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Julian Charrière, Berlin

In the Studio

»Kunst braucht die Natur.«

Ein Film, der die arktische Nacht im Drohnenlicht zeigt, menschenleere Palmölplantagen, begleitet von technoiden Klängen, oder Fotografien, auf denen die Spuren nuklearer Testgebiete sichtbar werden – der französisch-schweizerische Künstler Julian Charrière ist eine bedeutende Stimme der sozial engagierten zeitgenössischen Kunst. Sein Werk ist verspielt und zeichnet sich durch eine große Vielfalt künstlerischer Methoden aus – von Film über Skulptur bis hin zu Fotografie. Ernst sind dabei seine Themen, denn er setzt sich mit dem Klimawandel, den Umweltschäden und der Ausbeutung der Erde auseinander. Collectors Agenda hat ihn getroffen. Im Gespräch geht es um die Natur als künstlerische Inspirationsquelle, das Reisen in Zeiten der Pandemie und die fragile Schönheit der Polarkappen.

Julian, du wurdest 2021 für den Prix Marcel Duchamp nominiert und hast im Centre Pompidou in Paris in der Ausstellung Weight of Shadows (Le Poids des Ombres) ausgestellt. Was hast du dort gezeigt?
Für die Ausstellung im Centre Pompidou habe ich eine immersive Installation konzipiert, die ein Resultat ist aus eineinhalb Jahren, in denen ich mich mit chemischen Kreisläufen beschäftigt habe. Mit Luft als einem Medium, das durch uns fließt, aber durch das wir uns auch bewegen.

Was hat dich dazu inspiriert?
Ich hatte ein Schlüsselerlebnis, als ich während der Dreharbeiten von meinem Film Towards No Earthly Pole (2019) auf den grönländischen Eiskappen stand und mir plötzlich bewusst wurde, dass sich unter meinen Füßen eigentlich der Himmel befindet und über meinem Kopf auch, dass ich gerade fliege, obwohl ich den festen Boden unter mir spüre. In der Tat war mir bekannt, dass ich auf Geschichte stehe, auf Jahrtausenden, die im Eis gefangen sind, Stratum für Stratum. Aber was für Geschichte? Die im Eis gespeicherte Zeitlichkeit sind winzige Luftblasen – dies ist der einzige Ort, an dem die wechselnde Zusammensetzung der Atmosphäre festgehalten wird. Ich stehe also auf dem Gedächtnis des Himmels. Dieses Gefühl, und das an einem Ort, an dem Himmel und Erde schon visuell zu verschwimmen scheinen, hat mich nicht mehr losgelassen. Gleichzeitig schmelzen unter meinen Füßen die Gletscher, und mit ihnen werden die kleinen Blasen, welche die Geschichte des Himmels enthalten, wieder in die Atmosphäre entlassen. Ein Kreislauf, der mit der Verbrennung der aus der Erde gegrabenen fossilen Rohstoffe beginnt und zeigt, dass, wenn diese schweren Partikel im Übermaß aus der Erde in den Himmel geschleudert werden, auch er mineralisch sein muss.

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Was hast du aus diesem Ansatz heraus entwickelt?
Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, Stoffe aus dem Himmel „abzubauen“, indem ich den herkömmlichen Bergbauprozess umkehre. Statt wie üblich, fossile Rohstoffe aus dem Erdinneren zu gewinnen, habe ich mit einem speziellen technischen Verfahren, das von einem Wissenschaftlerteam der ETH Zürich entwickelt wurde, CO2 aus der Umgebungsluft eingefangen. Dieses Repertoire wurde dann um die CO2-reichen Ausatmungen von Menschen auf der ganzen Welt erweitert, die in aufgeblasenen Luftballons gesammelt wurden. Das war dann der Ausgangspunkt für eine alchemistische Umwandlung des Gases in das härteste natürlich vorkommende Material der Erde: Diamant. Die Steine habe ich zurück zu den Polkappen nach Grönland gebracht. Eine Allegorie für die Möglichkeit, die Kohlenstoffkreisläufe zu schließen, die wir geöffnet haben. Und diese Aktion in Grönland steht im Mittelpunkt meiner Videoarbeit Pure Waste (2021), um deren Idee die Ausstellung für den Prix Marcel Duchamp im Centre Pompidou kreist. Präsentiert wird sie auf einem zarten Papier, das sich leicht in einer immersiven, raumgreifenden Installation bewegt. Ein schwarzer Boden aus Anthrazitkohle, auf Hochglanz poliert, erstreckt sich über den gesamten Raum, sodass die Decke, Besucher*innen und Skulpturen darin gespiegelt werden. Ich habe Säulen geschaffen, die bis unter die Decke reichen und deren Basis Ölbohrkronen sind (Le Poids des Ombres, 2021). Eine Skulptur aus einem anderen Bohrkopf (Touching the Void, 2021), in deren Spitze ein einziger Diamant eingelassen ist, hängt wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der Besucher*innen. Alles soll die Grundlagen unserer Gesellschaft zeigen, die seit der industriellen Revolution auf Kohle basieren, und gleichzeitig die Position des Menschen in einer Atmosphäre, in der sich die Essenz des Erdbodens aufgrund der übermäßigen Nachfrage nach der Verbrennung von Rohstoffen in der Umgebungsluft befindet.

Du hast an der ECAV [École cantonale d’art du Valais] im schweizerischen Wallis und an der Universität der Künste in Berlin Kunst studiert. Wie war das Kunststudium für dich?
Ich war nur sehr kurz an der ECAV, ein Jahr lang, und das war eine Art Zwischenjahr, denn ich wollte schon immer nach Berlin gehen. Aber ich war damals erst 17, und in Berlin sagte man mir: „Du bist eigentlich zu jung für die Schule.“ Im Nachhinein bin ich aber sehr froh über dieses Jahr und schätze die Erfahrungen, die daraus resultierten. Die ECAV liegt im Wallis in den Bergen, und ich habe viel Zeit damit verbracht, mich mit Land Art und ihrem heutigen Erbe zu befassen und vor allem damit, wie ich mich in diesem Erbe zurechtfinden kann, wodurch ich ein starkes Interesse an der Außenwelt und an der direkten Interaktion mit meiner Umgebung entwickelt habe. Und trotz allem war es immer noch mein Ziel, nach Berlin zu kommen, und im Jahr darauf wurde ich an der UdK angenommen. Dann hatte ich die große Chance, dass plötzlich Ólafur Elíasson als Professor an die Uni kam, das Institut für Raumexperimente gründete und mehr als nur ein guter Professor war. Er hat einfach ein tolles Auge für Künstler*innen. Und er stellte diese großartige Gruppe von Teilnehmer*innen zusammen. Durch die enge Verbundenheit zu seinem eigenen Studio konnte ich außerdem das erste Mal sehen, wie so ein riesiges Atelier funktioniert, was für mich zuvor total abstrakt war. Ich muss sagen, ich war schon immer sehr neugierig, aber Ólafur hat meinen Horizont noch erweitert. Wir hatten mit ganz verschiedenen Fachleuten zu tun, von Breakdancer*innen über Nanowissenschaftler*innen bis hin zu Architekt*innen. Und mit einigen der anderen Teilnehmer*innen teile ich noch heute, nach zehn Jahren, mein Studio, was zeigt, wie bedeutend diese Zeit für mich war und immer noch ist.

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In deiner Kunst thematisierst du den schwerwiegenden Eingriff der Menschen in natürliche Lebensräume. Welche Rolle spielt das Verhältnis von Natur und Mensch in deiner Kunst?
Sicherlich ist ein wichtiger Punkt in meiner Kunst diese Dichotomie zwischen Kultur und Natur, in deren Erbe wir stehen und deren Opfer wir vielleicht auch sind: diese Trennung zweier Welten, die sich erst seit dem Beginn des Monotheismus wirklich entwickelt hat und die in der Romantik auf die Spitze getrieben wurde. In meiner Arbeit versuche ich aber weniger, die gegenseitigen Angriffe zu thematisieren, sondern vor allem die Zusammenhänge zwischen den beiden Positionen zu erklären, immer unter Berücksichtigung dessen, was als Natur oder Kultur wahrgenommen wird und was vielleicht auch fälschlicherweise als eines der beiden wahrgenommen wird. Denn natürlich bewegen wir uns hier inmitten von Kategorien menschlicher Definitionen. Das Interessante an diesem Verhältnis von Mensch und Natur ist allein schon die Terminologie, das Vokabular, das wir verwenden. Im Deutschen und auch im Englischen verwenden wir Worte wie „Umwelt“, „Umgebung“ oder „being surrounded by“, was immer impliziert, dass wir im Zentrum stehen und etwas anderes um uns herum wahrnehmen. Und in meiner Kunst geht es nicht um eine Trennung zwischen diesen beiden Kräften, dem, was menschlich, und dem, was nicht menschlich ist. Es geht vielmehr um, und jetzt benutze ich den französischen Begriff, „milieu“, der Ökosystem bedeutet. Es geht um ein Netzwerk von Kräften, die sich gegenseitig beeinflussen, und diese Wechselbeziehungen führen zu der Welt, wie wir sie heute kennen. Trotzdem beschäftige ich mich natürlich auch gerne mit Orten, die auf den ersten Blick so aussehen, als hätten sie unter tiefen menschlichen Eingriffen gelitten, zum Beispiel das Bikini-Atoll. In mehreren Arbeiten zeige ich die Auswirkungen dieser Eingriffe, aber jetzt sieht man auch, wie sich diese Gebiete erholen, heilen können, völlig frei von menschlichem Einfluss, einfach weil der Mensch nicht mehr da ist.

Du hast dich kürzlich selbst als Zukunftsarchäologen bezeichnet, was verstehst du darunter?
Das stimmt so nicht ganz. Dieser Begriff ist öfters gefallen, und ich finde ihn eigentlich ganz lustig, aber ich würde mich nie selbst so bezeichnen. Aber es ist ganz klar, dass in vielen meiner Arbeiten die Zeit eine zentrale Rolle spielt, und viele meiner Werke beschäftigen sich auch mit der Gegenwart und wie diese Gegenwart von der Vergangenheit beeinflusst wird und wie beide zusammen die Zukunft bestimmen. Dabei ist mir der Gedanke wichtig, dass der lineare Ablauf der Zeit nicht funktionieren kann, denn Geschichte wird nicht geschrieben, sie schreibt sich immer wieder neu. Wenn wir die Vergangenheit heute anders interpretieren, kommt es zu Rückkopplungen, welche die Gegenwart und letztlich natürlich auch die Zukunft verändern. In meinen Arbeiten schaue ich mir oft solche Orte an, solche verschlungenen Punkte von Zeitachsen, die ineinander übergehen und etwas Neues schaffen. Orte, an denen man Spannungen spürt, an denen man weiß, dass dort viel passiert, was möglicherweise in der Zukunft eine große Rolle spielen könnte. Die Arbeit Future Fossil Spaces (2014–2017) zum Beispiel, die auf der Biennale Venedig ausgestellt wurde, ist als Skulptur ein Knotenpunkt, an dem sich eine Vielzahl von Wirkkräften und ihre jeweiligen Zeitlichkeiten treffen. In diesem Rahmen kann ich jetzt nur ein paar nennen, wie die des ausgetrockneten antiken Meeres, der im Salzkristall versteinerten Mikroorganismen, der dichteren ozeanischen Lithosphäre, offensichtlich des Lithiums als Material und seiner potenziellen Energie und nicht zuletzt der Betrachtenden, die dem Werk in der Ausstellung begegnen. Dieser sehr spezifische Knotenpunkt existiert in seiner Unmittelbarkeit, aber die Trajektorien all der verschiedenen Zeitlinien erstrecken sich sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft. Deshalb ist der Begriff Zukunftsarchäologe nicht unbedingt richtig, wenn überhaupt, ist es eher das Bild eines Archäologen der Gegenwart, aber dann muss man auch in die nahe Zukunft projizieren können.

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Muss die Kunst den Klimawandel als Thema mehr reflektieren?
Die Kraft der Kunst ist die, dass sie eigentlich überhaupt nichts muss. Ihre Radikalität und gleichermaßen ihre große Qualität liegen darin, dass sie sich von jeder Mission befreien kann. Dennoch denke ich, dass sich heute, inmitten der Klimakrise, jeder Bewohner, jede Bewohnerin dieser Welt mit solchen Fragen auseinandersetzen und zum Teil auch Konsequenzen in entsprechenden Lebensweisen ziehen sollte. Natürlich kann auch die Kunst dazu beitragen, das Thema einer breiteren Masse anders näherzubringen, und hat vielleicht Stärken gegenüber anderen vermittelnden Medien. Der Klimawandel ist sehr abstrakt und überhaupt kompliziert zu verstehen, weil er sich über das hinaus spannt, woran sich unsere Wahrnehmung annähern kann, und dabei wird er oft auf einfache Begriffe und Worte reduziert, die diese Komplexität vielleicht nicht ausreichend darstellen können. Ich denke, dass die Kunst ganz andere Möglichkeiten hat, Räume zu öffnen und Wahrnehmungsweisen anzusprechen, Konfrontation zu fordern.

Wie unterscheidet sich deine Arbeit von einem wissenschaftlichen Erkenntnisprozess und worin ähnelt sie ihm?
Im Grunde sind es völlig unterschiedliche Methoden. Vielleicht gibt es ein paar Überschneidungspunkte bei der Feldforschung, die ich auch betreibe. Aber ich bin absolut frei von jeglichen Ergebnissen, und ich muss überhaupt nichts beweisen. Kunst kann reine Spekulation und Fiktion sein, und das ist es, was mich interessiert. In dieser Sphäre kann ich agieren und damit auch die Realität verändern, durch eben diese Fiktionen, die Kunst beitragen kann. Und ja, in der Wissenschaft geht es um Ergebnisse. Aber der ganz wichtige Punkt ist eigentlich, dass Künstler*innen und Wissenschaftler*innen immer zweifeln. Hier sind wir uns sehr ähnlich, weil wir Zweifel äußern und weil wir ständig hinterfragen, dadurch ist man sehr verbunden. So wird auch deutlich, dass hinter beiden Disziplinen ganz klar ein kreativer Prozess steht, denn das ständige Infragestellen dessen, was als Realität wahrgenommen und von der Gesellschaft als solche beschrieben wird, ist ein Motor, der uns vorantreibt, und zwar nicht unbedingt vorwärts im Sinne des kapitalistischen Denkens, sondern in dem Sinne, dass er weitere existenzielle Probleme in Bewegung bringt und einen Diskurs eröffnet.

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Du hast 2019 den Film Towards No Earthly Pole gedreht. Was fasziniert dich an den Polarregionen?
Der Film zeigt vor allem die Grenzen unserer Wahrnehmung auf, insbesondere wenn es um die Wahrnehmung von etwas geht, das durch kollektive Vorstellungen geprägt ist. Für mich ist die Arktis ein Ort, der wie nur wenige andere ein Bild von den gängigen Darstellungsformen seiner selbst trägt. In den letzten Jahren hat sich dieses von etwas Überwältigendem, Unheimlichem und Unnahbarem zu etwas Zerbrechlichem gewandelt, fast synchron mit der immer stärker werdenden Präsenz des Klimawandels. Zwei Wahrnehmungen, die beide unter den Begriff des „Natürlichen“ fallen, nur wird deutlich, dass das, was wir als „Natur“ bezeichnen, ein Produkt dessen ist, was wir als „Kultur“ definieren würden. Das ist ein Faktor, der mich fasziniert und der auch der konzeptionelle Ausgangspunkt für Towards No Earthly Pole war. Denn wenn wir an die Arktis denken, entstehen Bilder von blauen Eisbergen, zumeist im Sonnenlicht, die wir als Vertreter im Kampf gegen den Klimawandel wahrnehmen. Doch die Polarnacht ist noch nicht in unserem kollektiven Gedächtnis verankert, sie ist fast wie ein Blackout, den ich mit dem Film in unser Bewusstsein holen wollte.

Welcher Naturraum auf der Welt inspiriert dich am meisten?
Also ich kann hier nur von meinem aktuellen Interesse sprechen, denn das ändert sich ja ständig. Im Moment interessieren mich besonders die abyssischen Regionen der Meere; sie sind vielleicht das, wovon ich im Moment träume. Aber es gibt keine Landschaft oder keinen Ort, der für mich mehr Wert hat als der andere. Die tiefen Abgründe sind jedoch interessant, weil sie in der absoluten Abwesenheit von Licht existieren, also außerhalb des Raums unserer Wahrnehmung. Und das nicht einmal nur wegen der Sichtbarkeit, sondern wegen des Drucks in diesen Tiefen, den wir niemals aushalten könnten. Es ist der Raum, in dem alles möglich ist, weil wir ihn nicht erleben können, aber wir können alles in ihn hineindenken.

Julian Charriere Towards No Earthly Pole Byrd 2019 Copyright The Artist VG Bild Kunst Bonn Germany

Julian Charrière, Towards No Earthly Pole - Byrd, 2019, Copyright des Künstlers; VG Bild-Kunst, Bonn, Deutschland

Julian Charrière, Towards No Earthly Pole, 2019, Film Still, Copyright des Künstlers; VG Bild-Kunst, Bonn, Deutschland

Julian Charrière, Towards No Earthly Pole, 2019, Film Still, Copyright des Künstlers; VG Bild-Kunst, Bonn, Deutschland

Deine Kunst entsteht auf der ganzen Welt. Sie ist mit vielen Reisen verbunden. Wirst du in Zukunft anders arbeiten?
Ich bin fest davon überzeugt, dass Reisen zunächst einmal weiter wichtig ist, aber dass man schon dreimal nachdenken sollte, bevor man sich auf eine Reise begibt, und auch anders mit dem Reisen umgehen sollte, indem zum Beispiel andere Fortbewegungsmittel, wie der Zug, genutzt werden. Aber eigentlich ist das Schöne an der Idee einer globalisierten Welt nicht eine offene Wirtschaft, sondern offene Menschlichkeit in Beziehungen, die über Grenzen hinausgehen. Dafür ist auch das Reisen notwendig. Mehr als je zuvor muss man sich heute gemeinschaftlich empfinden, denn nur so kann man gemeinsame Probleme lösen, zum Beispiel auch die Klimakrise. Wir haben hier ein globales Problem, das nicht angegangen werden kann, wenn es nur lokal gedacht wird. Weltweite Kommunikation, aber eben auch physische Verbundenheit ist meiner Meinung nach essenziell, wenn wir in einer Gesellschaft leben wollen, die sich als Gemeinschaft empfindet und auch als solche agiert. Gerade jetzt in der Corona-Krise haben wir gemerkt, dass Sedentarität Patriotismus und Extremismus fördert und geschlossene Grenzen nationalstaatliches Denken begünstigen. Das widerspricht allem, woran ich glaube und wofür ich stehe. Deshalb denke ich, dass Reisen wichtig ist und dass eine global vernetzte Welt etwas ist, worüber wir heute froh sein können.

Hast du auch während des Corona-Lockdowns Kunst gemacht?
Für Pure Waste habe ich eine Aktion gestartet, die in der Zeit des Ausbruchs der Pandemie besonders symbolisch war, als die Gemeinschaft infrage gestellt, das Reisen verboten wurde und Grenzen immer mehr an Bedeutung gewonnen haben. Ich habe Ballons an Freunde und Bekannte weltweit geschickt und sie um ihre Ausatmungen gebeten, die dann in meinem Studio in Berlin zur weiteren Verarbeitung gesammelt wurden. Anlass für mich war hier in jedem Fall die Tatsache, dass wir uns in einer Situation befanden, in der wir nicht mobil sein konnten oder, besser gesagt, in der wir uns gar nicht bewegen durften. Die Luft ist es, die uns alle verbindet, egal wie weit wir voneinander entfernt sind, egal was zwischen uns liegt. Wir alle sind vernetzt durch etwas, das wir weder berühren noch sehen können. Genau hier lag der Anstoß für mich, die Community zu involvieren und einen Weg zu finden, gerade den Atem Grenzen überwinden zu lassen.

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An welchen Projekten hast du zuletzt gearbeitet?
Zuletzt arbeitete ich an einer Ausstellung in meiner Galerie Tschudi, die mir besonders am Herzen liegt, weil ich zum ersten Mal mit einer Künstlerin und zugleich Freundin ausstelle, die mich sehr inspiriert, Katie Paterson. Vertigo ist der Titel, weil es in der Ausstellung um Zeiten und Temporalitäten geht, die das Maß des Vorstellbaren sprengen. Wenn man über sie nachdenkt, kommt dieses Moment des Ungleichgewichts und der Ohnmacht auf. Neben schon existierenden Arbeiten, die wir in Dialog gesetzt haben, sind natürlich auch neue Produktionen vertreten. Ich habe zum Beispiel eine Serie von Fotogravuren, Limen (2021), geschaffen, für die ich Pigmente aus Erdproben aus den Gletscherregionen Nordgrönlands hergestellt habe. In drei Farben habe ich Aufnahmen von Orten gedruckt, an denen die Grenzen zwischen Himmel und Erde ineinander überzugehen scheinen. Dabei wird der reale Grund zum Bild, zu einer Art Sedimentarisierung des visuellen Reichs.

Welche Projekte und Ausstellungen stehen an?
Ja, es steht schon wieder ganz schön viel an. Unter anderem wird es eine Einzelausstellung am SFMOMA in San Francisco geben; ich werde an der Lyon Biennale teilnehmen und mit Parasol Unit in Venedig sein, wo ich einen Beitrag in der Ausstellung Uncombed, Unforeseen, Unconstrained zeigen werde, einer Begleitveranstaltung der 59. Internationalen Kunstausstellung, La Biennale di Venezia 2022. Vor allem arbeite ich aber an einer großen Soloausstellung in der Langen Foundation in Neuss, die im September 2022 eröffnen wird.

Julian Charrière, Future Fossil Spaces, 2017, Installationsansicht / Details, La Biennale di Venezia, Arsenale, 57. Internationale Kunstausstellung, Viva Arte Viva, Foto: Jens Ziehe, Copyright des Künstlers; VG Bild-Kunst, Bonn, Deutschland

Julian Charrière, Future Fossil Spaces, 2017, Installationsansicht / Details, La Biennale di Venezia, Arsenale, 57. Internationale Kunstausstellung, Viva Arte Viva, Foto: Jens Ziehe, Copyright des Künstlers; VG Bild-Kunst, Bonn, Deutschland

Julian Charrière, Weight of Shadows, 2021, Installationsansichten / Details, Prix Marcel Duchamp 2021, Centre Pompidou, Paris, Frankreich, 2021, Copyright des Künstlers; VG Bild-Kunst, Bonn, Deutschland, Foto: Jens Ziehe

Julian Charrière, Weight of Shadows, 2021, Installationsansichten / Details, Prix Marcel Duchamp 2021, Centre Pompidou, Paris, Frankreich, 2021, Copyright des Künstlers; VG Bild-Kunst, Bonn, Deutschland, Foto: Jens Ziehe

Interview: Kevin Hanscke
Fotos: Nora Heinisch

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