werden?
Es wird sechs funktionstüchtige österreichische Telefonzellen im Innenhof geben, Untitled (Telephone Booths) (2024). Sie stammen aus der Bundebetreuungsstelle Ost (Flüchtlingslager Traiskirchen). Man sagt, dass die meisten Auslandsgespräche in Österreich von diesen sechs Telefonen aus geführt wurden. Ich benutzte genau eine dieser Kabinen, um meine Familie anzurufen, als ich 1989 dort ankam. Sie sind voller Graffitis in vielen verschiedenen Sprachen. Sie sind wie Kapseln der Hoffnung … aber auch der Verzweiflung. Sie stehen für Hunderttausende Menschen im Transit. In Traiskirchen hatte man ohnehin vor, sie abzubauen, und ich fragte, ob ich sie haben könne. Im österreichischen Pavillon bekommen sie jetzt ein neues Leben.
Das Thema von Ankommen oder von Transit scheint dich schon länger zu beschäftigen. Die Arbeit Research for Sleeping Positions (2006) zum Beispiel, in der du eine bequeme Schlafposition auf einer Bahnhofsbank am Wiener Westbahnhof suchst.
Ja, diese Arbeit wird auch in Venedig gezeigt werden! Als mein damaliger Ehemann und ich in Wien ankamen, verbachten wir unsere erste Woche im Westbahnhof, wo wir jede Nacht auf den Bänken schliefen. Seitdem wurden aber neue Bänke mit Armlehnen aufgestellt. In gewisser Weise ist diese Arbeit eine Wiederholung meiner damaligen Erfahrung, ich versuche, all diese verschiedenen Positionen und wie es sich angefühlt hat zu verstehen und zu analysieren; allerdings mit den zusätzlichen Schwierigkeiten, die die neuen Bänke mit sich brachten. Ich wollte auch darauf hinweisen, wie es diese scheinbar kleinen Veränderungen fast unmöglich machen, auf ihnen einzuschlafen. Research for Sleeping Positions, wie auch die Telefonzellen aus Traiskirchen, sind nicht nur rein biografische Arbeiten. Ich hoffe, dass Menschen, die diese Arbeiten zusammen sehen, ihre eigene Haltung gegenüber jenen in der Gesellschaft überdenken, die in einer ähnlich schwierigen Lage sind, auf der Durchreise, ohne Zuhause.
Viele deiner Arbeiten haben auf die eine oder andere Art mit Reisen zu tun, oder du musst zumindest reisen, um sie zu realisieren. Reisen scheint dir also wichtig zu sein.
Ich möchte immer etwas Neues lernen, und ich finde, dass Reisen eine der besten Möglichkeiten dazu ist. Ich suche nicht unbedingt etwas Exotisches, weil ich oft Dinge genau vor meiner Nase in Österreich finde. Ich hätte Hendl Triptych leicht im Wiener Prater filmen können, aber ich drehte es in Acapulco. Ich stelle fest, dass mein Blick auf Reisen sensibler ist. Ich liebe den Moment, an dem ich mich in einer Stadt verliere. Wie die Situationisten sagten: „Verliert euch in den Städten“. Man hat ein anderes Auge und entdeckt Dinge, weil die Aufmerksamkeit höher ist.
Gibt es schon neue Projekte am Horizont?
Mein nächstes Projekt ist eine Ausstellung in Wien mit Phileas. Es wird eine Zusammenarbeit mit der Klasse für experimentelle Kunst sein, die ich an der Universität für Kunst und Design in Linz leite, und sich teilweise mit meiner Schau in Venedig überschneiden.
Interview: Alexandra Markl
Fotos: Christoph Liebentritt