Die aufs Minimum reduzierte Form prägt die Arbeiten des in Altshausen geborenen Objektkünstlers Gerold Miller. Seine Wandobjekte erzielen ihre Wirkung in radikaler Monochromie und geometrischer Abstraktion. Dabei bedient er sich moderner Techniken und Materialien, wie Aluminium oder Edelstahl als Träger seiner Werke, und schafft dabei eine Symbiose aus Skulptur und Bild.
Gerold, seit vielen Jahrzehnten arbeitest du künstlerisch. Bist du schon in deiner Kindheit mit Kunst in Berührung gekommen?
Schon als Kind war mir klar, dass ich Künstler werden wollte, dazu gab es für mich keine Alternative. Ich bin in einer ländlichen Gegend aufgewachsen, wo es keine richtige Kunstszene gab, und hatte daher keine konkrete Vorstellung vom Künstler-Sein. Deshalb musste ich mich selber erfinden.
Wie hast du es geschafft, dir diesen Raum zur Selbsterfindung zu schaffen?
Als Jugendlicher habe ich am Gartenzaun meines Elternhauses im Keller gefundene Gemälde ausgestellt und verkauft, deren Signaturen ich durch meine eigenen ersetzt hatte. Dieser Akt des Signierens oder der subversiven Aneignung wurde zu einer bildnerischen Geste, die bereits auf den minimalistisch-konzeptuellen Geist hinweist, der meine Kunst bis heute prägt.
Und hast du diese Art der Aneignung auch schon damals auf Räume übertragen?
Die Gegend, in der ich aufgewachsen bin, ist stark durch den Barock geprägt. Daran habe ich auch mein Verständnis von Kunst entwickelt: Das barocke Konzept des Gesamtkunstwerks, das Verschmelzen von Architektur, Skulptur und Malerei, die Verbindung von echtem Raum und räumlicher Illusion – das wurde zur Grundlage meiner künstlerischen Entwicklung und beschäftigt mich bis heute. Ich versuche darüber hinaus, Dinge ganz konzentriert zu bündeln, mich auf das Wesentliche zu fokussieren und Aussagen in aller Klarheit zu formulieren. Meine Werke sollen eindeutig und direkt sein.
Welche Rolle spielen deine Jugend in Süddeutschland und das Studium an der Kunstakademie Stuttgart in deinem Werk?
Wer in den 1980er Jahren in Stuttgart an der Akademie zu studieren anfing, musste ein Grundjahr absolvieren, in dem man grundlegende Fähigkeiten wie Zeichnen, Malen usw. erlernen konnte. Wir mussten figurativ arbeiten, was ich kategorisch ablehnte. Nach diesem ersten Jahr gab es für mich zwei Möglichkeiten: in eine Bildhauerklasse mit abstraktem Ansatz zu gehen, unter der Leitung eines Steinbildhauers, der sich am Bauhaus orientierte, oder in die Klasse Brodwolf mit seiner streng humanistischen Haltung, die mich sehr interessierte und bis heute eine gewisse Rolle in meinem Werk spielt. So entschied ich mich für Professor Brodwolf. Damals hatte die Akademie eine sehr gute Stahlwerkstatt, in der wir arbeiten konnten, was viele Bildhauer zu der Zeit gemacht haben. Metall ist bis heute mein wichtigstes Material geblieben.
Was war die erste Ausstellung, die dein Schaffen geprägt hat?
Es war keine Ausstellung, sondern ein Kunstwerk, und zwar die großformatige Atelieransicht von Gustave Courbet von 1855, die in Paris im Quay d’Orsay hängt. In dem Bild steckt der ganze Kosmos des Künstlers. Seine Freunde aus Künstlerkreisen, Literaten, Kritiker, das Modell vor einer Leinwand, die alle in der Intimität seines Ateliers versammelt sind. Das reale Leben des Malers versus seine Innenwelt, das sind Elemente, mit denen jeder Künstler ständig konfrontiert ist.
Deine Arbeiten sind abstrakt und minimalistisch zugleich. Was macht deine Kunst noch aus?
Meine Werke sind in der Realität verankert. Die betonte Materialität bestimmter Werkgruppen schafft Situationen, die ich mit physischer und psychischer Konfrontation umschreiben würde. Für mich ist die Untersuchung der Möglichkeiten und Bedingungen von Bildlichkeit im Grenzbereich von Skulptur, plastischem Objekt, umgrenzter Wandfläche und skulptural-bildhaft definiertem Raum als Bildträger zentral.
Welchem Genre würdest du deine Kunst zuordnen?
Da meine Arbeiten weder Bild, noch Relief, Skulptur oder Architektur sind, gehören sie keinem der gängigen Genres an und lassen herkömmliche Definitionen hinter sich. Die Idee vom Bild endet für mich nicht in der Greifbarkeit eines minimalistischen „what you see is what you get“, sondern geht weit darüber hinaus in einen konzeptuellen Bereich, der physisch nicht mehr fassbar und nur noch denkbar ist.
Häufig basieren deine Arbeiten auf Untersuchungen zur Bildlichkeit im Grenzbereich zwischen Minimal und Concept – was vereint diese beiden Ausdrucksweisen?
Für mich sind das Verhältnis von Denkbarkeit und Sichtbarkeit, von geometrischer Eindeutigkeit und visueller Mehrdeutigkeit sowie die Öffnung des Bildraums in die Realität zentrale Gedanken. Mit diesen Themen sehe ich mich eher in der Tradition der italienischen Avantgarden der 1950er und 1960er Jahre.
Welche Rolle spielen Raum und Zeit in deinen Arbeiten und wie näherst du dich diesen Konzepten an?
Die Setzung von Kunst als Ort und Zeit spielt in meinem gesamten Werk eine bedeutende Rolle. Ich setze mich stark mit künstlerischen Parametern auseinander, die auch für die 1960er Jahre charakteristisch waren wie der Prozess, also Zeit, Handlung, Aktion und Spur, die die Statik der damaligen Kunst aufgebrochen und sie so noch mehr an den Faktor Zeit gebunden haben. 1996 habe ich als künstlerische Aktion einen Hund die vier Ecken des Ausstellungsraums markieren lassen, was für mich eine räumliche Beschreibung, eine Skulptur ist.
Welche Arbeit zeigt das am deutlichsten?
Ein anderes Beispiel ist meine relativ kleine Werkgruppe I Love Kreuzberg von 2006: Für mich ist Kreuzberg vergleichbar mit der uncharmanten Direktheit von rohem Aluminium. Daher habe ich unbearbeitete Formen aus Aluminium in einer Aktion zu Fuß und mit dem Auto durch den Stadtteil gezogen, sodass Kreuzberg seine Spuren auf dem Werk hinterlassen hat. Auf diesem von mir gewollten Abgeben und der Straße/dem Zufall das Ergebnis überlassen begründet sich so etwas wie meine eigene Form einer raum-zeitlichen Bestandsaufnahme und Standortbestimmung.
Ähnlich ist es ja auch bei deinen Werkmedien – was macht die Verbindung von Bildhauerei und Malerei für dich aus?
Die Verbindung befreit die beiden Genres von formalen und inhaltlichen Einschränkungen und macht sie damit für mich zu den idealen „Trägern“ meiner künstlerischen Ideen. Die amerikanische Kunst der 1960er und der Neo-Geo der 1980er sind für mich in diesem Zusammenhang sehr wichtig, da beide Kunstrichtungen mein künstlerisches Schaffen stark beeinflusst haben. In den 60er Jahren stand die radikal reduzierte industrielle Antiästhetik der Minimalisten im extremen Kontrast zur plakativen figurativen Ästhetik der Pop-Art. Trotzdem strebten sie ähnliche Inhalte und gesellschaftskritische Ziele an, die sich durch die beiden Kunstrichtungen gemeinen neuen formalen Parameter wie Raster, Serialität, Farbintensität etc. am besten ausdrücken ließen.
Was folgt daraus?
Das Produkt von Minimal und Pop, der Neo-Geo der 80er Jahre verwendete eine ähnliche Strategie und machte die geometrische Abstraktion als universelle Sprache zu einem ästhetischen Überlebensmodell, mit dem seine Vertreter die künstlerische Handlungsfähigkeit innerhalb einer äußerst komplexen und sich ständig wandelnden Lebenswirklichkeit sichern wollten.
Wie sieht ein typischer Tag im Atelier für dich aus?
Meine Ateliers sind für mich Orte, an denen ich in Ruhe meine künstlerischen Ideen entwickeln kann, dabei höre ich meistens Musik. Das ist der Rahmen, in dem der kreative Vorgang stattfindet. Es gibt Tage mit wenigen Mitarbeitern, die sind kreativer, andere mit vielen Mitarbeitern, die sind eher produktiver. Für mich sind die Ateliers Testlabore, in denen ich an großen Tischen planen und mit neuen Ideen experimentieren kann. Ich skizziere meine Entwürfe mit collagenhaften Pappmodellen, weil ich gleich sehen möchte, ob sie auch im Raum funktionieren und ob die Proportionen stimmen. Dieses Direkte und Schnelle meines Handelns entspricht meiner Vorgehensweise. Was mir nach eingehender Prüfung noch zusagt, wird dann maßstabgerecht in ein Architekturmodell eingebaut und realisiert.
Ist akkurate Planung notwendig für diese Art der künstlerischen Arbeit?
Ja, denn in Bezug auf die Arbeit in meinem Atelier bedeutet das, dass ich immer schon den nächsten Schritt mitdenken muss: Was ist in Produktion, was kommt in welche Ausstellung? Meine Atelierleiterin und Assistentinnen erledigen die weitere Organisation wie die Kommunikation mit den Galerien, den Mitarbeitern wie den Transporteuren, den Technikern und dem Fotografen. Das muss alles gut koordiniert sein.
Du arbeitest in mehreren Ateliers?
Ja, zwei Ateliers habe ich in Berlin: ein kleineres in der Stadt für Büro, Archiv und Planung, und eine große Atelierhalle im Süden von Berlin. Dazu kommt noch ein weiteres in Italien.
Was passiert in den unterschiedlichen Ateliers, und inwiefern inspiriert dich Italien?
Wir arbeiten in drei Ateliers. Das Stadtatelier in Berlin Schöneberg ist vor allem Ort der Planung und Verwaltung und beinhaltet mein Archiv. Im Süden von Berlin haben wir eine große Atelierhalle für die Präsentation der Werke und das Lager. Das Atelier in Italien besteht aus mehreren Räumen in einem historischen Bauensemble von 1792. Die Räume dort funktionieren mehr im Sinne eines studiolo, wo ich meine experimentelle Arbeitsweise anwenden kann. Dort werden Ideen zuerst ausprobiert und anschließend Werkgruppen weiterentwickelt.
Welche Rolle spielt die Verbindung von Mensch und Konstruktion in deinem Werk?
Als junger Mensch entscheidest du dich früh, ob du abbildest oder ob du konstruierst. Ich habe mich für letzteres entschieden. Mir geht es immer um das Größenverhältnis zwischen Mensch und Kunstwerk, seine Betrachtung, sein Gegenüber. Das, was man sieht, ist ja nicht absolut, sondern von zufälligen zeitlichen und räumlichen Faktoren der Wahrnehmung abhängig. Besonders deutlich wird das bei den Verstärkern und großformatigen set, bei denen auch das Thema Gleichzeitigkeit eine gewisse Rolle spielt: Auf den spiegelnden Oberflächen dieser Arbeiten kann der Mensch die Welt zugleich simuliert und real erfahren.
In deinen berühmten Schlüsselwerken, den schwarzen set verbindest du plastische und bildliche Erfahrungen. Wie geht das für dich zusammen?
Über den Prozess der Wahrnehmung versuche ich, den Betrachter in meine Untersuchungen zur Bildlichkeit einzubinden. Ich mache nicht mehr „das Gemälde“ oder „die Skulptur“ im traditionellen Sinne, sondern zu formenden skulpturalen Raum und Projektionsflächen für Bilder, in der die eigentliche Bildfindung proaktiv vom Betrachter geleistet werden muss. Vor allem, wenn man vor großformatigen set steht, wird deutlich, wie stark sie mit Fläche und Raum, Licht und Dunkel arbeiten. Ihre tiefschwarzen, reflektierenden Flächen absorbieren den Blick und lassen illusionistische Tiefenräume aus der Fläche entstehen. Mit diesen Werken ist es mir gelungen, die Idee von Bild und Raum auf für mich ideale Weise zu verbinden.
An welchen aktuellen Projekten arbeitest du im Moment?
Gerade plane ich neue Werkgruppen für die nächsten Ausstellungen. Parallel dazu bereite ich den Umbau meines Stadtateliers in Berlin und das Konzept für einen Skulpturenpark in Italien vor.
Welche zukünftigen Ausstellungen erwarten uns?
In diesem Jahr wird es mehrere Museumsprojekte geben. Im Frühling eine Ausstellung in Madrid bei der Galerie Casado Santapau. Später in diesem Jahr plane ich Ausstellungen in Neuseeland und Australien. Im Herbst folgt dann meine zweite Einzelausstellung bei der Galerie Wentrup in Berlin. Außerdem arbeite ich an einem spannenden Museumsprojekt in Berlin, das parallel zu der Ausstellung bei Wentrup in diesem Herbst stattfinden wird.
Bald findet die Kunst-Biennale in Venedig statt. Wird von dir auch etwas zu sehen sein?
Meine Berliner Galerie Wentrup eröffnet zur Biennale eine zweite Galerie in Venedig. Es werden mehrere Arbeiten zu sehen sein, auch eine Steinskulptur aus italienischem Marmor im Außenbereich.
Deine Kunst ist allgemein sehr frei von konkreten Referenzen. Siehst du dennoch eine Form von Auftrag?
Realität und Kunst teilen sich die gleiche Gegenwart, weshalb ich mich einer gewissen gesellschaftlichen Verantwortung nicht entziehen kann, das ist mir bewusst, und ich nehme die Verantwortung an. Jede künstlerische Arbeit ist ein Statement und daher in ihrer Konsequenz politisch. Ich möchte durch meine künstlerische Arbeit einen geistigen Freiraum erschaffen, der zum Nachdenken anregt, ohne mich auf Themen und Aussagen festzulegen.
Interview: Kevin Hanschke
Fotos: Patrick Desbrosses