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Anselm Reyle, Berlin

In the Studio

»Kunst erzählt immer etwas über die Zeit, in der sie entstanden ist.«

Anselm Reyle ist einer der international gefragtesten zeitgenössischen Künstler Deutschlands. Zu Reyles bekanntesten Werken gehören seine Folien- und Streifenbilder sowie seine Skulpturen. Reste der Konsumgesellschaft, weggeworfene Materialien, Symbole der Urbanität und des industriellen Wandels spielen in seinen Werken eine zentrale Rolle.

Anselm, du hast in Karlsruhe und Stuttgart an den Kunsthochschulen studiert. Wie hat es sich für dich angefühlt, als du den Aufnahmebrief in der Hand hattest?
Ich hatte mich damals an drei Kunsthochschulen beworben – in Stuttgart, Karlsruhe und Berlin. An zweien wurde ich angenommen. Ich war sehr froh darüber, denn diese Zusage und die Kunst waren für mich eine Art Rettung. Die Kunsthochschule war die erste Institution, an der ich nach dem Kindergarten überhaupt zurechtkam. Mit Hängen und Würgen hatte ich damals die mittlere Reife bekommen. Dann habe ich mich in einer Lehre als Landschaftsgärtner versucht, diese jedoch wieder abgebrochen. Es war ein holpriger Weg. Ich hatte immer den Traum, Musik zu machen, hatte sogar eine Band, aber auch das funktionierte nicht so, wie ich es mir vorstellte. An den Kunsthochschulen hat es auch etwas gedauert, bis ich mich zurechtgefunden habe. Das Studium in Stuttgart habe ich abgebrochen und es dann in Karlsruhe wieder aufgenommen. Dort war es frei genug, dass ich mich einfinden konnte. Ich hatte interessante Kommilitonen und Professoren und es gab weniger Dogmen. Das war anders in Stuttgart, da musste ich noch lernen, wie man Akte und Maiskolben zeichnet. Ich hatte über die Jahre eine Institutionsphobie entwickelt und Karlsruhe war glücklicherweise anders. Wer weiß, was ohne die Kunsthochschule in Karlsruhe aus mir geworden wäre.

Welche Professoren und Künstler hatten Einfluss auf dich?
Mein damaliger Professor Helmut Dorner war sehr wichtig für mich, außerdem der Künstler Erwin Gross und der Bildhauer Meuser. Später kam Günther Förg dazu, von dem ich auch ein Bild in meinem Büro hängen habe. Förg hat mich in der künstlerischen Haltung am meisten geprägt. Als ich damals erfuhr, dass er seine Bilder teilweise gar nicht selbst malte, habe ich mich sehr darüber aufgeregt. Aber wie man sieht, läuft das jetzt bei mir selbst so. Die Dinge, über die ich mich früher am meisten aufgeregt habe, sind letztendlich Hauptbestandteil meines künstlerischen Schaffens geworden.

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Deine „Folienbilder“ haben dich weltweit berühmt gemacht. Wie ist die Idee dazu entstanden?
Ich bin nach dem Studium nach Berlin gezogen. Für das Studium war Karlsruhe perfekt, man konnte konzentriert arbeiten, und ich konnte mich dort sammeln und meine eigene künstlerische Sprache entwickeln. Aber in Süddeutschland habe ich meine Kunst nicht gesehen. In den Neunzigern passierte viel in Berlin. Es gab dort junge aufregende Galerien und ich hatte viele Verbindungen in die Szene. Meine damalige Freundin hatte enge Kontakte in die Städelschule in Frankfurt, hauptsächlich zur Klasse von Thomas Bayrle mit Künstlern wie Thilo Heinzmann und Thomas Zipp, die dann später auch alle nach Berlin gegangen sind. Wir haben zusammen Ausstellungsräume gemacht. Ich habe in Neukölln im Hinterhof mit Kohleofen gelebt, ganz klassisch, und bin viel durch die Straßen spaziert. Die Urbanität und das Multikulturelle haben mich sehr fasziniert; Dinge, die es in Süddeutschland so nicht gab, wie die Flohmärkte, armenische Clubs und türkische Gemüseläden. So entdeckte ich auch ein Schaufenster, das nur mit Silberfolie dekoriert war. Es glänzte und knisterte; die Folie war ein echter Hingucker. Wenn man kein Geld hat und alle schauen sollen, ist Folie das perfekte Deko-Material – geringster materieller Aufwand für den größtmöglichen Effekt. So kam mir die Idee, das auch für meine Malerei zu nutzen.

Wie hast du das umgesetzt?
Ich habe Experimente mit Folie im Atelier gemacht und mich anfangs dafür etwas geschämt, weil ich das Gefühl hatte, ich hätte etwas Verbotenes oder irgendwie Pornografisches getan. Silberfolie ist ein Deko-Material der Konsumgesellschaft, und das für abstrakte Malerei einzusetzen, dieser Punkt war neu und hat mich zu Beginn selbst erschrocken. Ähnlich der Pop-Art: Dinge aus dem Schaufenster kommen auf die Leinwand. Es ist ein identischer Prozess, nur eben im Abstrakten.

Wie sieht der typische Arbeitsprozess für deine Kunstwerke aus?
Meine Malerei entsteht aus dem Prozess im Atelier. Aber auch dort setze ich, wie bei meinen Installationen, gefundene Dinge ein. Die Quelle ist oft ein Fundstück. Das Streifenbild zum Beispiel als Fundstück der Moderne. Ich spitze das dann sowohl in der Materialität als auch in der Farbigkeit und Dimension zu. Aus einer kleinen afrikanischen Skulptur, die ein paar Zentimeter groß ist, kann zum Beispiel eine drei Meter große Skulptur entstehen.

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Sehr viele Medien bezeichnen dich als deutschen Jeff Koons, als Pop-Art-Künstler. Was hältst du von diesen Zuschreibungen?
Meine beiden Quellen in der Kunstgeschichte sind die europäische Moderne und die amerikanische Pop-Art. Jeff Koons halte ich für den wichtigsten Künstler der Gegenwart, nicht zuletzt auch weil er es schafft, unsere Gesellschaft in der größtmöglichen Schärfe widerzuspiegeln. Klarer kann man es nicht tun. Der Unterschied zwischen uns liegt in der Hauptquelle. Ich habe mich stark von der europäischen Moderne und deren Formsprache inspirieren lassen, während Koons sich direkt und ohne Umwege der Konsumgesellschaft gewidmet hat. Wenn man sich beispielsweise mit den afrikanischen Skulpturen befasst, kommt man zu der Feststellung, dass sie in dieser Form keine lange Tradition in Afrika haben. Diese Specksteinskulpturen für den Tourismus gibt es erst seit ungefähr sechzig Jahren. Es ist eine Mischung aus afrikanischem Kunsthandwerk und der europäischen Moderne, eine Kopie der Formensprache von Künstlern wie Henry Moore. Es interessiert mich sehr, was in hundert Jahren Abstraktion passiert ist.

Was meinst du damit genau?
Die Malerei existiert wohl seit ungefähr 40.000 Jahren und wurde im Laufe der Zeit immer detaillierter und technisch versierter. Mit der Wende zum 20. Jahrhundert jedoch beginnt sich die Malerei formal aufzulösen und wird innerhalb kurzer Zeit abstrakt. Es endet schließlich im Schwarzen Quadrat von Kasimir Malewitsch. Durch die Fotografie hat die Malerei ihre abbildende Funktion verloren. Das beschäftigt mich schon mein Leben lang.

Ist das auch der Grund, warum du den Ausflug in die Skulptur gewagt hast?
Das kam nach der Kunsthochschule. Ich habe gemerkt, dass ich kein Künstler bin, der Ideen dadurch bekommt, dass er in sich hineinschaut. Vielmehr inspirieren mich äußere Einflüsse; Dinge, denen ich begegne. Im Studium habe ich Fischernetze neben meine Bilder gehängt oder Wagenräder wie im italienischen Restaurant. So bin ich allmählich auch zur Skulptur gekommen. In Berlin wurde es dann urbaner.

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Welche Ausstellungen haben deine Karriere am meisten vorangebracht?
Meine erste Einzelausstellung 2002 in der Berliner Galerie Giti Nourbakhsch war sehr wichtig für mich. Aber auch die Schauen in unseren Off-Räumen, die ich damals zusammen mit Künstlerkollegen kuratiert habe. Ich betrieb diese gemeinsam unter anderem mit Thilo Heinzmann aus Frankfurt und Claus Andersen, der jetzt selbst Galerist in Kopenhagen ist. Claus Andersen war damals auch Künstler, und wir haben ein eigenes Programm auf die Beine gestellt mit durchaus neuen Impulsen für die Berliner Kunstszene. Und später gab es dann natürlich wichtige internationale Ausstellungen meiner Arbeiten unter anderem am Modern Institute in Glasgow, bei Almine Rech in Paris und Brüssel, bei Gagosian und Gavin Brown in New York. Institutionelle Ausstellungen wie im Neuen Aachener Kunstverein und in der Kunsthalle Zürich waren ebenfalls bedeutende Schritte für mich. Später kam der Palazzo Grassi hinzu mit einer Gruppenausstellung, die ein großer Erfolg war. Ich konnte dort mit meinem Lieblingskünstler Martial Raysse, einem französischen Künstler aus dem Nouveau Réalisme, die Räume selbst zusammenstellen. Die Kuratorin war der Meinung, dass unsere Arbeiten gut zusammenpassen könnten. Sie dachte, ich würde ihn nicht kennen, dabei war er schon seit Langem mein persönlicher Lieblingskünstler. Wichtig für meine Karriere war natürlich außerdem die Einzelausstellung Mystic Silver in den Deichtorhallen Hamburg 2012 sowie die erst kürzlich zu Ende gegangene Show After Forever im Aranya Art Center in Qinhuangdao – meine erste große Einzelausstellung in China. Ich habe dort die Möglichkeit bekommen, das komplette Museum in seiner interessanten Architektur zu bespielen. Das Museum selbst existiert erst seit einem Jahr.

2014 hast du die Kunst für eine Zeit ruhen lassen und 2016 wieder neu aufgenommen. Wie kam es zu dieser Entscheidung, wieder mit der Kunst anzufangen und auch deinen Stil und deine Arbeitsweise zu verändern?
Es hatte sich so eine gewisse Routine in meine Arbeit eingeschlichen. Man hatte seine Markenzeichen, Streifen- und Folienbilder, die dann auch immer wieder angefragt wurden. Das hat natürlich zu einer starken Routine geführt und ich hatte davon irgendwann ausreichend viele gemacht. Ich verspürte das Bedürfnis, in mich zu gehen und herauszufinden, ob ich weitermachen wollte und wenn ja, wie.

Und was war das Resultat dieses Reflexionsprozesses?
Ich wollte weg von diesem großen Apparat, den ich mir aufgebaut hatte. Ich hatte 2008 ungefähr fünfzig Mitarbeiter, die ich auch aufgrund der Wirtschaftskrise reduzieren musste, was sehr schwierig war. Es war ein großes Konstrukt, und ich kam einfach an einen Punkt, an dem ich mich von allem lösen wollte, um die Weichen neu zu stellen. Im Rahmen der Kollaboration mit Franz West in seinen letzten drei Lebensjahren von 2010 bis 2012 haben wir spielerisch über dreißig Arbeiten zusammen entwickelt. Wir haben uns gegenseitig unsere Atelierreste geschickt und diese dann weiter bearbeitet. Das war ein sehr spontaner, offener Prozess, der für mich ein Anstoß war, meine eigene Arbeitsweise zu überdenken. Eigentlich war das auch in meiner Arbeit angelegt, jedoch war dieser Ansatz durch den großen Apparat meines Studios teils etwas verloren gegangen. Um das wiederzufinden, habe ich diese Pause gebraucht.

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Was ist der Sinn von Kunst für dich?
Kunst ist ein wichtiger Bestandteil meines Lebens. Sie ist meine persönliche Sprache und Ausdrucksform. Es ist vor allem das unmittelbar Erlebbare, das mich daran fasziniert.

Die Reste der Industrie- und Konsumgesellschaft wurden dann zu deinen zentralen Themen?
Das hat sich auch entwickelt, ich bin nie konzeptuell rangegangen. Wie ich bereits erwähnte, bin ich meistens auf irgendetwas gestoßen wie Fischernetze oder Wagenräder. Ich habe diese Objekte dann ganz bewusst als provokant-dekoratives Material eingesetzt. So hat es angefangen, dass ich mich überhaupt mit der Oberfläche und dem Dekorativen befasst habe. Das Wagenrad zum Beispiel hat eine archaische Form und steht symbolisch für den Beginn unserer technisierten Gesellschaft. Es ist jedoch auch ein häufig eingesetztes Deko-Element. Die Folien und Späne sind Reste und Fragmente unserer Konsumwelt. Kunst erzählt immer etwas über die Zeit, in der sie entstanden ist.

An welchen Projekten arbeitest du im Moment und welche planst du in der Zukunft?
Ich arbeite aktuell an der Weiterentwicklung meiner Malerei und unterziehe in diesem Zusammenhang mein über die vergangenen Jahre entwickeltes Farb- und Materialvokabular einer erneuten Betrachtung. So interessiert mich der freiere Umgang damit im Moment mehr als das Konzeptuelle. Ebenso in der Keramik, wo viel Unvorhergesehenes passiert. Man weiß nie, wie etwas aus dem Ofen kommt. Ich plane derzeit außerdem eine Einzelausstellung für ein Museum in Süddeutschland sowie einige Projekte im Außenraum, darunter Neoninstallationen, Fassadenentwürfe und Skulpturen.

Wagenrad, 2001, Fundstück, Neon, 40 cm (Durchmesser)

Ohne Titel, 2020, Mischtechnik, Neon, Kabel, Acrylglas, 96 x 81 x 17 cm, Foto: Matthias Kolb

Ohne Titel, 2018, Mischtechnik, Neon, Kabel, Acrylglas, 195 x 156 x 26 cm, Foto: Matthias Kolb

Harmony, 2008, Bronze, Chromoptik, Sockel mit Makassarholzfurnier 170 x 170 x 75 cm, Sockel 54 x 160 x 78 cm

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