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Jenni Hiltunen, Helsinki

In the Studio

»Künstlerischer Freiheit dürfen keine Grenzen gesetzt werden. Eine Gesellschaft sollte stark genug sein, das auszuhalten.«

Die nordeuropäische Szene für zeitgenössische Kunst entwickelt neue Dynamiken und wird zunehmend von internationalen Sammlern beobachtet. Mit den Nordic Notes lenken wir regelmäßig den Blick auf die nordische Kunst- und Kulturszene und stellen ihre wichtigsten Akteure vor.

Die nordeuropäische Szene für zeitgenössische Kunst entwickelt neue Dynamiken und wird zunehmend von internationalen Sammlern beobachtet. Mit den Nordic Notes lenken wir regelmäßig den Blick auf die nordische Kunst- und Kulturszene und stellen ihre wichtigsten Akteure vor.

Jenni Hiltunen beschäftigt sich mit zeitgenössischen Phänomenen, wie etwa unseres vergnügungssüchtigen individualistischen Weltbilds und wie wir die Wirklichkeit durch Bilder zu verstehen suchen. Die Kultur des „Posens“, die von den sozialen Medien und dem Internet begünstigt wird, und die anmaßende Art und Weise, mit der sie sich ihren Platz in der Unterhaltungsindustrie sucht, ist eines der Themen, mit denen sie sich beschäftigt, um uns den Spiegel vorzuhalten. Sie übertreibt, ohne dabei übermäßig zu moralisieren. Wir trafen Jenni in ihrem Atelier in Kallio, einem ehemaligen Arbeiterviertel Helsinkis, und sprachen mit ihr über ihre Bewunderung für Marlene Dumas, warum Berlin inzwischen zu einem Vorort Helsinkis geworden ist, und wie weit Kunst gehen darf, indem sie eine Gesellschaft auf die Probe stellt.

Jenni, das Ende des Sommers ist da und alle scheinen aus ihren Sommerhäusern zurückgekehrt zu sein. Es ist wieder ziemlich viel los in Helsinki!
Ja, es ist die Zeit des Jahres, in der es hier nur ein Gesprächsthema gibt: Das Flow Festival, eines der beliebtesten Festivals in ganz Skandinavien. Und wir Finnen, besonders in Helsinki, lieben das Flow und jedes Jahr sind alle ganz aus dem Häuschen. Das Fest dauert drei Tage und ist so etwas wie ein Karneval am Ende des Sommers bevor alle wieder an die Arbeit gehen. Das Flow ist ganz anders als andere Festivals. Es fühlt sich eher an wie eine temporäre Community mitten in Helsinki. Es gibt mehrere Bühnen, auf denen Musik spielt, es gibt Kunstausstellungen von jungen Kunststudenten der University of the Arts Helsinki, und es finden viele Workshops and Diskussionen statt. In einem der vergangenen Jahre wurde eine meiner Arbeiten beim Flow gezeigt.

Vor ein paar Tagen waren wir im Kiasma, Helsinkis Museum für zeitgenössische Kunst, und haben dort deine Videoarbeit Grind entdeckt. Bis dahin kannten wir dich nur als Malerin und hätten fast übersehen, dass die Arbeit von dir war.
Ja, ich sehe mich nicht nur als Malerin. Aber das stimmt schon, der Großteil meiner Arbeiten sind Acrylgemälde. Inzwischen male ich aber auch in Öl. Ich beschränke mich aber nicht auf bestimmte Medien. Bis jetzt lag mein Fokus aber eindeutig auf Videos und Gemälden, außer einer Arbeit, einer großen Installation aus Stoff, die ebenfalls im Kiasma gezeigt wurde. Wie gesagt, die Medien können sich ändern, aber was meine Arbeiten verbindet, ist, dass sie sich alle mit ähnlichen Themen befassen. Im Moment konzentriere ich mich aber voll und ganz aufs Malen und tue das mit großer Begeisterung. Ich fühle mich viel lebendiger, wenn ich male und die Fähigkeit von Gemälden, mich mit Fragen zu konfrontieren, fasziniert mich. Unabhängig davon werde ich wahrscheinlich immer mit verschiedenen Medien arbeiten, aber Malen wird immer ein fester Bestandteil sein. Vielleicht werde ich in diesem oder im nächsten Jahr auch ein neues Video machen.

In all deinen Arbeiten spielen Menschen eine herausragende Rolle. Die meisten schauen dem Betrachter direkt in die Augen, fast so als wollten sie sich vor den Augen des Betrachters präsentieren.
Das ist eine sehr präzise Beobachtung. Ich möchte Phänomene unseres zeitgenössischen Lebens untersuchen. Zum Beispiel die Tendenz der Menschen sich ständig in den verschiedenen heute zugänglichen Medienkanälen zu präsentieren. Dieses Kultur des „Sich-präsentierens“ oder des „Posens“, wie ich es nenne, ist in unserem täglichen Leben ziemlich offensichtlich und präsent geworden. Mich interessieren die Ästhetik von Musikvideos und Mode, und besonders, was gerade so in den Social Media los ist.

Dich interessieren also die „Präsentierkultur“ in unerer Gesellschaft, und das, was so in den sozialen Netzwerken passiert. Wie siehst du dabei deine Rolle als Künstlerin? Schaffst du lediglich eine Art Zeitdokument oder kritisierst du diese Phänomene im eher politischen Sinn?
Das ist eine gute Frage. Ich glaube, meine Rolle als Künstlerin ist nicht so wichtig. Ich möchte die verschiedenen Phänomene, die ich beobachte zeigen und sie in einem eher karnevalistischen Ansatz interpretieren. Indem ich den Menschen einen Spiegel vorhalte, wird ihnen hoffentlich bewusst, dass sie selbst Teil dieses Phänomens sind. Es ist heute so normal geworden, sein Six-Pack, seinen Hintern oder auch nur den perfekt geübten Gesichtsausdruck zu zeigen, dass niemand dieses Verhalten mehr hinterfragt. Ich möchte die Menschen wach rütteln. Versteht mich nicht falsch. Ich möchte niemanden bevormunden. Man wird immer ein Augenzwinkern in meinen Arbeiten entdecken.

11 Jhiltunen

„Grind“ ist eine bemerkenswerte Videoarbeit, die unter anderen im Kiasma ausgestellt wurde. Das Video zeigt eine jamaikanische Tanzhallenkönigin. Das Video wird in Zeitlupe abgespielt. In dem Video wird unter anderem ein Kleidungsstück verwendet, das der samischen Volkstracht sehr ähnlich sieht, was eine ziemliche Debatte ausgelöst hat. Was genau war denn deine Absicht?
Grind stammt aus 2012 und ist mein bisher aktuellstes Video. Es geht nur um Fleisch, Tanz und Bewegung. Twerking und Hüftschwung sind in der Welt der Musikvideos üblich und Musik, Körper und Tanz sind Dinge, die mich inspirieren. Mit Grind wollte ich darauf aufmerksam machen, wie die Globalisierung und die Unterhaltungsbranche konvergieren und darauf, dass sich jeder sich ein Image zulegen kann, um sich nach eigener Vorstellung zu inszenieren, was manchmal sogar so weit gehen kann, dass man sich eine fremde Kultur aneignet, die man nicht einmal versteht. Wie ein Tourist in Bayern, der sich Lederhosen anzieht oder eine westliche Frau, die einen Sari trägt, und sich damit unter die Einheimischen mischt. Ich verwendete die samische Tracht lediglich als Metapher und hatte definitiv nicht mit einer derartigen Welle der Empörung gerechnet. Ich finde, die Arbeit ist mit sehr engstirnigen Argumenten kritisiert und deshalb falsch interpretiert worden. Aber die Empörung, die sie ausgelöste, war genau genommen ja auch genau das, was ich mit der Arbeit hatte zeigen wollen, nämlich dass die gedankenlose Verwendung der Identität anderer ein respektloser und beleidigender Akt sein kann.

Hattest du das Gefühl, mit „Grind“ vielleicht eine Grenze überschritten zu haben? Gibt es denn in der Kunst eine Grenze, die man nicht überschreiten sollte?
Nein, die gibt es nicht. Ich finde das ist genau das, worum es in der Kunst geht. Vielleicht nicht in jedem Fall so provokativ wie in diesem. Aber ich halte es generell für wichtig, Menschen mit Themen zu konfrontieren, die ihnen inzwischen so sehr zur Gewohnheit geworden sind, dass sie diese nicht mehr wahrnehmen. Ich möchte Licht auf diese Dinge werfen und sie in einem neuen Kontext präsentieren. In diesem Sinne kann Kunst auch ein Katalysator für Veränderung sein oder zumindest zu einem Wandel beitragen. Dafür aber ist kompromisslose künstlerische Freiheit nötig. Eine Gesellschaft sollte stark genug sein, dies auszuhalten.

Lass uns darüber sprechen, wie dein Weg als Künstlerin begonnen hat. Wie kam es zu der Entscheidung, Kunst zu studieren?
Ich habe niemals über eine andere Option nachgedacht. Ich bin auf eine Schule gegangen, die einen starken Fokus auf Kunst hatte. Das hat mich sicherlich auch dazu bewogen, weiter zu machen und auf die Kunstakademie zu gehen. An einem gewissen Punkt hatte ich darüber nachgedacht, Design zu studieren, denn ich war auch sehr an Mode interessiert, aber Kunst hat mich eigentlich immer am meisten begeistert. Es fühlte sich einfach richtig an. Als Künstler ist man frei zu tun und zu lassen, was man will. Es ist eine Lebensart. Und ich glaube, das war es, was mich am meisten an einer künstlerischen Laufbahn angezogen hat.

Das ist die eine Seite der Medaille. Künstler zu werden birgt aber auch viele Risiken.
Ja, es ist kein sicherer Job im konventionellen Sinn. Du kannst nicht einfach die nächsten fünf Jahre planen, denn du weißt nicht, wie sich deine Karriere entwickeln wird. Aber ich möchte nichts ändern. Ich bin mit meinem Leben und meiner Arbeit sehr zufrieden.

Würdest deine kleine Tochter darin unterstützen, sollte sie Künstlerin werden wollen?
Ja, auf jeden Fall!

Wie fühlt es sich an, in diesen Tagen als Künstlerin in Finnland zu arbeiten?
Die finnische Kunstszene ist sehr klein, das kann manchmal etwas langweilig sein. Darum verlassen viele finnische Künstler für eine Weile das Land, um dann wieder zurückzukehren. Ich hatte die Gelegenheit an Artist-in-Residence Programmen in Paris und Berlin teilzunehmen. Das waren wunderbare und wirklich inspirierende Zeiten. Ich bin mit vielen Eindrücken als Material für meine Arbeit in meinem Atelier in Helsinki zurückgekommen.

Ist dir jemals die Idee gekommen, für längere Zeit ins Ausland zu gehen?
Ja, bevor unser Kind kam, wollten wir eigentlich nach Berlin übersiedeln, wo wir schon viel Zeit verbracht hatten. Aber man kann eigentlich leicht nach Berlin fahren und wieder zurückkommen, dass wir entschieden haben, dass wir nicht für immer dorthin ziehen müssen. Man sagt, Berlin sei Helsinkis Hinterhof geworden, weil so viele Finnen in Berlin leben. (lacht) Außer der Tatsache, dass die Kunstszene hier weniger lebendig ist als in Berlin, ist es schön hier zu arbeiten, denn hier kenne ich mich aus und mein Atelier ist mir zur zweiten Heimat geworden. Ich habe schon erwähnt, dass ich ein Kind habe. Meine ganze Familie ist hier. Deshalb bin ich wirklich glücklich, in Helsinki leben und arbeiten zu können.

Finnland fällt einem nicht gerade als erstes ein, wenn man über Kunst spricht. Warum meinst du, hört man so wenig im Ausland über finnische Künstler?
Das ist eine gute Frage. Ich persönlich sehe Kunst, Architektur und Design als miteinander verbundene Felder an. Sie sind eins! Und so haben Künstler wie Alvar Aalto es sicher auch gesehen. Vielleicht haben wir Kunst nie voneinander losgelöst gesehen und ihr deshalb keine eigene Bühne gegeben, die es anderen leichter gemacht hätte, Finnland in seinem künstlerischen Einfallsreichtum zu würdigen. Aber ich glaube, das wird sich ändern...

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Lass uns noch etwas mehr über deine Arbeit sprechen. Du sagtest bereits, dass du Inspiration aus dem ziehst, was du im täglichen Leben beobachtest und besonders in den sozialen Medien. Bei einigen deiner Gemälde sieht es so aus, als hätte jemand für dich Modell gestanden. Bei anderen sieht es so aus, als hättest du dich bei Facebook oder Instagram bedient.
Viele meiner Motive sind von der Modewelt inspiriert. Und es gibt tatsächlich einige, die für mich Modell stehen. Oft sind es meine Freunde, alles Frauen. Das hat sich so ergeben. Vielleicht werde ich von jetzt ab auch Männer malen. In diesem Sommer habe ich viel darüber nachgedacht, was ich als nächstes tun will, und wohin meine Arbeit sich entwickeln soll. Ich habe noch keine konkreten Vorstellungen, aber ich möchte mich irgendwie weiterentwickeln. Bisher habe ich viel mit Acrylfarbe gemalt, aber seit einiger Zeit male ich sehr gern mit Ölfarben. Ich möchte etwas an meiner Arbeitsweise ändern. Bisher habe ich ein Gemälde am Tag gemalt, wenn alles gut lief. Das Malen mit Ölfarbe ist ganz anders, weil die Farbe langsamer trocknet. Also bemale ich an einem Tag eine Leinwand und am nächsten Tag eine andere, nur um am darauf folgenden Tag zur ersten zurückzukehren, und so weiter.

Einige deiner Gemälde erinnern vage an die Gemälde von Marlene Dumas. Bewunderst du ihre Arbeiten?
Ja, ich liebe die Gemälde von Marlene Dumas! Auch Alice Neel und Henri Matisse schätze ich sehr. Und natürlich haben mich auch viele zeitgenössische Maler beeinflusst. Vor diesem Hintergrund versuche ich ständig, neue Stile und Techniken zu entwickeln. Charakteristisch für mein Werk sind starke Farben, dadurch sind meine Bilder sehr lebendig und dynamisch. Ich bin eine sehr ungeduldige Malerin, ich möchte schnell den magischen Moment einfangen. Daher bringe ich die Farbe oft sehr heftig auf die Leinwand.

Hast du Helden oder gibt es Menschen, die du bewunderst?
Ich habe sehr viele interessante Leute um mich herum! Viele meiner Freunde haben den prekären Lebensstil eines Künstlers, Designers oder Freiberuflers gewählt. Mich inspirieren Menschen, die weltoffen sind, denen es egal ist, was andere Leute denken und die nicht neidisch auf den Erfolgen anderer schielen und missgünstig sind. Im Augenblick inspiriert mich vor allem meine Tochter Maire. Sie ist ein Jahr und acht Monate alt. Ihre Energie ist unglaublich! Wir tanzen viele Stunden am Tag und ihre Bewegungen sind atemberaubend.

Woran arbeitest du gerade?
Ich bereite eine sehr große Ausstellung in der Galerie Forsblom hier in Helsinki vor, die im Februar 2017 eröffnen wird. Danach werde ich eine Ausstellung in meiner Mailänder Galerie haben, die im September 2017 stattfinden wird. Ich war 2015 im Mutterschutz, deshalb wartet jetzt eine Menge Arbeit in meinem Atelier auf mich.

Interview: Michael Wuerges
Fotos: Florian Langhammer

Grind (2012), Jenni Hiltunen

Dancehall Queen Style ist ein jamaikanischer Tanzstil, der in the 90er Jahren durch Musikvideos und The Grind show auf MTV populär wurde. Das Video betrachtet diese „Dancehall“ Kultur mit all ihren provokanten Kleidern, suggestiven Posen und ihrer demonstrativen Sexualität, auf humorvolle Weise.

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