Der französische Künstler Jean-Marie Appriou arbeitet mit verschiedenen Materialien wie Ton, Bronze und Glas, um immersive Skulpturen zu schaffen, die mythologischen und surrealistischen Landschaften gleichen. In seiner prozessorientierten Praxis untersucht er unter anderem mythologische Stoffe, das Unterbewusste und universelle Erzählstrukturen. Der Künstler verbindet in den Skulpturen klassische Einflüsse mit zeitgenössischen Narrativen und schafft so eine Brücke zwischen seiner Achtung vor antiken künstlerischen Traditionen und seiner Faszination für Science-Fiction, sowie verschiedene Wahrnehmungszustände.
Jean-Marie, wolltest du schon immer ein Künstler werden?
Ich wollte schon immer Künstler werden. Ich bin in der Bretagne an der Westküste Frankreichs aufgewachsen und war schon als Kind von Kunst fasziniert. Paul Gauguin, der nach seiner Zeit mit Van Gogh in dieser Region arbeitete, beeinflusste mich sehr. Ich wuchs in der Nähe von Pont-Aven auf und habe als Kind oft das dortige Museum besucht, um seine Gemälde anzusehen. Schon damals war mir klar, dass ich Künstler werden will. Ich hatte das Glück, dass mich mein Vater, der Bildhauer und Maler war, darin unterstützte. Er ließ mich in seinem Atelier experimentieren, wo ich sowohl mit Farben als auch mit Ton arbeitete. Außerdem hatte er einen Brennofen—ich konnte schon früh mit der Keramikarbeit beginnen, was ich bis heute gerne mache.
Also haben deine Eltern deine künstlerische Karriere von Beginn an sehr unterstützt?
Ja, meine Eltern haben mich während meiner Karriere immer unterstützt und begleitet. Meine Mutter war Volksschullehrerin und mein Vater Bühnenbildner. Ich bin in einer kreativen Welt aufgewachsen und war immer umgeben von Spaziergängen, Büchern, Museumsbesuchen und Kostümdesign.


Wo hast du studiert und was waren deine ersten Schritte als Künstler?
Ich verbrachte viel Zeit im Atelier meines Vaters, aber als ich zur Schule ging, lernte ich auch die Technik des Kupferstichs, was mir eine neue Perspektive auf Kunst eröffnete und eine Dimension jenseits von Malerei und Skulptur hinzufügte. Später ging ich an die École des Beaux-Arts in Rennes, wo ich einen Lehrer hatte, der mir half, über meine frühen Erfahrungen in der Bretagne hinauszuwachsen. Es ist schwer zu sagen, wann genau meine Reise als Künstler begann—es fühlte sich immer wie ein Teil von mir an. Während des Studiums hatte ich die Möglichkeit, kleine Ausstellungen in der Schule zu machen. Heute merke ich, dass es keinen klaren Anfangspunkt gibt. Es fühlte sich eher wie ein kontinuierlicher Fluss an—ein Fluss, der immer schon da war.
Wie hast du deine künstlerische Praxis entwickelt, für die du heute bekannt bist?
Nach meinem Abschluss zog ich nach Paris und begann, als Assistent für Künstler zu arbeiten, die etwa zehn Jahre älter als ich waren. Es war eine riesige Lernerfahrung. Ich erkannte schnell den Unterschied zwischen dem eher konzeptionellen und intellektuellen Fokus der Kunstschule und der praktischen Realität, ein Atelier zu führen und Werke zu schaffen, besonders in der Skulptur. Da ich mich sehr für Skulptur begeisterte, wusste ich, dass ich die praktische Seite verstehen musste, und die Arbeit mit diesen Künstlern gab mir genau diese Einsicht.

Und weiter?
Danach kehrte ich in die Bretagne zurück, um bei meinen Eltern zu wohnen. Zu dieser Zeit hatte ich weder eine Galerie noch ein Atelier oder genug Geld, um mich selbst zu unterstützen, also war es sinnvoll, zurückzukehren und mir einen eigenen Raum einzurichten. Ich baute meine eigene Gießerei, in der ich Aluminium- und Gusseisenkunstwerke herstellen, mit Gießtechniken experimentieren und meine Ideen entwickeln konnte, ohne auf eine Galerie angewiesen zu sein. 2014, kurz nach meinem Abschluss, wurde ich dann eingeladen, im Palais de Tokyo in Paris auszustellen. Diese Ausstellung erregte viel Aufmerksamkeit und war auch der Moment, in dem Jan Kaps, mein Galerist aus Köln, auf meine Arbeit aufmerksam wurde und begann, mich zu vertreten. Das war wirklich der Beginn des nächsten Kapitels in meiner Karriere.

Wie würdest du deine künstlerische Praxis in deinen eigenen Worten beschreiben? Was ist dir dabei am wichtigsten?
Meine Praxis hängt davon ab, täglich im Atelier zu sein—es ist wie das Training für eine:n Sportler:in. Die Arbeit dort fühlt sich fast meditativ an, wie eine spirituelle Praxis, aber nicht im religiösen Sinne. Jede Skulptur inspiriert die nächste, beginnend mit einem einzelnen Element, das sich zu verschiedenen Variationen entwickelt. Skulptur ist ein kollaborativer Prozess, und die Energie im Atelier hält die Ideen am Fließen. Oft sehe ich meine Arbeiten mit neuen Augen, wenn ich auf sie in Katalogen zurückblicke, wie das Wiederentdecken von etwas Neuem. Mein Prozess fühlt sich wie ein Fluss an, der stärker wird, je mehr neue Werke hineinfließen. Ich bin sehr inspiriert von dem Filmemacher Alejandro Jodorowsky, der sagte, dass in seinen Filmen das Werk der Meister und er der Schüler ist. Ich empfinde es genauso—jedes Stück lehrt mich etwas, und durch es wachse ich. In gewisser Weise bin ich ein Schüler meiner eigenen Arbeit.
Gibt es eine Person oder etwas anderes, das, beziehungsweise die deinen Ansatz zu Skulptur besonders beeinflusst hat?
Ich habe viel von meinen Professor:innen an der École des Beaux-Arts gelernt. Sie vermittelten mir die Grundlagen von Skulptur, die in der Antike, der Renaissance und dem Minimalismus verwurzelt sind. Einige meiner Lehrer:innen waren stark vom Minimalismus beeinflusst und hatten ihre Karrieren Ende der 60er und in den 70er Jahren begonnen. Sie gaben mir diese Verbindung weiter. Deshalb habe ich eine tiefe Liebe und Respekt für die minimalistischen Künstler:innen der 1970er Jahre. Ihre Beziehung zur Form hatte fast etwas Mystisches. Von dort aus wurde mir klar, dass ich darauf aufbauen oder sogar etwas Neues erschaffen konnte—die Figuration wieder ins Spiel bringen. Denn auf eine Weise hatte Minimalismus bereits die Türen geöffnet.



Gibt es, neben Minimalismus, bestimmte philosophische oder literarische Ansätze, die dein künstlerisches Denken beeinflussen?
Ich denke oft an ein Zitat von William Blake, das ich sehr mag: „Wenn die Pforten der Wahrnehmung gereinigt wären, alles würde dem Menschen so erscheinen, wie es ist— unendlich.“ Dieser Gedanke über Wahrnehmung und ihre Erweiterung, sei es durch Psychedelika oder veränderte Bewusstseinszustände, ist seit jeher Teil künstlerischer Erkundung. Auch in meiner Arbeit zur Stereoskopie kommt dieses Zitat zum Tragen. Träume zum Beispiel; wenn ich unbewusst Verbindungen zwischen Materialien oder Ideen herstelle, ist es, als würde ich Collagen erschaffen. Ähnlich wie bei Max Ernst, den ich sehr bewundere. Er nahm ein Stück Erde, machte eine Collage und schuf so unerwartete Assoziationen. Für das Gehirn ist es, als würde man Türen zwischen Welten öffnen. Genau das taten Dadaismus und Surrealismus—sie öffneten Türen für Künstler:innen.
Würdest du sagen, dass sich diese Vorstellung von miteinander verbundenen Welten auch auf deine Sicht von Geschichte erstreckt?
Ja, und heute, aufgrund der Fortschritte in der Physik, sprechen wir von Multiversen statt von einem einzigen Universum. Vielleicht sind Träume oder das Unbewusste tatsächlich Portale zwischen verschiedenen Realitäten. Wenn ich über die Geschichte der menschlichen Kreativität nachdenke, sehe ich sie nicht als gerade Linie vom prähistorischen Menschen bis heute. Für mich verläuft sie in Schleifen. Die Kunst unserer Vorfahren, der prähistorischen Menschen, ist genauso wichtig wie Michelangelo und die Renaissance—alles ist miteinander verbunden. Wir kommen immer wieder zu den gleichen Fragen, den gleichen Konzepten, den gleichen Ängsten zurück. Wir haben immer noch keine Antworten auf die Natur der Zeit. Einstein zeigte, dass Zeit relativ ist, und die Quantenphysik deutet auf die Existenz von Multiversen hin—für mich ist all das tief miteinander verknüpft.
Wie beeinflussen Wissenschaft und Science-Fiction deine Kunst?
Science-Fiction, Filme und Graphic Novels haben mich schon immer stark geprägt. Ich war schon immer fasziniert von avantgardistischen Filmemachern wie Alejandro Jodorowsky und Schriftstellern wie Alan Moore–From Hell, V for Vendetta und Watchmen haben meine Art, Narrative zu gestalten, beeinflusst. Autoren wie Moore und Lovecraft, zusammen mit dem „Boom“ des Anime, haben die Kultur meiner Generation geprägt. Aber auch klassische Literatur inspiriert mich immer wieder, besonders Figuren wie Frankenstein. Und das Kino, vor allem mit all seinen 3D-Innovationen, hat unsere Wahrnehmung der Welt komplett verändert. Auch wenn ich mit traditionellen Techniken arbeite, sprechen mich die Bilder aus Science-Fiction-Filmen jedes Mal wieder an.

Mit welchen Materialien arbeitest du meistens?
In meinem Atelier beginne ich mit Ton und forme ihn selbst. Dann übernehmen Clément und Raphaël den Guss, der in die Gießerei geht, um ein Wachsmodell zu erstellen. Wenn dasfertig ist, wird es in Gips eingeschlossen und mit einem Metall, wie Bronze oder Aluminium, ausgegossen—eine traditionelle Technik, ähnlich wie bei Rodin. Für meine Ausstellung 2023 bei Eva Presenhuber in Wien ließ ich mich von Rainer Maria Rilke inspirieren. Rilke, der als Dichter und Rodins „Sekretär“ bekannt war, schrieb über die Verbindung zwischen Skulptur und Schreiben. Wenn ich Rilke lese, besonders nach seiner Zeit mit Rodin, fühlt es sich an, als würde ich die Stimme eines Bildhauers hören. Für beide ist Ton grundlegend, und für mich ist das der Anfang von allem.
Wie beeinflusst die Arbeit mit Ton die Art und Weise, wie du über den zeitlichen Charakter deiner Arbeit denkst?
Meine Inspiration kommt aus dem Atelier, der Welt und sogar dem Kosmos. Wenn ich beginne zu modellieren, habe ich eine Idee, aber zunächst ist der Ton nur ein Block, ein geometrischer Klumpen. Dann forme ich daraus ein Gesicht oder einen Körper… Timing spielt dabei eine große Rolle—es gibt Licht, es gibt Wärme. Im Sommer muss ich zum Beispiel schnell arbeiten, weil die Sonne den Ton rasch austrocknet, also füge ich ständig Wasser hinzu. In gewisser Weise arbeite ich mit Erde, Wasser und meinen Händen. Das fühlt sich fast zeitlos an, wie ein Prozess, der jenseits einer bestimmten Zeit existiert. Wir sprechen oft von der Ursuppe, von Temperatur, Wasser und Enzymen—den Bedingungen, unter denen die ersten Zellen, das erste Leben entstanden sind. Aber vielleicht beginnt alles mit Ton. Es fühlt sich schützend an, und wenn ich ihn in den Händen halte, denke ich immer daran, dass ich damit Leben forme, die Zukunft gestalte.


Deine Figuren wirken oft, als hätten sie ein gemeinsames Narrativ. Wie baust du diese auf?
Ich nutze oft die Metapher des Theaters. Was mich daran immer fasziniert hat, ist die Vielfalt der Charaktere, und ich war schon immer ein großer Shakespeare-Fan. Ich habe viele Skulpturen erschaffen, die von Hamlet, Ophelia oder Macbeth inspiriert sind. Wenn ich einen Körper forme, gebe ich ihm eine Rolle—als würde ich ihn kostümieren, als Teil einer erzählerischen Inszenierung. Dieses Prinzip spiegelt sich auch in meiner Arbeit im Atelier wider—es ist, als würde ich selbst eine Rolle spielen. Es erinnert mich an meine Kindheit, als ich es liebte, mich zu verkleiden. Eines Tages sagte ich meinen Eltern, ich wolle ein Wikinger sein, am nächsten Tag ein Native American oder Cowboy. Als Kinder haben wir dieses Bedürfnis, jemand anderes zu sein; als Form des Spiels, als Möglichkeit, dem Alltag zu entfliehen. Genau so empfinde ich die Bildhauerei.
Deine Werke sind oft monumental und dennoch von einer gewissen Fragilität. Wie gehst du mit dem Verhältnis von Größe und Emotion in den Skulpturen um?
Ich arbeite in großen Dimensionen, manchmal bis zu sechs Meter hoch. Am Modellieren mit Ton gefällt mir besonders, dass es eine unmittelbare, handwerkliche Arbeit ist—etwas, das sich nicht immer fotografisch erfassen lässt. Die Hand als Maßstab spielt eine entscheidende Rolle: Egal ob die Skulptur fünf, sechs oder sieben Meter groß ist, die Spuren meiner Hände schaffen eine emotionale Verbindung zu den Betrachter:innen. Sie helfen, etwas Vertrautes wiederzuerkennen. Bei meiner Skulptur The Horses in New York habe ich bewusst Fingerabdrücke auf dem Mund und der Nase sichtbar gelassen—das verleiht ihr eine gewisse Sinnlichkeit. Es geht darum, durch solche Details eine emotionale Nähe herzustellen und die Betrachter:innen auf ihre eigene Größenrelation zurückzuführen.
Du hast deine Installation im Central Park erwähnt. Wie beeinflusst der Ort einer Ausstellung deine Herangehensweise an ein Werk?
Die Erfahrung im Central Park war besonders, weil es das erste Mal war, dass ich meine Arbeit mit einem breiten Publikum interagieren sah—nicht nur mit Kunstinteressierten, sondern mit ganz unterschiedlichen Menschen. Ich fand es faszinierend, wie manche die Skulpturen ignorierten, während andere sie erkundeten oder sogar darauf kletterten. Das hat meine Arbeit mit einer größeren Welt verbunden, über den Kunstkontext hinaus. Millionen von Besucher:innen jedes Jahr bedeuten, dass die Werke auf eine Weise erlebt werden, die ich nicht vorhersehen konnte.


Welche Herausforderungen und auch welchen Reiz bringt das Arbeiten im monumentalen Maßstab mit sich?
Die größte Herausforderung liegt im Atelier. Dort füllen die Skulpturen oft den ganzen Raum aus;berühren fast die Decke. Aber sobald sie ins Freie gelangen, zum Beispiel nach New York, verändert sich alles—plötzlich stehen sie inmitten riesiger Gebäude, Autos, Menschenmengen. Der Kontrast zwischen der kontrollierten, ruhigen Atmosphäre im Atelier und der Dynamik der Stadt ist enorm. Ein gewöhnlicher Baum in New York ist oft zehn Meter hoch—das verändert die Wahrnehmung der Skulpturen. Es ist, als würde ich etwas aus meiner Vorstellung heraus in die Realität projizieren.
Wird deine Kunst manchmal missverstanden?
Meine Arbeiten sind figurativ und narrativ, daher gibt es immer eine gewisse Lesbarkeit. Doch die Herausforderung liegt darin, mich selbst immer weiter zu pushen, etwas Komplexeres, Persönlicheres zu schaffen. Manchmal liegt das Missverständnis in dem „gap“ zwischen Sprache und Kunstwerk—zwischen dem, wie wir über etwas sprechen, und dem, was tatsächlich vor uns steht.



Du arbeitest oft mit Gießereien und Kunsthandwerkern zusammen. Wie wichtig sind diese Partnerschaften für deine Praxis?
Als Bildhauer gibt es mehrere Phasen: das Modellieren im Atelier, das Erstellen der Form und schließlich die Arbeit in der Gießerei oder mit Glasbläsern, die das endgültige Werk umsetzen. Deshalb habe ich in der Bretagne eine eigene Gießerei gegründet, um den Prozess vollständig zu verstehen. Seitdem kann ich gezielter mit anderen Gießereien zusammenarbeiten. Es ist wie bei einem Graphic Novel: Alan Moore schrieb Watchmen, V for Vendetta und From Hell, arbeitete aber immer mit verschiedenen Illustratoren zusammen. Die richtige Gießerei zu finden, ist ein ähnlicher Prozess—sie muss meinen Ansatz und meine Vision verstehen.
Wie siehst du deine Arbeit im größeren Kontext der zeitgenössischen Skulptur?
Das ist schwer zu sagen, weil man selbst so stark auf die eigene Arbeit fokussiert ist und das umfassende Feedback oft erst mit der Zeit kommt. Man erhält zwar unmittelbare Reaktionen, aber nicht das langfristige Echo. Als ich begann, mit Gussverfahren zu arbeiten, war das nichts Besonderes. Kaum jemand aus meiner Generation beschäftigte sich mit Bronze oder Aluminium, es war einfach nicht „in“. Aber mittlerweile hat sich das geändert, und viele junge Künstler:innen machen wieder eigene Gussarbeiten. Es braucht Zeit, um die Bedeutung einer künstlerischen Praxis wirklich zu erkennen. Der Austausch mit anderen Künstler:innen meiner Generation hilft, ein Gefühl für die Fragestellungen unserer Zeit zu entwickeln, aber die größere Perspektive kommt erst mit den Jahren.

Was sind deine nächsten Projekte?
Ich habe eine Einzelausstellung im MOCO im Juni 2025, auf die ich mich sehr freue. Außerdem bin ich mit zwei weiteren Institutionen im Gespräch, was ebenfalls sehr vielversprechend ist.
Interview: Livia Klein
Foto: Elise Toïdé