Die nordeuropäische Szene für zeitgenössische Kunst entwickelt neue Dynamiken und wird zunehmend von internationalen Sammlern beobachtet. Mit den Nordic Notes lenken wir regelmäßig den Blick auf die nordische Kunst- und Kulturszene und stellen ihre wichtigsten Akteure vor.
Helena Kauppila ist eine Mathematikerin, die zur bildenden Künstlerin wurde. Ihr Arbeitsprozess ist stark von der Mathematik, den Neurowissenschaften und den Beobachtungen der Natur – drinnen wie draußen – beeinflusst. Kauppila sieht Bilder als lebensbejahende Gebilde, die unmittelbar und kontinuierlich mit dem Betrachter und der Situation im Raum reagieren. In dieser letztlich unschätzbaren Interaktion, die oft nur subtil zu spüren ist und nie vollständig durch Konzepte oder Formeln erklärt werden kann, findet Kauppila sowohl den Reiz als auch den Wert der Kunst.
Helena, du hast zunächst Mathematik und Naturwissenschaften studiert, bevor du dich der Kunst zugewandt hast. Wie kam es zu dem Wechsel von der Naturwissenschaft zur Kunst?
Es gab mehrere Ursachen. Ich wollte zeigen, was ich in meiner eigentlichen Profession, der Mathematik, mache. Ich hatte immer Schwierigkeiten, Freunden und Familie zu erzählen, was ich mit den Zahlen anstelle, warum alles so abstrakt ist und warum ich überhaupt Mathematikerin geworden bin. Und irgendwie kam dann der Gedanke, malen zu lernen und Bilder neben die Mathematik und meine Forschung zu stellen, damit Leute verstehen, worum es geht. Ich habe dann auch meine Doktorarbeit wie einen Coffeetable-Bildband illustriert.
Worauf genau beruht denn deine Faszination, Kunst und Wissenschaft miteinander zu verweben?
Ich liebe Wissenschaft, und es macht mir wahnsinnig Spaß, interdisziplinär zu denken. Ursprünglich hatte ich, wie eben erwähnt, mit Malerei angefangen, um die Kreativität im Wissenschaftsprozess zu veranschaulichen und zu zelebrieren. Und das ist auch immer noch in mir drin. Ich benutze oft Teile des wissenschaftlichen Prozesses und setze diese in meiner Kunst um. Datenstücke, Genmodule und vieles andere. Es ist aber keine Illustration, sondern Inspiration. Es gibt viele Themen in der Wissenschaft, die uns alle interessieren. Wir erleben einen Paradigmenwechsel in vielen Feldern: unter anderem die Gentechnik, das Leben auf der Erde, den Klimawandel, die Beziehung mit der Natur. Wir erleben gerade die Entstehung vieler guter, aber auch vieler schlechter Innovationen. Die Entwicklung von Leben, Fragen der Astronomie … Meine Kunst ist geprägt von einem wissenschaftlichen Blick auf das große Ganze. Was heißt es, ein Mensch oder ein Individuum zu sein?
Ein sehr philosophischer Ansatz.
Absolut. Ich finde ja, dass wir sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft immer mit diesem Wechselspiel zwischen Individualismus und dem Dasein in einem System konfrontiert sind. Ich male allein und bin dennoch Teil eines großen gesellschaftlichen Systems. Es bewegt mich, zu ergründen, was individuelles Leben im System der Gesellschaft bedeutet. Corona hat das ja gezeigt. Jeder trägt eine Maske, um den anderen zu schützen. Jedes Glied des Systems beeinflusst das Gesamtsystem. Das ist die Essenz von Wissenschaft und auch von Kunst. Und genau diese Frage möchte ich ergründen. Ich bin Teil der Gesellschaft, und was passiert, wenn ich eine Handlung ausführe.
Dienen für dich eigentlich eher wissenschaftliche Autoren oder andere Kunstschaffende als Quellen der Inspiration?
Eher Wissenschaftler! (lacht) Durch meine Forschungsarbeit habe ich, wenn ich male, im Unterbewusstsein immer viele wissenschaftliche Gedanken und das Mindset der Mathematik. Die Komplexitätstheorie prägt mich am meisten.Es geht dabei um die Zusammenwirkung einzelner Elemente im Gesamtsystem. Ameisen sind ein gutes Beispiel dafür. Sie bilden ein vielschichtiges Gesellschaftssystem und bauen Städte von unglaublicher Komplexität. Und alles basiert auf chemischen Prozessen. Wege entstehen völlig intuitiv. Sie folgen relativ einfachen Schritten. Das wird jetzt auch in der Architektur genutzt. Es ist etwas so Einfaches, aus dem so viel entstehen kann. Unsere Gesellschaft funktioniert im Prinzip auch nach diesen intuitiven Schritten, wird aber auch von Politik und Regeln geprägt, die diese Intuition einhegen.
In deiner Kunst interessierst du dich also für das Wissenschaftliche an solchen komplexen Systemen.
Genau. Ich finde es spannend, dass man den Bau einer solchen Ameisenstadt am Computer modellieren kann. So was gibt mir auch Inspiration für meine Kunst. Solche Ameisenstädte entstehen nur durch kleine Impulse, und diese Impulse gibt es auch in meinem künstlerischen Prozess. Das ist ein Zwischenspiel zwischen der einfachen Idee, dem intellektuellen Gedanken und der Intuition sowie der Frage, in welchem System ich gerade arbeite. Ich will intuitiv sehen, was passiert.
Wie läuft denn der künstlerische Prozess bei dir ab? Ist dieser auch immer so intuitiv?
Das ist sehr unterschiedlich. Meine Arbeitsweise kann sehr strukturiert und reflektiert sein, mit einem klaren philosophischen oder wissenschaftlichen Ansatz, wie zum Beispiel bei einer Werkreihe von mir, die sich mit Gentechnik beschäftigt und gerade im Finnland-Institut ausgestellt wird. Für Werke wie Tree of Life, LUCA oderElementary Particles habe ich Gene aufgeschlüsselt, decodiert und ihnen eine Farbe gegeben. Das war ein sehr systematischer Prozess. Diese Art, zu arbeiten, gibt mir ein ganz anderes Gefühl, als wenn ich künstlerisch improvisiere, was ich allerdings auch häufig mache. Jedes Pigment in diesem Bild tritt in Wechselwirkung mit dem anderen. Diese Elemente aus der Natur sind nicht-menschliche Elemente und ich arbeite mit ihnen. Und bei dieser Arbeit kombiniere ich sie mit meiner eigenen Intuition und meiner künstlerischen Sprache. Dabei entsteht etwas Neues. Ich male häufig auch erst Studien, bevor ich so etwas auf die Leinwand banne. Bei manchen Bildern ist das ein sehr langer Prozess, die Nachforschung, die Reflexion, das Malen.
Warum hast du gerade die Malerei als künstlerische Sprache für dich entdeckt?
Ich denke in Farben und lasse mich von meiner körperlichen Intuition führen. In der Malerei kann ich mit Schichten arbeiten und dadurch Vielfalt und Emotionen ausdrücken. Die Farbschichtung und das Zusammenwirken von Pigmenten kreiert sehr interessante, expressive Kunst. Malerei ermöglicht mir zudem, lange an einem Werk zu arbeiten und es immer wieder zu verändern. Das Übermalen hilft auch dabei, vorherige Ideen zu verstecken. Ich habe so viele Ideen, die sich im Raum verbergen oder strahlen. Die Malerei ist ein tolles Instrument dafür. Dann hat es bei mir viel mit dem Körperlichen und Physischen zu tun. Ich könnte niemals digital arbeiten. Auch in der Mathematik habe ich immer alles ausgedruckt oder mit Bleistift berechnet. Es gibt so viele Mathematiker, die es verabscheuen, mit dem Computer zu arbeiten. Ich kann einfach nicht am Computer denken, wenn ich Kunst mache. Ich habe in meinem normalen Job schon so viel mit dem Computer zu tun. Das will ich nicht auch noch in meiner Kunst. Ich kann fertige Ideen am Computer in Präsentationen umsetzen. Aber der kreative Prozess davor, die Ideenfindung, funktioniert bei mir nicht digital. Ganz oft zeichne ich einfach mit dem Bleistift auf Papier und mache kleine Skizzen.
Körperlichkeit scheint in deiner künstlerischen Arbeit eine gewisse Rolle zu spielen. Auf deinem Instagram-Account kann man Tanzsequenzen von dir sehen.
Das stimmt. Seit Corona tanze ich jeden Morgen, bevor ich mit dem Malen beginne. Oft nur wenige Minuten, die ich dann auf Instagram poste. Ich lasse mich dabei filmen, um zu sehen, was ich beim Malen fühle. Ich bin keine Tänzerin, aber es geht mir um die Expression im Atelier. Der Gedanke, wie wir als Menschen und Künstler Räume erfassen und Räumlichkeit wahrnehmen, ist sehr spannend.
Malerei zeichnet sich für mich durch körperliche Bewegungen aus, die bedeuten, ein Mensch zu sein. Das möchte ich erläutern. Ich fühle mich dabei so lebendig. Das ist wie mit dem Tanz. Er gibt einem Kraft. Die Ideen entstehen in meinem Körper und ich will sie mit voller Wahrnehmung umsetzen. Malerei ist Teil des Ausdrucks. Meine Werke sind nicht so geplant oder konzipiert.
Kannst du das anhand eines deiner Werke genauer erklären?
Ich denke da zum Beispiel an die Bilder aus meiner Serie Berlin Parks, wie dieses hier vom Volkspark Humboldthain, eine Tusche-auf-Papier-Arbeit, die nach der Philosophie von „Emerging Systems“ entstand. Ich bin dafür jeden Morgen in diesem Park gelaufen. In meinem Unterbewusstsein entstand die Idee von diesem Park und dem zentralen, offenen Platz, den ich hier gemalt habe. Am Morgen ist das Licht dort besonders schön und jeden Tag habe ich die Eindrücke aufgenommen. Es ist überhaupt nicht komponiert. Ich hätte diesen Prozess fotografieren sollen. Hier ist ein weiteres Bild, vom Fennpfuhlpark. Da habe ich ganz am Anfang von meiner Berliner Zeit gewohnt und immer das Gefühl gehabt, dass ich dort mit Papier malen sollte. Ich habe dann einfach für fünf Euro Papier gekauft und losgezeichnet. Der kleine See ist da im Zentrum. Ich habe jeden Tag eine Nuance von Blau hinzugefügt. Wieder das große System, was von den kleinen Dingen, den Nuancen geprägt wird.
Du lebst und arbeitest in Berlin und hast dein Atelier in Berlin-Weißensee. Was macht dieser Ort mit dir?
Weißensee ist der perfekte Ort, um sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. In New York hatte ich Atelierräume im Stadtteil Dumbo unter der Brooklyn Bridge. Das war mitten in der Stadt. Alles war extrem laut und aufwühlend. Es war direkt neben dem U-Bahn-Viadukt. Manchmal fehlen mir aber diese „Sounds of the City“. Ich habe auch überlegt, ob ich mehr mit Klang arbeiten sollte. Hier in der Umgebung haben sich die Geräusche verändert, das versuche ich gerade zu erforschen.
Die Stadt an sich ist also auch eine Quelle für deine Kunst?
Ja auf jeden Fall, und Berlin ganz besonders, weil es urban und voller Natur zugleich ist. Wieder kleine Elemente, die in einem großen System der Stadt miteinander verbunden sind. Ich bin viel in der Natur unterwegs. In New York war es das Wasser, was mich immer mächtig angezogen hat. Sehr viele Werke sind davon geprägt. In Berlin inspirieren mich die Parks und die grünen Bäume. In der aktuellen Ausstellung im Finnland-Institut hängt ein Werk mit dem Titel Light Translation Device, Everyday Tree, das sich mit Bäumen und Licht im Winter beschäftigt. Das Licht hat viele Farben und durch die Äste der Bäume ist der Himmel sichtbar. Wenn man durch eine Allee voller Winterbäume flaniert, wird das Licht auf besondere Weise gebrochen, und genau das wollte ich mit dem Bild einfangen.
Welche Arbeit war deiner Meinung nach die bisher wichtigste in deinem künstlerischen Schaffen?
Es gibt immer wieder Arbeiten, die in einem bestimmten Moment wichtig für mich sind. Ich habe vor vielen Jahren eine Künstlerdiskussion mit Joan Greenbaum angehört, die mich sehr geprägt hat. Sie meinte, dass sie die ersten zwanzig Jahre nur Schrott gemalt hat und dass es wichtig sei, alles abzulassen, um dann gut zu malen. Ich mag schon einige meiner frühen Werke. Es gibt sogar einige ganz frühe Werke, die ich sehr mag und wo Leute mich fragen, ob ich die noch einmal reproduzieren könnte. Ich will mehr als zwanzig Jahre Schrott malen, das ist Teil meines Schaffens. Es entstehen fantastische und schlechte Bilder, oft gleichzeitig. Ich will immer Schrott malen dürfen, haha.
Beobachtest du eigentlich, dass du mit deinem wissenschaftlichen Hintergrund als Kunstschaffende manchmal anders wahrgenommen wirst?
Viele hinterfragen meine Arbeit, weil ich ja von außerhalb und nicht direkt aus dem Kunstbetrieb komme. Es gibt irgendwie immer Leute im Raum, die fragen, warum ich Kunst mache oder ob es hobbymäßig oder aus Langeweile ist. In dieser Beziehung war meine Residency in Istanbul im Winter 2019/20 wirklich eine super Erfahrung – in einem Umfeld zu sein, wo es nur um Kunst ging. Alle hatten das Motto „of course art“ und waren offen gegenüber meiner Kunst. Das war sonst oft nicht so.
An welchen Bildern arbeitest du im Moment? Was sind deine Projekte für dieses Jahr?
Ich habe zwei Projekte und Themen. Körperlichkeit und Complex Systems. Meine Arbeit Complex Systems von 2011 ist die erste Arbeit aus einer Reihe und beschäftigt mich seitdem sehr. Ich habe damals den Begriff bei einer Diskussion aufgeschnappt und dann einfach gegoogelt und dabei alles über die Ameisen und ihre komplexen Wechselwirkungen, aber auch das System als Lebensphilosophie entdeckt. Die Beziehung zwischen Gliedern im System oder die Regeln, die wir aufstellen, haben mich immer begleitet. In Berlin habe ich weniger an dieser Werkserie gearbeitet, weil ich Bilder auch über mehrere Jahre immer wieder verändere und mich hier neuen Projekten widmen wollte. Aber durch Corona habe ich begonnen, mich wieder sehr stark mit der Werkserie zu beschäftigen. Da stecken so viele Ideen drin. Ich will den Prozess jetzt filmen und meine Körpersprache beim Malen aufzeichnen, um zu sehen, welche malerischen Gesten authentisch sind und welche nicht. Ich glaube, der Körper weiß ganz genau, welche künstlerische Intuition und die sich daraus ableitende Geste gut für ihn ist und welche nicht. Kunst ist intuitiv. Wenn ich in meinem Körper ruhe, kann ich besser malen.
Die zweite Serie, an der ich momentan arbeite, beschäftigt sich mit Gentechnologie. Diese Serie habe ich 2018 angefangen. Muster, Strukturen, Zahlen sind die Leitmotive. Diese Werkreihe funktioniert viel systematischer. Aber beide Serien sind dennoch eng verbunden. Wenn ich an den Systemen der Gentechnik arbeite, ist das oft beim Malen im Großformat ein sehr körperlicher Prozess. Wenn ich zu viel daran arbeite, geht es meinem Körper nicht gut, es wird beklemmend. Und dann bin ich blockiert und muss zur anderen Serie wechseln. Aber durch diese körperliche Reaktion erhalte ich die malerische Geste, die ich für die erste Serie benötige. So befruchten sich beide Projektserien.
Interview: Kevin Hanscke
Fotos: Nora Heinisch