Die nordeuropäische Szene für zeitgenössische Kunst entwickelt neue Dynamiken und wird zunehmend von internationalen Sammlern beobachtet. Mit den Nordic Notes lenken wir regelmäßig den Blick auf die nordische Kunst- und Kulturszene und stellen ihre wichtigsten Akteure vor.
Seit mehr als zwanzig Jahren hat Heikki Marila in seiner Arbeit ein weitgefächertes Spektrum von Themen – von biblischen Motiven, Selbstportraits, wackligen vertikalen Linien, Blumenbildern in Anlehnung an die niederländische Stillebenmalerei des 16. und 17. Jahrhunderts bis zu Stadtplanansichten – bearbeitet. Seine Arbeit bezieht Inspiration aus der Kunstgeschichte, in seinen neueren Gemälden aber auch aus dem lutheranischen Protestantismus. Seine Gemälde haben etwas extrem Körperliches, das oft einen übertriebenen Sinn für Drama, aber auch Ironie ausstrahlt. Üppige Farbschichten kaschieren starke soziale Botschaften und Gefühle. Wir saßen mit Heikki in seinem Atelier in Turku, im Südwesten Finnlands, zusammen und unterhielten uns mit ihm unter anderem auch über seinen bedeutendsten Gemäldezyklus, die Blumengemälde und seinen künstlerischen Beitrag zur Hundertjahrfeier Finnlands.
Heikki, dein Name wird meist mit deinen großformatigen Blumenstillleben verbunden. Wie kommt ein zeitgenössischer Künstler wie du dazu, sich einem so traditionellen Motiv zu widmen?
Es war ein langer Prozess bis ich bei den Blumengemälden angekommen bin. Ja, warum wollte ich Blumenbilder malen? Weil Blumenstillleben zu den populärsten Motiven der Kunstgeschichte zählen. Ich glaube, jeder finnische Maler hat zu irgendeiner Zeit in seiner Karriere einmal Blumen gemalt. Das Motiv an sich ist ziemlich banal, und heute sind Blumenbilder besonders in der zeitgenössischen Kunstszene als Kitsch verpönt.
Was war der auslösende Moment für dich, deinen Blumenbilderzyklus zu beginnen?
2004 oder 2005 traf ich die Entscheidung Blumen zu malen. Ich hatte die Gemälde der niederländischen Maler des 16. und 17. Jahrhunderts gesehen und irgendetwas ließ mich daran hängen bleiben. Ich entschied mich, diese wunderbaren alten Meisterwerke auf meine Art zu malen.
Was hat dich an diesen alten Werken mit ihren dicken Schichten von Ölfarbe denn so fasziniert?
Die alten Meisterwerke enthielten sehr viele Details und Symbole, viele, häufig politische, Bedeutungen, die sich einem Laien meist entziehen. Solche Gemälde wurden üblicherweise von wohlhabenden Menschen in Auftrag gegeben, die von dem Künstler verlangten, Verweise auf ihr Wohlergehen und ihren sozialen Status im Gemälde zu verewigen. Meine Arbeiten haben immer eine politische Dimension und enthalten soziale Botschaften. Also hat mich das wirklich interessiert. Ich wollte diese grundsätzliche Idee, Details und Bedeutungen einzuarbeiten, die nur bei intensivem Studium der Gemälde sichtbar werden, weiterführen.
Gibt es ein weitverbreitetes Missverständnis in Bezug auf deine Blumenbilder? Wie ihre Vorgänger in der Kunstgeschichte könnte man auch sie als „Kitsch“ abtun.
Als ich mit den Blumenbildern begann, wollte ich auf unkonventionelle Weise schöne Bilder malen, gleichzeitig aber auch einen Kontrast zwischen Blumenbild und Material herstellen, wobei ich betonen möchte, dass ich niemals wirkliche Blumen, sondern immer vorhandene Blumenbilder von Meistern des 16. und 17. Jahrhunderts gemalt habe, und das macht den Unterschied. Ich habe immer versucht, auf vorhandene Formen zurückzugreifen, denn das gibt mir die Freiheit, das Wesen der Malerei wirklich zu erkunden.
Welche Details und Botschaften verbergen sich denn in deinen zeitgenössischen Versionen dieser Blumenstillleben?
Die Details entstehen durch die Art und Weise wie ich male, durch den Prozess, der dadurch sichtbar wird. Einige Stellen können wie Dreck erscheinen, sie können aber auch eine schöne Blume darstellen. Mit anderen Worten, das Material Ölfarbe ermöglicht verschiedene Deutungen je nachdem, wie man es verwendet. Der Akt des Malens involviert eine Diskussion zwischen mir, meiner Zeit und den Ereignissen einer bestimmten Zeitperiode.
Wie bist du auf Ölfarbe als Material deiner Wahl gekommen und warum ist sie es in den 25 Jahren deiner Malerkarriere geblieben?
Ich habe schon an der Akademie mit Ölfarben gemalt. Wenn man mit Öl malt, hat man mehr Zeit Änderungen vorzunehmen. Außerdem verändert sich die Farbe nicht mehr, wenn sie trocknet. Es hat mich schon immer interessiert, mit dem Potential der Ölfarbe als Material zu experimentieren. Die Periode der Kartenbilder, die dem Zyklus der Blumenmalerei vorausging, war wie ein Laboratorium, in dem ich verschiedene Arten mit Ölfarbe zu malen testen konnte. In meinem Fall ist es fair zu sagen: zuerst kam das Material und darauf aufsetzend habe ich Themen entwickelt. Mich beschäftigte die Frage: Was kann ich mit diesem Material ausdrücken? Zuerst habe ich noch gedacht, ich könnte mit den politischen Themen, die ich in den 1990er Jahren verfolgt habe, weiter machen. Aber ich habe diese Idee allmählich aufgegeben und meiner Malerei freien Lauf gelassen, sich grundlegender zu entwickeln. Ich habe es tatsächlich geschafft loszulassen und mich ganz auf das Material zu konzentrieren. Das Material und die Art, wie ich male, gehören essentiell zusammen.
Kannst du beschreiben was passiert, wenn du vor der Leinwand stehst und Farbe aufzutragen beginnst?
Ich habe seit 1988, seit ich zur Schule ging gemalt und gelernt mich selbst zu beobachten. In dieser Zeit lernte ich wichtige Dinge über mich selbst, die heute noch relevant sind, nämlich was für eine Persönlichkeit ich bin und wie mein Verstand arbeitet, wenn ich male: Zuerst entsteht ein Bild in meinem Kopf und dann nähere ich mich der Leinwand. Dieser Prozess kann dauern und Wendungen und Veränderungen beinhalten. Der Prozess entwickelt sich, fast wie ein Fluss. Aber meist arbeite ich eher schnell.
Dein ausdrucksvoller kräftiger Farbauftrag wurde schon als „Kampf zwischen Künstler und Leinwand“ beschrieben. Ist es wirklich ein so intensiver und Energie zehrender Akt wie es im fertigen Gemälde erscheint?
Es mag so aussehen, aber für mich ist es nie ein Kampf. Es ist eher ein unterhaltsames Spiel, ein Spiel mit dem Material und der Leinwand. Wäre es ein Kampf, sollte ich die Malerei wohl lieber aufgeben. (lacht)
Wie trägst du eigentlich diese dicken Brocken Ölfarbe auf die Leinwand auf?
Als ich mit der Blumenmalerei begann fing ich an, meine Finger und Hände zu benutzen. Davor habe ich mit Pinseln, Silikonspachteln und Stöcken gearbeitet. Du kannst wirklich mit Allem malen. Aber ich spürte immer diese Distanz zwischen der Leinwand und mir. Ich suchte einen unmittelbareren und intimeren Kontakt mit dem Material und der Leinwand. Meine Hände zu benutzen erschien mir da ganz natürlich.
Wie sieht ein normaler Arbeitstag in deinem Atelier aus?
Ich versuche früh dort zu sein, so gegen zwischen 10 und 11 Uhr morgens. (lacht) Manchmal beginne ich gleich mit der Arbeit, manchmal denke ich noch mal über das, was ich am Vortag gemacht habe nach und entscheide dann wie ich weiterarbeite. Ich arbeite nicht nach einem bestimmten Zeitplan. Als ich den Blumenbilder-Zyklus malte, arbeitete ich wirklich Tag und Nacht. Ich vollendete jede Leinwand in einem Zug, solange die Ölfarbe flüssig war und ich sie noch manipulieren konnte. In diesem Fall war es der Prozess der den Arbeitsplan bestimmte.
Ich muss ehrlich sagen, beim Betreten deines Ateliers waren wir voller Hoffnung, überall an den Wänden Blumenbilder vorzufinden. Tatsächlich hängt kein einziges Blumenbild hier.
Es tut mir leid, dass ich euch enttäusche, aber meine letzten Blumenbilder habe ich im Januar 2012 gemalt. (lacht) Naja, nicht ganz! Letztes Jahr habe ich nochmals an vier gearbeitet.
Erzähl uns etwas über deine Einzelausstellung “Blumen und Teufel” in der Kunsthalle Helsinki im Jahre 2014 – bis dahin war das deine umfassendste Ausstellung deines Schaffens.
Die in der Blumen und Teufel-Ausstellung gezeigten Werke wurden alle zwischen 1994 und 2012 fertig gestellt, einschließlich der Blumenbilder. Es war großartig, einige meiner Gemälde, die ich zehn Jahre nicht zu Gesicht bekommen hatte, dort wieder zu sehen. Viele Arbeiten waren Leihgaben aus Dänemark und Schweden, und natürlich aus finnischen Museen und Privatsammlungen.
Wurdest du irgendwann müde, das gleiche Thema immer wieder zu malen, um die Anfragen von Sammlern nach Blumenbildern zu bedienen?
(lacht) Ob ich es Leid bin? Nein, eigentlich nicht. Aber es gibt einfach zu viele andere Themen, die ich noch malen möchte. Es geht also eher um die mir zur Verfügung stehende Zeit. Es kann sein, dass ich in Zukunft wieder Blumenbilder malen werde, aber vielleicht nicht mit der gleichen Intensität. Manchmal ist es gut, nach ein paar Monaten oder Jahren zu etwas zurückzukehren, nachdem man die Gelegenheit hatte, sich auf andere Themen zu konzentrieren. Oft entdeckt man etwas Neues, zum Beispiel welches Material zu benutzen oder welche Art (Blumen-)Bild man malen könnte. Anfang 2017, hatte ich eine Ausstellung in der neuen Galerie von Forsblom in Stockholm, für die ich zwei Stillleben von Früchten auf einem Silberteller von den niederländischen Malern Abraham van Beyeren und Willem Claeszoon Heda aus dem 17. Jahrhundert adaptierte und von jedem mehrere Variationen malte. Und obwohl es eine ganz offensichtliche und klare Verbindung zu den Blumenbildern gab, empfand ich sie als eine Weiterentwicklung in Bezug auf meinen früheren Werkzyklus.
Während des gesamten Jahres 2017 stand die Unabhängigkeit Finnlands von Russland im Mittelpunkt und es wurde überall „100 Jahre Finnland“ gefeiert. Es gab viele Kooperationen mit den Künstlern des Landes und auch die kreative Szene war beteiligt. Hast du als einer der bedeutendsten finnischen Künstler auch einen Beitrag geleistet?
Ich wurde gebeten, den Umschlag für den Roman Der unbekannte Soldat zu entwerfen. Er schildert die Erlebnisse eines einfachen finnischen Soldaten in dieser kleinen höllischen Ecke des Zweiten Weltkriegs. Der Einband zeigt ein Portrait meines Großvaters, das ich von einem Portrait von ihm gemalt habe. Das Gemälde steht hier gerade im Atelier. Mein Großvater wurde 1910 geboren. Er war acht als der Finnische Bürgerkrieg tobte und kämpfte später als Soldat im Zweiten Weltkrieg, und überlebte. Es ist die Fortsetzug eines Werkszyklus, den ich 2016 begonnen hatte. Ich verwendete das Familienalbum als Vorlage für meine Gemälde, was ich zuvor noch nie getan hatte. Jedes dieser Gemälde enthält eine sehr persönliche „Schicht“ als Hintergrund in Schwarz-Weiß. Und dann gibt es eine weitere Schicht in Rot, die allgemeiner und abstrakter ist und dem kollektiven Gedächtnis Finnlands entspricht.
Was hat dich veranlasst, das Kapitel des Zweiten Weltkriegs und des Finnischen Bürgerkriegs für die „Einhundertjahrfeier“ Finnlands zu öffnen?
Ich würde sagen, wir haben nur nebulöse Erinnerungen an diese Zeit, und diese sind verschwommen oder auf willkürliche Anekdoten beschränkt. Dennoch fühlen wir als Nation den Schmerz und es fällt uns schwer, darüber zu sprechen. Im Januar 2018 gedenken wir des einhundertjährigen Jubiläums des Finnischen Bürgerkriegs, der fast nahtlos auf die Erlangung unserer Unabhängigkeit am 6. Dezember 1917 folgte. Es war ein extrem brutaler Krieg zwischen den so genannten „Roten“, von Russland unterstützten linken Kämpfern, und den „Weißen“, die von Deutschland unterstützt wurden. Und, nach Aussage derer, die nach dem Krieg in Gefangenschaft starben, war es einer der schrecklichsten Kriege Europas. Verglichen mit Deutschland, wo das Trauma des Zweiten Weltkriegs nicht nur in der Literatur und in Filmen, sondern auch in der zeitgenössischen Kunst ausgiebig verarbeitet wurde, hat Finnland diesen brutalen Krieg zumindest in der zeitgenössischen Kunst noch nicht verarbeitet. Ich glaube, das ist der Grund dafür, warum das „Einhundertjährige Jubiläum“ so schwierig für Finnland ist. Es ist äußerst empfindlich, aber wichtig zu konfrontieren.
Du hast einmal auf den lutherischen Protestantismus als einen Einfluss auf deine Arbeit verwiesen, den du als eine Art „Betriebssystem“ der nordischen, und daher auch der finnischen, Kultur verstehst. Was hat es damit auf sich?
In finnischen Kirchen findet man diese alten Gemälde, in denen man den Einfluss von Künstlern aus der Zeit der Renaissance wiedererkennen kann. Einheimische Maler haben den Stil dieser alten Meister sehr unbeholfen nachgeahmt, aber der Einfluss ist unverkennbar. Finnland war in Bezug auf seine künstlerische Produktion sehr abhängig von äußeren Einflüssen, sie kamen am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts aus Frankreich. Es gab lange Zeit keine Kunstschulen in Finnland. Die frühste Kunstschule wurde 1835 in Turku gegründet. Für meine eigene Arbeit waren die Einflüsse deutscher Renaissancemaler wie Matthias Grünewald und Albrecht Dürer ebenso wie die Neo-Expressionisten aber wichtiger.
Wie bewertest du die Qualität von Kunstakademien in deinem Land?
Ich sehe einen großen Unterschied zwischen der künstlerischen Ausbildung in den 1980er Jahren, als ich selbst noch die Kunstschule besuchte, und heute. Ich bin ein Künstler der alten Schule, die noch in Farbtheorie und Bildkomposition geschult wurden. In finnischen Kunstschulen heute wird den Studenten weniger Zeit und Raum gegeben, diese grundlegenden Fähigkeiten zu erlernen. Die Tendenz geht zur Kunsttheorie. Ich würde nicht einmal sagen, dass das schlecht ist. Aber der Unterschied zwischen mir und den jungen Künstlern, die heute in den Kunstschulen ausgebildet werden, ist groß. Vielleicht ist es aber gut, ein paar Dinge aufzugeben und Veränderungen zu akzeptieren.
Du stammst ursprünglich aus Lahti im Süden Finnlands. Wie bist du nach Turku gekommen?
Ich verließ Lahti mit 22 und studierte in Turku. Danach zog ich in die kleine Stadt Hyvinkää in die Nähe von Helsinki. Ich bin dann noch einige Male umgezogen, denn es war wichtig, mit der Kunstszene in Helsinki, dem kulturellen Zentrum Finnlands, in Kontakt zu bleiben und die dort stattfindenden Ereignisse zu verfolgen. Aber ich wollte auch immer ein großes Atelier haben und das wäre in Helsinki sehr teuer gewesen. Im Jahre 2010 entschieden meine Frau und ich nach Turku zurückzugehen. Verglichen mit Helsinki ist Turku eine kleine Stadt, aber sie hat eine sehr lebendige Kunstszene.
Wie entspannst du dich und findest du neue Inspiration?
Ich unternehme eigentlich sehr viel. Ich liebe klassische Musik, ich lese Bücher, besuche Ausstellungen… Und ich finde Zeit ins Ausland zu fahren und dort Kunst anzusehen. Im letzten Sommer war ich natürlich auf der documenta 14 in Kassel und auf der Biennale in Venedig.
Da wir gerade über andere Leidenschaften als die Malerei sprechen: Es entgeht einem nicht, dass etwa ein Drittel deiner Atelierfläche als eine Art Fahrradwerkstatt dient. Teilst du deinen Raum mit einem Fahrradfan oder ist das auch eine deiner Leidenschaften?
Oh nein. Die Fahrräder gehören alle mir. (lacht) Ich bin schon in den frühen 1980er Jahren zum Spaß Straßenrennen gefahren. Meinen ersten Nishiki Roadmaster kaufte ich 1983. Seitdem fuhr ich Rad – manchmal mehr, manchmal weniger. Fahrräder sind einfach schön. Sie haben sich im Prinzip über die Jahre nicht verändert, aber es kommen ständig neue Materialien und faszinierende technologische Fortschritte auf den Markt. Mich interessiert Technologie im Allgemeinen, und so wurde ich süchtig.
Besucher deiner Webseite können einen Zeitrafferfilm sehen, der dich beim Malen im Atelier zeigt, immer wieder unterbrochen davon, wie du wie ein Irrer auf einem Rad im Kreis fährst. Muss man sich Heikki Marila so bei der Arbeit vorstellen?
(lacht) Ja, diesen Eindruck könnte man leicht gewinnen, aber nein. Ich arbeite wahrscheinlich etwas fokussierter als das. Aber ich halte es für wichtig, auch andere Sachen machen zu dürfen, wenn ich in meinem Atelier bin. Für mich sollte ein Atelier ein Ort sein, an dem man gerne Zeit verbringt und die Dinge tun kann, die man gerne macht und das muss nicht immer Kunst sein.
Was wird 2018 Neues für dich bringen?
Eine Menge Arbeit. Ich hoffe, es wird wieder ein spannendes Jahr.
Fotos: Florian Langhammer
Interview: Florian Langhammer