Clemens Krauss ist vor allem bekannt für seine pastosen Malereien aus ungewöhnlich schrägem Blickwinkel sowie seine kontroversen Videoarbeiten. Die Werke des in Graz geborenen und in Berlin lebenden Künstlers ergründen, was menschliche Identität eigentlich ausmacht. Mit chirurgischem, neugierigem Blick untersucht er größere Zusammenhänge und widmet sich gegenwärtigen sozialen, politischen, aber auch autobiografischen Themen. Es kommt nicht von ungefähr, dass er vor seinem Kunststudium an der Berliner Universität der Künste auch ein Medizinstudium abgeschlossen und später eine Ausbildung zum Psychoanalytiker absolviert hat, denn in Clemens Krauss’ Werk verschmelzen Malerei und Performance, Skulptur, Psychoanalyse und Video miteinander. Mit nur 36 Jahren kann Krauss bereits auf unzählige institutionelle Einzel- und Gruppenausstellungen auf allen Kontinenten zurückblicken und zählt zu den profiliertesten österreichischen Künstlern seiner Generation.
Clemens, kannst du in wenigen Worten erklären, worum es in deiner Kunst geht?
Ich bringe Material, Raum und den (eigenen) Körper mit sozialen und politischen Beobachtungen zusammen und möchte Arbeiten machen, die etwas evozieren, uns nicht kaltlassen.
Welches persönliche Anliegen verfolgst du mit deinem künstlerischen Schaffen?
Meine Arbeit ist sehr geprägt von dem Grundmotiv jeden künstlerischen Handelns, nämlich sich kritisch mit den Dingen auseinanderzusetzen, die unsere Welt ausmachen. Wenn ich bestimmte Dinge einfach reproduziere, anstatt über sie zu reflektieren, dann bestätige ich diese ja nur. Künstlerische Interessen bieten unendliche Möglichkeiten der kritischen Auseinandersetzung, wie etwa die Übertreibung, die Ästhetisierung oder den Humor. Schließlich führt erst ein reflektiertes Wiederholen zu einem entsprechenden Erkenntnisgewinn oder dem Anerkennen auch unangenehmer Aspekte. Das ist vergleichbar mit einem körperlichen Verdauungs- und Wachstumsprozess und gilt sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft insgesamt.
Unter anderem geht es bei dir ja immer wieder um Individuum und Gesellschaft. Kann man das so sagen?
Die Rolle des Individuums in unserer Gesellschaft ist ein Thema, das mich, vor allem auch aus analytischer Sicht, sehr interessiert. Es geht darum, zu ergründen, was eine gesellschaftliche Ordnung ausmacht, beginnend mit dem Individuum, dem einzelnen (menschlichen) Körper, und schließlich mit mehreren Körpern in Interaktion, also der Gesellschaft an sich. Es geht dabei um Fragen wie: Wer sind die Beobachter und wer die Beobachteten? Wer sind die Handelnden und wer die Behandelten? Und von welchen Handlungsspielräumen des Individuums in einer Gesellschaft sprechen wir?
Da wir gerade von Handlungsspielräumen sprechen: Für deine Arbeit „Elternhaus“ hast du 2010 ein 25 Meter langes Endoskop durch die Decken deines Elternhauses geschoben. Das Video zeigt vier Räume in vertikaler Reihenfolge. Das klingt ziemlich radikal.
In dieser Arbeit geht es um die organische Behandlung eines sehr persönlichen Ortes, in diesem Falle meines tatsächlichen Elternhauses in Graz, in dem ich aufgewachsen bin. Dieser „Eingriff“ war tatsächlich radikal: Gemeinsam mit einer Architektin, einem Handwerker und einem Mitarbeiter haben wir die Stellen bestimmt, wo wir die teilweise bis zu 50cm dicken Decken und Böden durchbohren konnten. Von meinem ehemaligen Kinderzimmer im obersten Stockwerk des Gebäudes wurde die Endoskop-Kamera durch die Räume über einen Monitor gesteuert.
In welchem Zustand habt ihr das Haus nach diesem krassen Eingriff zurückgelassen?
Die gesamte Aktion hat ein ganzes Wochenende gedauert, bis schließlich der perfekte Take gelang. Das Video besteht nur aus einer einzigen Kamerafahrt, ohne Schnitt. Danach kam der Maurer und hat die Löcher alle wieder verschlossen, sauber verputzt und die durchgebohrten Holzparketten ausgetauscht. Wir kamen uns vor wie ein Geheimdienst, der gut organisiert wo eindringt, irgendwo Wanzen setzt, und danach spurlos verschwindet. Als mein Bruder, der heute mit seiner Familie in dem Haus lebt, nach dem Wochenende zurückkam, hat man nichts mehr gesehen. Aber er war natürlich zuvor in das Projekt eingeweiht.
Er hatte also keinen Grund sich aufzuregen?
Nein, gar nicht! (lacht) Aber es war natürlich eine enorme Intervention!
Wo beginnt Interaktion denn eigentlich für dich?
Die Interaktion beginnt mit mir selbst, mit dem Objekt und dem Betrachter. So gesehen, entsteht hier bereits ein Mikroabbild der Gesellschaft. Idealerweise werden daraus gesellschaftliche Zusammenhänge ableitbar und vielleicht ein Stück weit auch verstehbar. Diese Dinge interessieren mich, und ich finde sie wichtig in einer Zeit so widersprüchlicher politischer Prozesse. Denn es geht uns alle etwas an, und wir sollten uns immer wieder die Fragen stellen: Wo ist man dabei selbst verortet? Und wo sind wir als Gemeinschaft zu verorten? Wo wird etwas kritisch verhandelt und verarbeitet? Und wo wird lediglich reproduziert und damit nur neurotisch wiederholt?
Du bist bekannt für deine strukturstarken Gemälde in Öl, die menschliche Körper aus verstörenden, ungewöhnlichen Perspektiven darstellen. Sie sehen aus wie ihr eigener Schatten. Der Betrachter weiß dabei nie so genau, was und vor allem von wo er etwas sieht. Kannst du uns von der Entstehung dieser Bilder erzählen?
Ich habe in London und São Paulo jeweils längere Zeit gelebt. An beiden Orten habe ich diese Erfahrung von ständiger Überwachung gemacht. Man kennt ja diese Bildschirme im öffentlichen Raum, auf denen man sich oder andere Menschen aus diesem eigenartigen Blickwinkel betrachten kann. Durch diesen Perspektivenwechsel, sowohl im realen als auch im symbolischen Sinne, wird der Körper einerseits vollständiger, der Betrachter hingegen wird in eine bodenlose Situation gebracht. Das alles erfolgt durch eine bloße Reduktion von Material. Aus dieser Beobachtung sind meine Motive mit den „Draufsichten“ entstanden.
Durch die gewählte Perspektive scheinen die abgebildeten Personen an individueller Persönlichkeit zu verlieren. Ist das beabsichtigt?
Es geht mir um das prototypische Individuum. Dieses ist in meiner Darstellung – das behaupte ich zumindest – geschlechtslos, identitätslos und alterslos. Schon gar nicht bin ich das selbst. Obwohl ich zeitweise quasi Modell für meine eigenen Arbeiten bin, hat es mit einem Selbstportrait im klassischen Sinne nichts zu tun.
Du selbst fungierst also nur mehr als eine Art Stellvertreter?
Ja, das ist das richtige Wort! Anders ist das natürlich bei den Hautarbeiten. Hier diene ich ganz offensichtlich als Modell.
Deine Arbeit „Selbstportrait als Kind“ zeigt dich im Alter von etwa dreizehn Jahren und löst starke Reaktionen aus. Auf der ARCO in Madrid in diesem Jahr war deine Arbeit das wahrscheinlich meistfotografierte Kunstwerk. Wie kamst du auf den Gedanken, dich mit Hauthülle im jungen Teenageralter selbst zu portraitieren?
Teenagerjahre sind eine der sensibelsten Phasen im Leben eines jeden Menschen. Jede Betrachterin, jeder Betrachter kann sich mit dem Kind identifizieren. Ich selbst habe in diesem Alter begonnen, mich intensiver und ernsthafter mit Kunst zu beschäftigen und damals auch meine ersten Videos gedreht. Mit dem Material dieser Videos arbeite ich heute noch. Das Selbstportrait als Kind ist also sowohl autobiografisch als auch ein Verweis auf meine eigene künstlerische Praxis.
„Selbstportrait als Kind“ wurde schon an verschiedenen Orten gezeigt. Es fällt auf, dass diese Arbeit jedes Mal anders ausliegt. Ist das beabsichtigt?
Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, sie auszulegen und zu präsentieren. Es existiert eine grundsätzliche Aufbauanleitung zur Skulptur, so dass dies auch andere machen können. Im Prinzip geht es bei der Präsentation um einen Moment des „Hingeworfenseins“ der ausgezogenen Körperoberfläche. Eine sehr antiheroische und auch schutzlose Geste.
Bedeutet die „Haltung“ des Körpers und die Interaktion der beiden Körperhälften jedes Mal etwas Anderes?
Bei der Ausstellung Kunst und Scham im Museum Marta Herford 2017 war natürlich klar, dass ich das auch in die Körperlage übertrage. Das Thema Scham ist in der frühen Adoleszenz sehr präsent. Es ist ein verletzliches Alter, in dem man mit Selbstwerdung und Veränderung ringt. Es ist enorm konfliktbehaftet, wie man überhaupt Kindheit und Jugend als Konflikt begreifen muss. Deshalb hat mich dieses spezielle Alter so interessiert, auch im Zusammenhang mit den Videos, die ich damals gedreht habe. Diese sind naturgemäß spielerisch und auf eine gewisse Art unreif gewesen. Zwanzig Jahre später mache ich daraus Arbeiten, die im professionellen, künstlerischen Kontext gezeigt werden. Hier schließt sich der Kreis wieder.
Du sprichst deine Videoarbeiten an, für die du altes Videomaterial zu neuen Arbeiten zusammenschneidest.
Aus dem Material, das ich während meiner Kindheit und frühen Jugend gedreht habe, entstehen heute eine Reihe von Film-Collagen. Diese Videos bekommen durch Schnitt und Nachbearbeitung nachträglich einen zeitgenössischen gesellschaftlichen oder politischen Bezug. Eine computergenerierte Stimme eines Kindes oder Jugendlichen berichtet beispielsweise in dritter Person von biografischen Ereignissen – absurd, bizarr und fiktiv. Dabei entstehen weniger neue Narrationen, als vielmehr Assoziationsketten, die andere Erzählstränge formen können.
Die gezeigten Szenen folgen also keiner Chronologie?
Nein, es gibt keinen zeitlichen oder direkten inhaltlichen Bezug zu meiner eigenen Biographie. Es sind rein fiktive Geschichten, die nicht der Realität entsprechen. Gleichzeitig kennt das Unbewusste jedoch keine Verneinung – indem es sozusagen das ungedachte Bekannte ist, kann es eine allgemeinere Gültigkeit erlangen.
Die Erzählstimme scheint unterdessen völlig rastlos gegen die Bilder zu arbeiten. Pausenlos reiht sie sämtliche pathologische Verhaltensweisen aneinander, die im Zusammenhang mit den Bildern bizarre Rückschlüsse ziehen lassen. Man kann als Betrachter kaum folgen, ist das beabsichtigt?
Ja, diese Dynamik ist gewollt. Die Arbeiten sind kurz und repetitiv. So kann man schnell ein- und aussteigen, oder sich die Videos mehrmals hintereinander ansehen.
Verarbeitest du mit den Videos aus deiner Jugend auch etwas, was dich persönlich betrifft? Oder wie erklärt sich diese intensive Beschäftigung mit deinem früheren Ich und seinem Tun?
Wenn man zurückschaut, tut sich ein Spalt auf. Jeder hat diesen Spalt, in diesen hineinzublicken muss nicht immer angenehm sein. Er ist aber meiner Meinung nach mitunter notwendig, denn es dient der eigenen Entwicklung. In meinem Fall entdecke ich das Spielerische in den Videoexperimenten. Ich war damals zwölf, dreizehn, vierzehn. Ich hatte Zeit, habe viel rumprobiert und einfach drauflos gefilmt, ohne konkretes Ziel, zumindest nie bewusst. In dem Alter ist man ja auch noch nicht so rational strukturiert. Mich heute in dem Alter zu betrachten, meine unausgereiften Gesten und Mimik zu beobachten, ist amüsant. Manche Menschen berühren diese Videoarbeiten sehr – vermutlich weil sie sich selbst ein Stück weit in dem Kind wiederfinden können.
Um bei dem analytischen Aspekt deiner Arbeit zu bleiben – neben Herkunft und Kindheit interessiert dich offensichtlich auch die konkrete Arbeit mit dem Betrachter im direkten Gegenüber. Du bietest regelmäßig Sitzungen in abgetrennten Bereichen deiner Ausstellungen an. Wie muss man sich das vorstellen?
Ich habe mit dem Ziel, mein künstlerisches Repertoire zu erweitern, eine psychoanalytische Ausbildung durchlaufen und darf deshalb auch als Analytiker arbeiten. Außerdem empfinde ich es als eine künstlerische Verantwortung, auch gesellschaftliche Eingriffe vorzunehmen. Da haben die Kunst und die Analyse prinzipiell etwas gemeinsam. Ob ich in meiner Arbeit die Massen oder eben, was wir „Kunstpublikum“ nennen, erreiche, ist vage und wird es wohl immer bleiben.
Kannst du etwas genauer erklären, was die Analysetechnik für dein künstlerisches Schaffen bedeutet und wie du dieses Wissen nutzt?
Die Theorie der Analyse habe ich persönlich auch in meiner Arbeit verinnerlicht. Psychoanalyse beziehungsweise Psychotherapie sind als Behandlungsformen nachweislich wirksam. Zugleich ist das theoretische Wissen dazu ein sehr probates Mittel zur Welterklärung – ein Zugang, um die Welt beschreiben zu können. Das spiegelt sich mehr denn je in meiner Arbeit wieder. Für mich war es wie ein neues Medium zu erlernen, sozusagen eine neue Form künstlerischer Technik.
Du hältst also richtige psychoanalytische Sitzungen als Teil deiner Ausstellungen ab?
Genau. In einem Raum, der vom übrigen Ausstellungsbereich abgetrennt ist, empfange ich nach Anmeldung Besucher zu anonymen Einzelsitzungen. Das Gespräch wird nicht auf Bild oder Ton aufgezeichnet und dauert genau 50 Minuten, wie jede reguläre Analyse-Sitzung. Der Besucher kann mich mit seinen Fragen und Anliegen konfrontieren, und ich gehe meiner Arbeit als Analytiker nach.
Sicherlich werden viele Besucher gehemmt sein, wenn sie auf einmal gefragt sind, aus der passiven Rolle eines Beobachters in eine sehr persönliche Interaktion zu wechseln.
In der Regel ist die Resonanz sehr gut. Es gibt Tage, da empfange ich über die gesamte Öffnungszeit ohne Pause Besucher. Das ist auch für mich sehr anstrengend. Aber eben auch sehr lehrreich und voller Erkenntnisse. Es gibt auch immer die Möglichkeit, mehrmals hintereinander zu den Sitzungen zu kommen. Wie gesagt, auch ich profitiere davon. Es ist als bidirektionales Phänomen zu verstehen, und letztlich ist es auch eine Art künstlerische Arbeit, die dort zwischen zwei Menschen entsteht. Der dritte Betrachter, außerhalb des Raumes, sieht währenddessen nur die verschlossene Tür mit der Aufschrift „Bitte nicht stören!“.
Worum geht es im Wesentlichen in so einer Sitzung?
Diese Art von Arbeit ist die erwähnte Form eines Eingriffs, welcher idealerweise etwas evoziert, das sowohl im Betrachter als auch in mir etwas auslöst und bestenfalls immer die Erkenntnis zur Folge hat. Wobei mir sehr wichtig ist, keinesfalls moralisierend zu sein. Das möchte ich in keiner meiner Arbeiten. Ich bin nicht didaktisch oder pädagogisch.
Du lernst also ständig dazu, während du an einem Kunstwerk arbeitest?
Das Wort „lernen“ würde ich gerne durch das Wort „erkennen“ ersetzen. Letztlich ist die Kunst ein Angebot an die Menschen, etwas zu erkennen und über sich selbst etwas zu erfahren.
Dokumentierst du deine Erkenntnisse aus den psychoanalytischen Sitzungen auch? Oder geht es für dich als Künstler nur um diesen Moment?
Ich dokumentiere sie nicht. Nichts wird in irgendeiner Form festgehalten. Das ist wichtig. Nur die Eindrücke aus den Sitzungen beeinflussen natürlich mich und indirekt findet sich dieser Eindruck in der einen oder anderen Arbeiten wieder.
Aktuell hast du eine Ausstellung in der Galerie CRONE in Wien mit dem Titel „Nichtwissen“. Worum geht es da?
Das „Nichtwissen“ ist ein Phänomen, das wieder zunehmend die Gesellschaft und die Politik erfasst: der Glauben, etwas zu wissen, der über das tatsächliche Wissen gestellt wird und somit das „Nichtwissen“ zum kategorischen Imperativ und bestimmenden Faktor allen Tuns, Handelns und Unterlassens macht. Zu Beginn waren in der Ausstellung lediglich ein paar Arbeiten zu sehen. Über die gesamte Ausstellungsdauer entwickelt sich nun ein Display unterschiedlicher Medien und Formate. Auf diese Weise vervollständigt sich die Ausstellung zu einem Gesamtwerk, das in ständiger Interaktion zwischen Künstler und Besuchern, beziehungsweise den Therapiesitzungsteilnehmern, entsteht. Es werden unter anderem zwei neue Videoarbeiten gezeigt. Die aktuelle Malerei-Serie Sleeping Dogs ist auch Thema. Es gibt in vielen Sprachen diese Redewendung der „schlafenden Hunde“, die „nicht geweckt“ werden sollen – quasi die Büchse der Pandora, die nicht geöffnet werden darf. Politisch ein gegenwärtig sehr explosives Phänomen. Aber zunächst sind Besucherinnen und Besucher eingeladen, sich mit mir auf Einzelgespräche einzulassen.
Interview: Agnes Wartner, Florian Langhammer
Photos: Kristin Loschert