Der amerikanische Künstler Doug Aitken ist für seine Installationen bekannt, die er mittels einer großen Bandbreite an Medien – darunter Video, Print, Fotografie, Skulptur, Musik und Performance – schafft. Aitkens Ziel ist es, die streng traditionelle Definition von Kunst zu erweitern, sie umfassender und verbindender zu formulieren. Besuchende erforschen seine Arbeit, indem sie sich durch seine großen Installationen bewegen, die durch keine Räumlichkeit beschränkt zu sein scheinen. So spaziert man etwa rund um riesige Filmleinwände, fährt mit einem Zug durch die USA oder schwimmt durch verspiegelte Skulpturen – um nur einige von Aitkens immersiven Kunstwerken zu nennen.
Doug, wie hast du mit der Kunst angefangen?
Ich habe einfach schon immer gern etwas gestaltet! Für mich ist ein Kunstobjekt wie Sauerstoff; es ist ein Gefäß, in dem sich deine Neugier, deine Ideen und deine Ideologie bewegen und verbinden können. Du atmest ein, und du presst etwas heraus. Ich bin schon immer in der Kunst aufgegangen, und habe später Kunst studiert.
Als Kind bist du viel mit deinen Eltern gereist. Wie drückt sich das in deinem Werk aus?
Ich glaube, wenn man eine große Vielfalt erlebt, spürt man deutlich weniger Barrieren. Ich war schon immer unterwegs. In den Menschen leben eine Neugier und eine Großzügigkeit, von denen die Kunst zehren kann. Kreativität kommt aus allen Ecken und Enden der Welt, es gibt nicht eine bestimmte Region oder einen Landstrich, die über Kulturhoheit verfügen: Wir alle erschaffen diese künstlerische Energie gemeinsam und gleichzeitig. Daher sollten wir auch die zeitgenössische Kunst nicht als ein seltenes, kuratiertes und kontrolliertes Gebilde sehen, sondern eher als eine organische Angelegenheit.
Du hast immer wieder kritisiert, dass man die zeitgenössische Kunst in ein starres Korsett oder „Silos“, wie du es nennst, zwängt. Kannst du das erklären?
Die Frage ist doch: “Wohin geht die Kunst?“ Ein Großteil der Kunst, die wir sehen, bewegt sich in einer formellen Tradition - und wird es weiterhin tun; das ist nicht sehr aufregend. Und es wird den Möglichkeiten und dem Potential der Kunst nicht gerecht. Ich mag es, wenn Kunst die üblichen Grenzen überschreitet.
Wie wird Kunst also in der Zukunft aussehen?
Wir werden immer mehr Kunst an überraschenden Orten sehen, Kunst, die aus neuen Medien hergestellt wird, Kunst, die einen dematerialisierten Zugang hat. Ich wünsche mir, dass Kunst wirklich etwas „ist“, nicht in Silos eingesperrt und abgegrenzt. Es sollte keine Trennung zwischen Musik, bildender Kunst und all den anderen Bereichen geben, die eingemauert zu sein scheinen. Wenn wir heute gemeinsam bei einem Abendessen säßen, würden wir über Musik sprechen, über Bücher, Filme, Songs. All diese Dinge sind verbunden, und doch leben wir in einer Welt, in der sie getrennt sind.
Hat Kunst die Aufgabe, diese Barrieren zu durchbrechen?
Kunst kann ein Mittel zur Veränderung sein, sie erlaubt uns, unsere Welt anders zu sehen und zu reflektieren. Jetzt ist eine großartige Zeit, um Kunst zu machen, ein noch nie dagewesener Moment in der Geschichte. Es gibt diesen Zeitgeist des Wandels der Technologie, der Ökologie, der Beschleunigung der Information – alles Elemente, die völlig destabilisierend sind. Sie bringen ständig das durcheinander, was wir zu wissen glauben.
Ist Kultur die Lösung, um mit diesen Herausforderungen umzugehen?
Ja, deshalb brauchen wir die Kultur. Sie ermöglicht es uns, diese Veränderungen zu bewältigen. Es ist eine unglaublich wertvolle Zeit für die Kunst, aber wir müssen sie auch dabei unterstützen, so zukunftsorientiert und fortschrittlich wie möglich zu werden.
Muss Kunst also als Störfaktor dienen, um heute relevant zu sein?
Ich glaube nicht, dass Kunst irgendetwas muss, und das ist ja gerade einer ihrer Reize! Sie ist wie eine riesige, weite Landschaft… Mich reißt es jedes Mal, wenn ich auf meinem Handy wieder ein Kunstwerk sehe, das irgendjemand irgendwo in der Welt geschaffen hat. Es ist unglaublich, wie viele Leute Kunst nicht nur ansehen, sondern auch gestalten. In ihrer Essenz ist Kunst kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit.
Wie auch das Leben selbst?
Zwischen Kunst und Leben gibt es keine Trennung. Der Prozess und die Reise dorthin ist ja schon das Ziel. Du lernst und du wächst, du bist eine Art Arbeiter: Du gestaltest, du machst Dinge mit viel Aufwand und Zeit. Aber am Ende des Tages möchte ich einfach eine Brücke zu dir bauen. Vielleicht überquerst du sie, vielleicht auch nicht, vielleicht findest du Perspektiven oder Fragen, die dir vorher nicht bewusst waren. Der Wert der Kunst besteht für mich darin, diese Energiequelle zu schaffen, diese Kristallisation von Ideen.
Auf einer profaneren Ebene möchten Menschen aber auch ein Stück dieser Energie besitzen. Wie denkst du über Kunst, die man tatsächlich kaufen kann?
Für mich gibt es kein entweder/oder, es geht um Möglichkeiten. Lass uns doch mehr Optionen haben, lass uns eine größere Mahlzeit auf den Tisch stellen. Denn – was ist Kultur? Wir haben nur dieses eine Leben, und die Uhr tickt. Kultur ist das, was uns die Würze des Lebens gibt, die Dynamik. Und sie bringt uns über das bloße Überleben hinaus, sie erhebt uns. Sie hypnotisiert uns und zieht uns an, wir lieben sie oder wir kämpfen mit ihr, aber sie ist dynamisch.
Apropos Dynamik: In deinen Installationen können Menschen herumwandern, sich ihren eigenen Weg schaffen. Geht es in der Kunst um persönliche Erlebnisse?
In meiner letzten Schau in der Schweiz, Howl mit der Galerie Eva Presenhuber, habe ich viele unterschiedliche Medien benützt. Es war eine Zusammenstellung von Gedanken über das Individuum, das sich in unserer Landschaft bewegt. Einer Landschaft, die stetig abgebaut und verändert wird. Ich nutzte diese Ausstellung, um eine größere Geschichte zu erzählen, und all meine diesbezüglichen Ideen in einem Raum unterzubringen. Auf dem Weg in die Zukunft brauchen wir eine Kunst, die uns Möglichkeiten aufzeigt, wie wir uns in dieser neuen Welt zurechtfinden können.
Diese Arbeit hast du in Galerieräumen gezeigt. Wie schwierig ist es eigentlich, dein Konzept auch in kleinere Arbeiten, die sich für derartige Ausstellungen eignen, zu übersetzen?
Jede Idee sagt dir, was sie braucht. Manche Projekte wollen klein und intim sein, andere wieder groß und umfassend. Ich liebe Museums- und Galerieausstellungen, weil man sich an Parameter halten muss. Es gibt dort eben nur ein gewisses Platzangebot, und die Frage ist, wie du es nutzt, um eine Erzählung finden, die diesen Raum in Besitz nimmt. Parameter können kreative Werkzeuge sein. Aber der Versuch, sie zu brechen, ist auch kreativ!
Damit du auch Menschen außerhalb der Kunst-Bubble erreichen kannst! Ist dir das wichtig?
Ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass meine Kunstwerke Menschen, die sonst nicht in Museen gehen, ansprechen und etwas mit ihnen machen. Und diese Begegnungen gehören zu den stärksten, herausforderndsten Erfahrungen, die ich hatte. Wenn die Kunst Barrieren durchbricht, wenn sie einen Dialog aufnimmt: Das ist der Gipfel der Macht der Kultur! Alles wird überwunden, Politik oder soziale Klüfte. Wenn Menschen etwas durch Kunst erleben, und diese Begegnung teilen… Solche Momente können unvergesslich sein. Und ich denke, dass es das ist, das wir unbewusst wollen – etwas zu erleben, das einzigartig ist.
Was sagst du zu Menschen, die diese Sicht auf die alles überwindende Kraft von Kunst als bloß idealistisch ansehen?
Ich würde sagen: Fuck you (lacht)!
Wie wichtig ist dir das persönliche Erlebnis jedes Betrachtenden?
Ich will sie alle ermächtigen und es ihnen ermöglichen, sich ihre eigene Geschichte aus den Teilen zusammenzusuchen, die ich ihnen zur Verfügung stelle. Mich ziehen Arbeiten überhaupt nicht an, die didaktisch sind oder die bestimmen, was man denken soll. Für mich muss Kunst mehr Atmosphäre und Raum für Zweideutigkeit und Dialog bieten.
In deinen Arbeiten tauchen oft Landschaften auf. Wie kann sich der moderne Mensch durch diese Landschaften bewegen?
Das ist eine gute Frage. Die Landschaften, die wir heute bewohnen, sind mit denen, die wir früher kannten, nicht zu vergleichen. Der Raum zwischen dem Bildschirm und der Realität wird ständig in Frage gestellt: Was ist real, was ist Fiktion und was nicht. Genau dem möchte ich mit meiner Arbeit nachgehen. Ich mag den Gedanken, dass ich den Betrachtenden etwas anbiete, mit dem sie auf ihre eigene Art umgehen können, tanzen, sich durchbewegen, sich wiederfinden. Das Kunstschaffen ist heute mit einem riesigen, unerforschten Gebiet vergleichbar, einem Dschungel, über den wir nur wenig wissen.
Um die Erfahrung mit deiner Kunst zu erweitern, verwendest du Videos, die auf riesige Leinwände projiziert werden.
Nun, ich wollte immer etwas schaffen, das weniger Barrieren hat, weniger Raum zwischen den Betrachtenden und dem Werk lässt. Ich will nicht, dass die Menschen aus großer Entfernung auf meine Kunst sehen, sie aburteilen – und dann einfach weitergehen. Ich habe immer versucht, Grenzen auszuloten und dabei Installation, Sound, Audio und Architektur verwendet, um Räume zu schaffen, die es noch nicht gibt. Ich will den Menschen eine andere Art an Erfahrung bieten.
Ein Großteil dieser Erfahrungen ist jedoch vergänglich; vorüber, wenn die Ausstellung geschlossen wird. Allerdings schaffst du auch permanente Installationen – was ist dir lieber?
Ich sehe Kunst als einen Baum mit vielen Ästen. Ich habe kein Medium, in dem ich ausschließlich arbeite, ich habe nicht eine Ästhetik, die mich definiert. Ich will frei sein, befreit, mich in jede Richtung bewegen können. Und die Ideen selbst geben mir die Richtung vor. Das ist für mich das Aufregende am Leben.
Wenn sich Menschen durch deine Installationen bewegen, zücken sie ihr Handy und sehen deine Kunst gleichermaßen durch einen Bildschirm. Wie denkst du darüber?
Es geht um die Idee, in einem Raum zwischen der physischen Realität und der Bildschirmrealität zu leben. Ich habe das Gefühl, dass es in unserer schnelllebigen Gesellschaft den Wunsch gibt, mit dem Handy einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit einzufangen, sie zu bewahren und sich zu merken. Ich finde das faszinierend – vor 150 Jahren hatten wir noch nicht einmal Kameras. Und heute verwenden wir die Bilder, die wir aufnehmen, wie ein Bergsteiger die Tritte am Berg.
Den Bilder-Berg gibt es ja wirklich! Es scheint, als würden wir das Leben oft nur durch unsere Bildschirme erleben. Ist aber eine echte Erfahrung nicht viel spannender?
Stimmt. Was du ansprichst, macht den Kern meiner Projekte aus. In den Underwater Pavilions zum Beispiel zeige ich drei Skulpturen in den Tiefen des Ozeans. Du kannst nicht einfach in ein Museum gehen und sie dort ansehen… Du musst auf eine Insel reisen, und dann höchstpersönlich durch diese Kunstwerke schwimmen! Als ich das fertige Werk zum ersten Mal selbst erlebte und durch diesen Wald an Unterwasserskulpturen schwamm, spürte ich einen Moment der Ungläubigkeit und Orientierungslosigkeit. Die verspiegelte Skulptur war vor mir, ich berührte die Felsen neben mir, orange Fische schwärmten um mich… und all das war echt! Es war meine eigene Erfahrung, die niemand sonst haben wird, und diese Erfahrung habe ich durch ein Kunstwerk gemacht.
Manch andere deiner Kunstwerke sind aber weniger öffentlich und werden in Privathäusern gehütet. Bedauerst du es, dass sie nicht von mehr Menschen gesehen werden können?
Wer mit deinem Kunstwerk lebt, hat seine persönliche Geschichte und Beziehung dazu. Kunst macht etwas mit dir, wenn du sie jeden Tag siehst.
Geht es dir auch so?
Ja! Ich lebe mit einer Skulptur des österreichischen Künstlers Franz West – das einzige Kunstwerk in meinem Haus. Er war ein Freund, und irgendwann einmal wollte er Werke mit mir tauschen; dabei war ich froh, ihm einfach eine meiner Arbeiten zu überlassen! Und doch kam einige Monate später diese riesige Kiste in meinem Studio an, und drinnen war diese riesige, sonderbare, unglaubliche Meteoriten-mäßige Skulptur an einer Stange. Als ich ihn danach fragte, sagte er mir: „Ich wollte etwas für dich schaffen. Als ich dich das letzte Mal besuchte, habe ich mir zwei Worte aufgeschrieben, die du ständig benutzt hast: Meteoriten und Revolutionen. Und so habe ich dir diesen revolutionären Meteoriten gemacht“ (lacht). Es ist eine Skulptur, die aussieht, als wäre sie aus dem Weltraum gefallen, rot und gelb und voller Energie. Sie zeigt, wer Franz war, und seinen Versuch, etwas über mich zu sagen, diese Energie zu teilen. Es ist ein wunderschönes und starkes Beispiel für das Weiterleben von Kunst; Kunst, die alles um uns durchdringt.
Eine deiner letzten Arbeiten ist Lightscape, könntest du etwas darüber erzählen?
Ich verwende sehr gerne Sound und Musik, manches schreibe ich selbst, manches entsteht in Zusammenarbeit mit Musikern. Das Projekt, an dem ich die letzten zwei Jahre gearbeitet habe, ist eine Kollaboration mit dem Los Angeles Philharmonic Orchestra: Lightscape. Es war das erste Mal, dass das Orchester mit einem bildenden Künstler zusammenarbeitete. Und gemeinsam schufen wir diese Art an Gesamtkunstwerk!
Worum geht es?
Ich schrieb diese Geschichte über unsere Landschaft auf dem Weg in die Zukunft. Sie besteht aus zehn verschiedenen Erzählungen, mit unterschiedlichen Charakteren und Standorten. Den Kern des Werkes bilden ein abendfüllender Film und eine Kunstinstallation auf mehreren Bildschirmen, die Fiktion, grafische Erzählung, Surrealismus und moderne Mythologie miteinander verbinden. Das Projekt wird von einem Liedzyklus getragen, der die Zukunft anspricht – das Portrait einer Kultur im Wandel, das den Grenzbereich zwischen natürlicher und synthetischer Umgebung erforscht.
Welche Art an Sound benützt du?
Nahezu dialogfreie, hypnotisierende Bilder werden von einem reichhaltigen Klangteppich getragen, der Eigenkompositionen von mir, die vom Los Angeles Master Chorale gesungen werden, mit ikonischen minimalistischen Werken von Philip Glass, Meredith Monk, Steve Reich und anderen verbindet. Die kinetische Musik von Lightscapespiegelt die Muster unserer digitalen Zeit wider. Die Premiere, bei der das Philharmonic live zu dem Film spielen wird, findet in Los Angeles im November 2024 statt.
War es dir wichtig, ein Projekt zu machen, das vielen Menschen zugänglich ist?
Ich starte ein Projekt grundsätzlich nicht, indem ich sage: „Das soll von vielen Leuten gesehen werden.“ Manche Ideen führen zu Plattformen, die sehr offen sind. Kunst hat so viele Sprachen, sie kann so viele Dinge sein.
Lightscape klingt wie ein allumfassendes Kunstwerk...
Lightscape besteht aus Ton, Film, bewegtem Bild und Licht - alles ist sehr entmaterialisiert. Aber als ich nach fünfmonatigen Dreharbeiten endlich ins Studio zurückkehrte, wollte ich wieder Dinge machen, die ich mit meinen Händen greifen konnte (lacht)! Mich schmutzig machen, die Erde spüren. Das ist für mich eine Metapher für Kunst. Kunst ist nicht singulär. Kunst ist plural, sie kann viele Dinge sein. Das Schöne ist, dass es kein Richtig und kein Falsch gibt. Es gibt nicht nur die eine Art, Kunst zu schaffen.
Interview: Alexandra Markl
Fotos: Cody James