Die nordeuropäische Szene für zeitgenössische Kunst entwickelt neue Dynamiken und wird zunehmend von internationalen Sammlern beobachtet. Mit den Nordic Notes lenken wir regelmäßig den Blick auf die nordische Kunst- und Kulturszene und stellen ihre wichtigsten Akteure vor.
Die finnische Künstlerin Elina Brotherus setzt sich in ihren Fotografien und Filmen mit der eigenen Biografie, dem Landschaftsgenre und Kunstgeschichte auseinander. Sie lotet die Möglichkeiten der fotografischen Selbstinszenierung aus, bezieht sich dabei immer wieder auf Ikonen der Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts, oder wie in ihren aktuellen Arbeiten, auf die zeitgenössische Kunst der 1960er- und 70er Jahre. Elina Brotherus’ Bildsprache ist von Sensibilität, formaler Meisterhaftigkeit und ausgeführtem Perfektionismus geprägt und ihre Bilder bieten der betrachtenden Person eine Vielzahl von Möglichkeiten mit ihnen in Verbindung zu treten.
Elina, welcher Weg hat dich in die Kunst geführt und wie wurdest du Künstlerin?
Der Weg war gar nicht so einfach. Er begann mit meinen Eltern, die beide Chemiker waren. Ich habe sie sehr früh verloren und wuchs bei meinen Großeltern auf. Ich hatte immer diese Idee von einem erwachsenen Leben und begann Chemie zu studieren, da es mir sinnvoll erschien. Vielleicht wollte ich aber auch nur eine Verbindung zu meinen Eltern herstellen, die ich nie kennenlernen konnte. Während des Studiums begann ich also, im Labor meines Professors zu arbeiten, der auch meinen Vater unterrichtet hatte. Er merkte schnell, dass ich mich aber nicht wirklich für diese Arbeit interessierte und war irritiert darüber. Seine Verärgerung über mein Verhalten brachte mich zum Nachdenken, und ich beschloss, mir eine Alternative zu überlegen, der ich leidenschaftlicher nachgehen würde. Da ich nicht gut zeichnen konnte und mein Selbstbewusstsein damals sehr gering ausgeprägt war, entschied ich mich dagegen, mich an der Kunstakademie zu bewerben. Stattdessen wählte ich die Fotografie, denn dabei übernimmt die Kamera das Zeichnen. Das Auswahlverfahren an der Universität für Kunst und Design Helsinki war streng. Von achthundert Personen wurden nur acht ausgesucht. Ich war die letzte, die noch in die Klasse aufgenommen wurde.
Neben der Fotografie ist auch die Videotechnik ein Teil deiner Kunst.
Ich habe mich immer schon für Videokunst interessiert und mich sehr früh daran versucht. Die Universität verfügte allerdings nicht über das entsprechende Equipment, um sich darin zu probieren. Ich kaufte mir daher sehr bald selbst eine Kamera und arbeitete damit, obwohl ich nie Film studiert hatte. Meine Videoarbeiten sind oft wie unbewegliche, stille Bilder, fast schon selbst Fotografien, in denen kleine Bewegungen passieren.
Wann wählst du welches Medium, um dich künstlerisch auszudrücken?
Ich mache oft beides, und danach überlege ich, welches Resultat ich zeigen möchte. Manchmal zeige ich auch beide Versionen, Fotografie und Film, nebeneinander. In meiner Arbeit Le Miroir aus dem Jahr 2000 beschäftigte ich mich in fünf Fotografien mit beschlagenen Badezimmerspiegeln. Im darauffolgenden Jahr habe ich dasselbe Thema nochmals in einer Videoarbeit behandelt. Viele Kuratoren und Kuratorinnen entscheiden oftmals zwischen den beiden Werken, wenn sie eine Ausstellung konzipieren. Dabei finde ich persönlich gerade den Unterschied zwischen dem stillen und dem beweglichen Bild und die sich daraus ergebenden Zugänge spannend. Das bewegte Bild kann unheimlich wirken und ist manchmal schwer anzusehen, weil es so realistisch ist. Im Gegensatz dazu wirken gerahmte Fotografien wie Objekte.
Es gibt viele Elemente wie den Spiegel, die sich wiederkehrend in deiner Arbeit finden. Manchmal sind auch Personen oder du selbst in den Fotografien präsent, und manchmal bleiben die Bilder menschenleer. Kannst du deinen Arbeitsprozess und diese Aspekte näher erläutern?
Die Spiegel gehören zu jenen „Fetischen“, auf die ich immer wieder zurückgreife. Bei der Auswahl einer landschaftlichen Szene oder eines spezifischen Ortes vertraue ich auf meinen Blick. Es geht vor allem um die visuelle Entscheidung. Wenn ich meine, dass das Bild nach einer menschlichen Präsenz verlangt, dann nehme ich eine Person darin auf. Da ich gerne alleine arbeite, bin ich es oft selbst, die in dem Bild sichtbar wird. Zudem nehme ich mir alleine mehr Zeit und kann besser arbeiten. Ich habe gelernt, dass – wenn ich mit einem Model arbeite – ich meist viel zu schnell in der Ausführung bin, da ich die Person nicht unangenehm lange aufhalten möchte. Eine weitere Erklärung für meine häufige Präsenz ist der autobiografische Aspekt meiner Arbeit, denn manchmal passiert etwas in meinem Leben, das ich in meine Arbeit einfließen lasse. In solchen Aufnahmen muss ich zwangsläufig vorhanden sein.
Dieser autobiografische Ansatz trifft auf deine Arbeit Annonciation zu.
Ja, absolut. In dieser Arbeit dokumentierte ich zunächst für mich selbst den Abschnitt in meinem Leben, in dem ich versucht habe, schwanger zu werden. Damit erzähle ich eine Geschichte, die für viele Frauen und auch Männer sehr real ist und selten gehört wird. Dabei ist die Fähigkeit Kinder zu bekommen ein wichtiger Aspekt in der Diskussion um Mutterschaft. Als die Kuratorin Susan Bright die Bilder sah, wollte sie diese unbedingt in der Ausstellung Home Truths. Photography, Motherhood and Identity zeigen. Ich zögerte zunächst mit meiner Zustimmung, aber ich denke, es war die richtige Entscheidung, diese Fotografien freizugeben. Die Fotos übernehmen eine solidarische Rolle für viele Menschen, denn ich erzähle die Geschichte mit unglücklichem Ausgang. Frauen haben es im Leben nicht immer leicht. Man erwartet von ihnen, dass sie Mütter werden und eine Familie gründen, und gleichzeitig Karriere machen. Auf Frauen lastet enorme Verantwortung und sehr viel Druck.
Welche Rolle spielt das Alter, wenn man sein eigenes Bild so häufig in der eigenen Arbeit verwendet?
Es ist ein interessanter Aspekt. Das Bild von mir ist in einer Weise ein Wort in meinem Vokabular und ein Erkennungszeichen meiner Arbeit. Als ich anfing, mein eigenes Bild für meine Fotografien zu verwenden, geschah dies, weil ich alleine war, niemand Fotos von mir machte, ich aber wissen wollte, wie ich aussehe. So entstand der Ausgangspunkt für meine Präsenz in meinen Arbeiten. Heute, zwanzig Jahre später, ist es interessant, die Entwicklung der eigenen Person anhand dieser Fotos zu beobachten.
In deinen Fotografien Der Wanderer 1-5 greifst du auf das Bild des Malers Caspar David Friedrich zurück. Handelt es sich dabei um eine Aneignung oder eine Inspiration?
Diese Arbeit veranschaulicht mein Interesse an Kunstgeschichte. Ein kunsthistorischer Ansatz war bereits 2000 bis 2004 zentral für meine Serie The New Painting und seit 2016 greife ich wieder darauf zurück für meine Fluxus-Arbeiten. Der Wanderer handelt von einer Aneignung für mein Geschlecht, und auch darum, die romantische, männliche Sichtweise in der Malerei umzudeuten. Statt des heroischen Mannes, den Caspar David Friedrich darstellte, habe ich mich selbst auf den Berg platziert. Man sieht eine Frau, die auf die Welt blickt und mit dem Rücken zum Betrachter dazu einlädt, den Ausblick mit ihr zu teilen.
Betrachtet man deine Bilder, dann blickt man sehr oft auf die Rückenansicht von dir oder anderen. Was hat es damit auf sich?
Ich empfinde den direkten Blick oft als zu bedeutungsgeladen. Man hat das Gefühl, als müsste man auf ihn antworten. Indem man der betrachtenden Person den Rücken zuwendet ergibt sich ein Zusammenstehen. Wenn man so möchte, ein Nebeneinander. Die Konzentration liegt auf der Landschaft, die beide gemeinsam betrachten, ein geteilter kontemplativer Moment. Die betrachtende Person und die Person in der Fotografie teilen sich den Bildraum.
Bei Der Wanderer 2 entdeckt man einen unruhigen Moment. Der Mantel, den du trägst, bewegt sich im Wind, und so wirkt ein kleiner Teil der Fotografie unscharf. Ein Detail, das sich im Werk von Caspar David Friedrich nicht findet.
Friedrich würde nie solche Unschärfe in sein Bild bringen. Das Verwischen durch Bewegung ist ein typisches Phänomen in der Fotografie. Besonders wenn man mit analoger Technik und langsamen Filmsequenzen arbeitet, sind solche Elemente nicht kontrollierbar und erst nach der Filmentwicklung erkennbar. Die Unschärfe in diesem Foto ist kein stilistischer Aspekt, den ich bewusst gewählt habe, sondern markiert die entscheidende Differenz zwischen Malerei und Fotografie.
In deiner Auseinandersetzung mit der Fluxus-Bewegung, die sich in den 1960er Jahren entwickelt hat, mit der du dich seit 2016 intensiv beschäftigst und aus der du Schlüsselwerke in deine eigene Arbeit überführst. Du beziehst dich auch auf andere Künstlerinnen und Künstler, wie etwa VALIE EXPORT oder Erwin Wurm, mit denen du auch 2018 für die Ausstellung im Kunst Haus Wien gearbeitet hast.
Ich hatte die Möglichkeit, mit diesen großen, österreichischen Künstlern zusammenzuarbeiten. Ich wählte einige ihrer Arbeiten aus und schuf daraus meine eigenen Versionen. Bei Erwin Wurm waren es die One Minute Sculptures, die mich faszinierten. Erwin und ich haben haben drei davon gemeinsam durchgeführt und ich habe uns dabei fotografiert. Mit VALIE EXPORT wählte ich die Arbeit Stand up. Sit down und entwickelte daraus meine Arbeit Disobedience. I ließ T-Shirts mit ihren Instruktionen anfertigen. Im Bild aber tun wir genau das Gegenteil dieser Anweisungen. Das Schöne an diesem Bild ist, dass wir hier einen Zeitablauf, und auch das Zusammenwirken zweier unterschiedlicher feministischer Generationen, sehen können. VALIE EXPORT sieht 2018 natürlich anders aus, doch ihr ikonisches Gesicht, das uns aus den Siebzigern vertraut ist, ist sofort erkennbar.
Wie wirst du deine Auseinandersetzung mit der Fluxus-Bewegung fortführen?
Es gibt noch viel für mich zu tun in diesem Bereich. Meine Arbeit basiert auf sehr viel Recherche, um Dinge zu finden, die ich als Anweisung verwenden kann. Ich mache mir Notizen, wenn ich eine Ausstellung besuche, und sehe mir online die Archive großer Museen, wie des Museum of Modern Art in New York, an. Ich habe mich auch mit einigen Künstlern der Fluxus-Bewegung, wie mit dem schwedischen Künstler Bengt af Klintberg, getroffen. Für mich ist es wichtig, nicht die Performances dieser Künstler im Original zu sehen, sondern mich in deren geschriebene Instruktionen, den sogenannten „Event Scores“ zu vertiefen. Dadurch, dass ich den Scores folge ergeben sich keine offenen Fragen zur Autorschaft. Ein Score ist eine Einladung an jeden, eine solche Arbeit auszuführen.
Du bist als Künstlerin bereits seit zwanzig Jahren aktiv. Wie hat sich die Kunstwelt seit Beginn der 1970er Jahre für Frauen geändert?
Als Frau bin ich froh, heute in der Kunst zu sein. VALIE EXPORT sagte in mehreren Interviews, dass es ihr in ihren frühen Jahren als Künstlerin an weiblichen Vorbildern fehlte. Früher wurden die Frauen in der Kunst unterschätzt, und oftmals wussten sie gegenseitig gar nichts von ihrer Existenz. Daher kam es auch zu keiner Netzwerkbildung. Noch heute befinden wir uns in einem Ungleichgewicht, denn obwohl mittlerweile ebenso viele Frauen wie Männer im Kunstbetrieb aktiv sind, erhalten die männlichen Künstler mehr Aufmerksamkeit. Männliche Künstler sind jene, deren Werke teuer verkauft werden. Sie sind stärker in den Galerien vertreten und erhalten häufiger die Möglichkeit, in Institutionen auszustellen. Oft frage ich mich, warum das so ist, denn ich denke nicht, dass Männer unbedingt die besseren Künstler sind. Für dieses Ungleichgewicht muss es andere Gründe geben. Frauen sollte solange der Vortritt gewährt werden, bis dieses Gleichgewicht wiederhergestellt ist.
Zurzeit bist du, gemeinsam mit Nicole Ahland und Thomas Wrede, an einer Ausstellung im Museum Kunst der Westküste auf der Nordseeinsel Föhr beteiligt. Wie bist du zu dieser Gelegenheit gekommen?
Das erste Mal als ich nach Föhr kam, war als Gast in Begleitung meines Mannes Lauri Astala (ein finnischer Filmregisseur und Videokünstler), der an der Ausstellung Empty Rooms: Die Schönheit der Leere im Museum Kunst der Westküste 2016 teilnahm. Da ich wusste, dass ich viel freie Zeit haben würde, während er die Ausstellung aufbaute, nahm ich meine Kamera mit. Also mietete ich mir ein Fahrrad und machte bereits zu diesem Zeitpunkt ein paar Fotos. Bei meinen Ausflügen über die Insel war ich so fasziniert von der Landschaft, dass ich sogar das Eröffnungsdinner verpasst habe! (lacht)
Du zeigst im Rahmen der Ausstellungsreihe Made on Föhr des Museums Kunst der Westküste. Der Titel deutet schon an, dass die Arbeiten in der Ausstellung in irgendeiner Weise einen Bezug zum Ort haben müssen. Inwiefern hat Föhr bei dir einen Eindruck hinterlassen?
Was wirklich auffällig ist, ist, dass die Insel so leer ist. Es gibt keinen großen Wald, in dem man sich verirren könnte. Aber es gibt diese weitläufigen Felder mit einem weiten Blick, diesen Wind, und den 'leeren' Himmel. Ich stelle mir spannend vor, mitten im Wind von einem Punkt der Insel aus, einfach nur die Bewegungen der Wolken und das Farbenspiel am Himmel zu beobachten. Und das offene Meer ist natürlich immer etwas, das mich fasziniert.
Der Wind wurde dann schließlich auch zum Thema einer Reihe von Foto- und Videoarbeiten, die du auf Föhr gemacht hast. Man stößt in der Ausstellung aber auch auf eine eher unerwartete Werkreihe, in der du One Minute Sculptures von Erwin Wurm nachstellst. Wie kam es dazu, dass diese ausgerechnet auf einer Nordseeinsel entstanden sind?
Wie ich bereits erwähnt habe, hatte ich mich zuvor viel mit der 'Instruktionskunst' der 1960er und 1970er Jahre beschäftigt. Als ich die One Minute Sculptures von Erwin Wurm entdeckte, faszinierten sie mich auf ähnliche Weise. Das fiel in die Zeit, in der ich auch das erste Mal auf Föhr war. Ich nahm also ein Buch mit Reproduktionen von Erwin Wurms performativen Skulpturen und stellte einige von ihnen an Orten auf der Insel nach, die mir nach meinem eigenen visuellen Empfinden und meiner künstlerischen Intuition geeignet erschienen.
Interview: Alexandra-Maria Toth
Fotos: Paavo Lehtonen