Fabian Seiz macht Kunst aus Dingen, die andere keines zweiten Blickes würdigen würden. In den Händen des Wiener Künstlers aber werden aus Teilen alltäglicher Gegenstände, aus altem Holz und neuerdings auch aus seinem eigenen Frühwerk fein konzipierte Skulpturen. Im Interview erzählt Seiz über seinen Arbeitszyklus, die Erinnerung und den demokratischen Reiz gebrauchter Materialien.
Ein großes Thema in deiner Arbeit ist das, was übrigbleibt, wenn die Zeit vergeht, also die Erinnerung. Was ist denn die früheste Erinnerung, die du hast?
Das Allerfrüheste? Ich glaube, da liege ich im Gitterbett im Zimmer, das ich mit meiner Schwester gemeinsam hatte, und bin gerade aufgewacht. Ich sehe noch die Gitterbettstäbe vor mir. Wie der Tag dann weiter verlaufen ist, weiß ich nicht mehr. Das Bild hat sich eingeprägt aber mehr nicht. Eigentlich bin ich ja ein sehr vergesslicher Mensch ...
In der Kunst ist die Verarbeitung des Erlebten eine beliebte Vorgangsweise. Kannst du erklären, warum das so eine wichtige Inspirationsquelle für dich ist?
Es geht mir dabei um das Ordnen. Erinnerung verändert sich ständig, weil sie etwas ist, das man selber erschafft. Meine Erinnerung vor zehn Jahren ist sicher eine andere als heute. Ich habe eine Arbeit mit dem Titel Autobiografie gemacht, für die ich alle Vornamen, an die ich mich erinnern kann, chronologisch geordnet und mit Querverweisen versehen habe, wen ich über wen kenne. Dafür habe ich etwa sechs Jahre gebraucht und währenddessen hatte sich meine Erinnerung natürlich schon wieder verändert. Wenn ich die Arbeit jetzt anschaue, muss ich mich neu an die Erinnerung erinnern, wer das eigentlich damals war.
Die Tätigkeit des Ordnens scheint überhaupt eine wichtige Methode deiner Arbeit zu sein. Was ist der Reiz, den das Sortieren der diffusen Masse der Erinnerung auf dich ausübt?
Das Ordnen liegt anscheinend in meiner Natur. Es hat immer etwas Hierarchisches, weil man natürlich auch Dinge weglässt oder bevorzugt. Irgendetwas steht an erster Stelle und irgendetwas an letzter Stelle. Manches verschwindet überhaupt. Man sieht ja auch an meinem Atelier, dass ich gerne Ordnung halte. Obwohl gerade eine Chaosphase ist! Ich miste regelmäßig aus und optimiere die Ordnung – gerade weil man mit Skulpturen natürlich ein Lagerproblem hat. Gleichzeitig fange ich mit diesem Optimierungswahn wenig an. Wenn alles zu perfekt ist, wird es spießig.
Könnte man dein Atelier und dein Lager dann nicht auch wie eine Art ausgelagertes Gedächtnis sehen?
Der Raum funktioniert wie eine Maschine. Durch die Struktur, die ich hier angelegt habe, ist mein Atelier wie eine Prothese für mich. Ich weiß, welche Plätze sich gut wofür eignen. In den gelagerten Materialien sieht man die Erinnerungsspuren. In meinem Atelier habe ich auch meine Kunstmaschine. Die Idee dabei ist, dass ein Kunstwerk aus Form und Inhalt besteht. Die Formensammlung ist wiederum in Ästhetik und Material unterteilt. Auf der Inhaltsseite gibt es Texte und Bilder, die Inhalt transportieren. Mit einem selbst gebauten Zufallsgenerator wird bestimmt, aus welchen Zutaten das Kunstwerk bestehen soll. Ich glaube, es gibt über 456.000 mögliche Kombinationen – mehr als genug für meine ganze Karriere. Ich bin inzwischen schon seit sieben Jahren am Befüllen der Kunstmaschine. Sie ist so etwas wie mein ausgelagertes Gehirn und es sind schon viele Arbeiten daraus entstanden, aber sie ist natürlich auch selbst als Skulptur gedacht.
Heißt das, dass du auch das Lager, wo du deine Arbeiten aufhebst, als aktiven Teil deiner künstlerischen Praxis siehst?
Seit einigen Jahren ist das Zerstören und wieder Neumachen ein großes Thema in meiner Arbeit. Mein zeichnerisches Frühwerk habe ich schon zu Pappmaché verarbeitet. Der nächste Schritt ist, etwas Ähnliches mit den dreidimensionalen Sachen zu machen. Ich muss noch die richtige Lösung finden, wie ich das gut umsetzen kann. Dafür gehe ich natürlich viel ins Lager. Und es gibt eine Serie an Remakes, in denen ich meine eigenen Arbeiten verbessert nachmache und das Original verschwinden lasse. Ich verwende meine Skulpturen wie Materialien oder Werkzeuge. Wenn ich eine Skulptur zerlege tauchen ihre Teile wieder in meiner Materialsammlung auf. Genauso kommen Themen wieder zurück.
Wenn du mit deinen Arbeiten so umgehst, fällt es dir dann nicht schwer zu sagen, wann eine Arbeit wirklich fertig ist?
Fertig ist eine Arbeit für mich, wenn die Idee ausformuliert und eine Form dazu gefunden ist. Die Form soll viele Teile der Idee durchführen, aber ich möchte nicht alles komplett durchdeklinieren. Manche Aspekte sollen auch offen bleiben. Wie ich eine fertige Arbeit aber ein paar Jahre später sehe, ist eine ganz andere Frage. Ich überprüfe meine Skulpturen zyklisch und baue sie daraufhin immer wieder um, verbessere sie oder arbeite sie anders aus. Manchmal geht auch etwas kaputt und ich tausche es aus.
Hast du bei dieser radikalen Auseinandersetzung mit deiner eigenen künstlerischen Vergangenheit Erkenntnisse über dich selbst gewonnen?
Hauptsächlich, dass es anscheinend Themen gibt, die mich schon seit Langem begleiten, die ich immer wieder vergesse und die dann wieder auftauchen. Ich habe tatsächlich auch schon die gleiche Idee in zwei verschiedenen Skizzenbüchern entdeckt, zwischen denen ein paar Jahre lagen.
Ist es sonst auch so, dass du aus deinen Arbeiten etwas über das Leben lernst, oder ist es umgekehrt, dass du Themen aus deinem Leben in deine Kunst bringst?
Eher in die zweite Richtung. Alles, was mich interessiert und beschäftigt, findet sich in meiner Arbeit wieder. Alles in meiner Kunst kommt von außen und nicht aus mir selbst. Oft läuft das über das Lesen: Vieles, was ich lese, wird dann zur Skulptur. Für mich ist der Inhalt meiner Skulpturen natürlich augenscheinlich und ich komme dann drauf, dass das nicht für alle so ist. Dann sind Texte und gerade Titel schon recht hilfreich. Aber es ist nicht so, als ob an jeder Arbeit ein Beipackzettel hängen würde.
Könntest du in ein paar Sätzen sagen, was du bei Leuten, die deine Kunst sehen, auslösen willst? Was sind die Inhalte, die du vermitteln willst?
Alles was eine Form hat, ist ein Zeichen des Denkhorizonts einer bestimmten Zeit. Alles was uns umgibt, hat einen Inhalt: Wie ist es produziert? Warum hat es dieses Design? Welche Geisteshaltung steht dahinter? Man sieht alle Ideen in der Form. Damit spiele ich. Wie das konkret aussieht, ist von Skulptur zu Skulptur unterschiedlich. Hier steht zum Beispiel gerade die Column for the Common. Die karierten Sackerln, die ich dafür verwendet habe, gibt es weltweit, ohne dass sie einen Markennamen hätten. Und das Rollkasterl war damals auch ein Massenprodukt. Die Skulptur erzählt also über Massenprodukte ohne Marken, die jeder kennt, die aber trotzdem untergehen. Diesen Gegenständen wollte ich ein Denkmal setzen. Und wenn man das sieht, kann man natürlich anfangen über Massenproduktion, weltweiten Handel und so weiter nachzudenken.
Eines der Konzepte, das dich nachhaltig fasziniert, ist der sogenannte Potlatch. Was hat es damit auf sich?
Das ist ein Schenkungs- und Zerstörungsritual bei den kanadischen Indigenen. Es war durchaus bedrohlich, wenn der eine den anderen zum Potlatch herausgefordert hat. Die eine Seite zerstört ihr eigenes Hab und Gut, die andere muss das toppen und noch mehr zerstören. Das kann ökonomisch sehr schwierig sein, weil die Teilnehmer teilweise ihr gesamtes Saatgut zerstört oder auch ihre Sklaven umgebracht haben. Der Potlatch wurde dann verboten. Mit Leuten, die so eine Idee von Ökonomie haben, kann man schlecht wirtschaften. Der französische Philosoph Georges Bataille nennt das die Natur der Verausgabung. Natur ist nie geizig, sondern gibt alles her.
Ergeben sich aus diesem Arbeitsansatz auch die technischen und ästhetischen Bedingungen deiner Arbeit?
Das ist bei mir strenger und durchdachter, als man beim ersten Hinschauen vielleicht glauben würde. Bei den Arbeiten zum Thema der Pappmaché-Ziegel, die ich aus meinen alten Zeichnungen herstelle, muss sich zum Beispiel alles an die Norm der Ziegelgröße halten. Das ist fast schon zwänglerisch. Mich interessiert die Information, die ich in wiederverwendeten Materialien finde, nicht wie das im Endeffekt dann ausschaut. Die 200 Zeichnungen, die ich auf ein kleines Stück Pappmaché komprimieren kann, sind dann zwar verschwunden, aber als Information trotzdem irgendwie noch da.
Was bewegt dich dazu, immer wieder gebrauchte Materialien für deine Kunst zu verwenden?
Wenn ich alte Pressspanplatten verwende, interessiert es mich, dass das ein Material und eine Ästhetik ist, die jeder von zuhause kennt. Das ist eigentlich ein sehr gewohntes Material, das zur Skulptur umgebaut, aber ein ganz anderes Erscheinungsbild hat. Und es geht auch um Verfügbarkeit. Früher standen noch mehr Möbel einfach auf der Straße. An den Furniertypen konnte man erkennen, welche Möbel gerade gehäuft weggegeben wurden. Daraus kann man viel herauslesen. Deswegen nehme ich, vor die Wahl zwischen dem elitären und dem demokratischen Material gestellt, immer das demokratische Material. Auch für die Kunstmaschine verwende ich nur Tageszeitungen, also Material, das eigentlich jedem zu Verfügung steht.
Ist das Ziel dieser demokratischen Materialwahl, dass deine Kunstwerke dadurch zugänglicher werden?
Meines Wissens ist es schon so, dass meine Skulpturen einladend wirken. Das habe ich schon von mehreren Seiten gehört. Meine Intention ist zu zeigen, dass es möglich ist aus diesen Materialien, aus denen jeder etwas machen kann, Kunst zu erzeugen. In meinen Arbeiten gibt es nichts, das irgendjemanden ausschließt. Sie sind für alle da.
War dir immer schon klar, dass die Kunst dein Weg ist diese Dinge zu sagen? Oder gab es auch andere Optionen für dich?
Das war ein sehr gerader Weg. Mit 14 habe ich für mich beschlossen Künstler zu werden und habe mir das Ziel gesetzt auf der Akademie zu studieren. Warum genau mir das damals in den Sinn gekommen ist, weiß ich gar nicht mehr. Ich habe das jedenfalls dann durchgezogen und alles andere – Schule und so – beiseite gelassen. Mit 18 war ich dann tatsächlich auf der Akademie. Inzwischen wüsste ich gar nicht, was ich sonst tun sollte.
Wie hast du deine Studienzeit in der Klasse von Gunter Damisch erlebt?
Das war von 1993 bis 1999: eine komplett andere Zeit. Die Akademie war damals total verstaubt. Es gab noch nicht einmal die Ateliers im Semper-Depot, sondern nur das ehrwürdige Gebäude am Schillerplatz, wo es nach Ölfarbe gerochen hat. Hundertwasser und Arik Brauer waren Professoren. Gunter Damisch und vor allem Renée Green war die erste, die etwas komplett Neues reingebracht hat. Ich hatte aber immer mein eigenes Atelier und war eigentlich gar nicht so viel an der Uni. Im Rückblick hätte ich mir wohl ein bisschen mehr rausholen können. Richtig losgegangen ist es für mich eigentlich auch erst danach. Ich hatte ja Malerei und Grafik studiert und bin erst nach dem Studienabschluss ins Dreidimensionale gegangen.
Das ist schon eine große Neuorientierung. Was hat dieses Umdenken bei dir ausgelöst?
Irgendwann bin ich draufgekommen, dass meine Vorstellung von Malerei und Künstlersein gar nicht mit dem übereinstimmt, wie meine Persönlichkeit ist. Und dass mir das Dreidimensionale und das Inhaltliche mehr liegt als alleine vor einer weißen Leinwand zu sitzen. Ich halte mich einfach nicht für einen besonders guten Maler im klassischen Sinn. Ich habe mir das zwar so vorgestellt, aber ich bin es einfach nicht. Wenn ich heute male oder mich mit dem Thema Malerei beschäftige, dann hat das im Bildaufbau und in der Umsetzung immer etwas Bildhauerisches.
Wie siehst du die Entwicklung der Kunstszene und des Marktes in Wien?
Hier hat sich in den letzten zehn, zwanzig Jahren richtig viel getan. Früher war Berlin der Ort, wo man sein musste. Jetzt kommt es mir so vor, als wäre es umgekehrt und die Berliner fahren nach Wien. Aber es fällt auf, dass die jetzt gängigen Galeriekonzepte auch nicht mehr so funktionieren wie vor einigen Jahren. Die einen haben nur noch winzige Räume und sind vor allem auf Kunstmessen unterwegs. Andere sagen, sie konzentrieren sich wieder mehr auf ihren Standort und machen weniger Messen. Das Geld wird mittlerweile komisch verteilt: Es ist leichter einen Damien Hirst um zwei Millionen Euro zu verkaufen als Skulpturen semi-bekannter Künstler um 10.000 Euro. Es läuft alles zu den Gewinnern hin und für die große Masse wird es schwieriger. In Wahrheit streiten sich ja sehr viele Künstler um sehr wenig Geld.
Hast du das Gefühl, dass das auch eine Frage von Kulturpolitik ist? Die Frage wie die Gesellschaft als Ganzes mit Kunst umgehen soll, wird ja auch immer wieder heftig verhandelt.
Soll sich eine Gesellschaft mit Fördermechanismen Kultur leisten? Oder sollen das die Privaten übernehmen? Ich weiß auch nicht, was die bessere Variante ist. Vermutlich eine Mischung. Das Konzept, dass die großen, etablierten Galerien die kleinen unterstützen, wäre aber schon wichtig. Die Kleineren bauen Künstler auf, die dann irgendwann zu den Großen wechseln. Wenn die Kleinen aber kein Geld mehr haben, wo soll das künstlerische Kapital denn dann herkommen? Es wäre zum Beispiel ein interessanter Ansatz, wenn etablierte Galerien, die irrsinnige Umsätze machen, kleinen, jungen Galerien Messestände zahlen würden, damit das Werkl am Laufen bleibt. Man muss auch die Konsequenz derer würdigen, die irgendwo herumgrundeln. Sonst gibt es dann irgendwann nur noch fünf Galerien, die eine Messe bespielen, uns das wäre irgendwie langweilig.
Hast du Vorbilder, die dich nachhaltig beeindruckt und beeinflusst haben?
Als ich jung war hatte ich mehr Vorbilder in der Musik als in der Kunst. Jetzt bewundere ich Leute wie Jiří Kovanda. Der hat immer gearbeitet, mit den Mitteln, die zu Verfügung waren, sein Ding durchgezogen und das obwohl er damals kaum Erfolg hatte – auch auf Grund des Eisernen Vorhangs natürlich. Es beeindruckt mich einfach, wenn jemand dranbleibt, auch wenn es nicht gut läuft.
Was sind die nächsten Schritte für dich? Woran arbeitest du gerade?
Ich bin gerade dran, den Potlatch ins Dreidimensionale umzusetzen. Da kann und will ich aber momentan noch gar nicht viel sagen, weil das alles noch sehr im Werden ist. Es gibt schon Ansätze, aber ich weiß noch nicht, ob die auch technischen umsetzbar sind. Jedenfalls werde ich dafür mein Lager komplett umstrukturieren. Daraus werden sich dann neue Arbeiten ergeben.
Interview: Gabriel Roland
Fotos: Maximilian Pramatarov
Links:
untitled projects, Wien