Ob als Hamlet, als Serienkiller im Tatort oder als menschlicher Pinsel in einem Video von Deichkind, Lars Eidinger, geboren 1976 in Berlin, gehört zu den erfolgreichsten Film- und Theaterschauspielern Deutschlands. Doch seit vielen Jahren macht Eidinger auch Kunst – er fotografiert und präsentiert sich selbst als Kunstobjekt in den sozialen Medien. Viele seiner Kunstaktionen erregten Aufsehen, beispielsweise als er sich mit einer 550 Euro teuren Tasche vor einem Obdachlosen fotografieren ließ. In Wien zeigt der Künstler 2022 seine erste Galerieausstellung in Österreich. Collectors Agenda hat ihn interviewt – zu der Philosophie hinter seiner Kunst, zur Popkultur als Inspirationsquelle und der Bedeutung von Schauspiel.
Lars, welchen philosophischen Hintergrund hat deine Kunst?
Leben meint Bewegung, Stillstand Tod. Deswegen muss Hamlets letzter Satz „The rest is silence“ auch mit „Der Rest ist Stille“ übersetzt werden und nicht, wie es oft heißt: „Der Rest ist Schweigen.“ Den Moment festzuhalten ist utopisch, und doch wohnt dem Gedanken eine große Sehnsucht nach Erlösung inne. Im englischen Present Perfect erklärt sich der Begriff noch besser. Präsenz beschreibt „Dasein“, im wörtlichen Sinne „da sein“, „im Moment anwesend sein“, „im Jetzt“. Perfektion ist ein unerreichbares Ideal, ein Zustand, der sich im Leben nicht erfüllt und sich erst im Tod einstellt. Ein Zustand, dem wir aber unweigerlich entgegenstreben, einer Todessehnsucht gleich. Durch die allgegenwärtige Anwesenheit des Todes erfährt das Leben seinen Reiz und Wert. In diesem Sinne handelt es sich bei dem Begriff also um ein Oxymoron, dessen Widersprüchlichkeit Reibung erzeugt, die eine Energie freisetzt, aus der ich künstlerisch schöpfe.
Weil du mit einer 550 Euro teuren Ledertasche im Aldi-Look vor einem Obdachlosenlager posiert hattest, erntetest du heftige Kritik. Wie kam dir die Idee dazu?
„Das Schicksal des Menschen ist der Mensch“, sagt Bertolt Brecht. Das wird mir offenbar. Die Menschheitsgeschichte als Dystopie. Manchmal erscheinen wir Menschen mir wie die Schildbürger, die beim Bauen des Rathauses die Fenster vergessen haben und dann versuchen, das Sonnenlicht mit Eimern hineinzutragen. Viele meiner Motive sind unerklärlich. Wie will man erklären, warum ein Obdachloser vor einem beheizten Bettengeschäft auf der Straße in der Kälte schläft, nur durch ein Schaufenster getrennt.
Mich interessiert vor allem das Unsichtbare. Das, was wir gemeinhin ausblenden, was hinter der Illusion verborgen ist. Ich möchte es abbilden, ohne zu moralisieren, will meine Sicht auf die Welt nicht erklären, sondern sie zeigen, in Bildsprache.
Mir geht es darum, mich auszudrücken, indem ich meine Eindrücke teile, um Provokation im ursprünglichen Wortsinn, von provocare, hervorrufen. Die Bewertung liegt aufseiten der Betrachter. Es geht in meiner Kunst nicht um Moral.
Fotografie spielt in deinem Œuvre eine wichtige Rolle. Wie wählst du Bildmotive aus?
Natürlich ist die Auswahl des Motivs schon ein Kriterium, davon kann ich mich nicht freimachen. Wie das Motiv allerdings kommentiert wird, was es an Gedanken und Gefühlen beim Gegenüber hervorruft, das ist individuell und sagt mehr über die Betrachter als über die Fotografie an sich. Interessant finde ich, dass meine Fotografien nahezu auf der ganzen Welt entstanden sind, zwar auf Städte fokussiert, aber universell. Und dass es Themen gibt, die immanent sind, die kulturübergreifend den Menschen beschreiben und ausmachen. Diese Zusammenhänge versuche ich herzustellen und die dadurch entstehenden Konflikte und Widersprüche aufzuzeigen. Allerdings sehe ich mich selbst als Teil dessen und möchte mich nicht in Distanz begeben und beurteilen. Ich konfrontiere mich ja selbst als Betrachter und zwinge mich in die Auseinandersetzung.
ƎVI⅃ in der Galerie ALBA wird 2022 deine erste Ausstellung sein, die du in Österreich eröffnen wirst. Die Farbe Grün wird in vielen der dort gezeigten Werke eine wichtige Rolle spielen. Warum gerade die Farbe Grün?
Das Chromakey Grün bekommen die Zuschauer eigentlich nicht zu Gesicht. Es ist ein Platzhalter für etwas, das später ersetzt wird. Mir geht es dabei um die Desillusionierung im brechtschen Sinne: „Glotzt nicht so romantisch!“ Wenn die Illusion entlarvt wird, ist das kein Verlust, sondern ein Mehr an Erleben. Es nimmt die Betrachter ernst und versucht, ihnen nichts vorzumachen oder sie zu blenden. Enttäuschung im positiven Sinn. Durch die Analyse wird die Betrachtung sinnlicher und komplexer.
Du fotografierst sowohl mit dem Mobiltelefon als auch mit der Spiegelreflexkamera. Zeigst du deshalb in der Schau auch ältere Aufnahmen von dir?
Mir ist wichtig, dass in der Ausstellung auch Bilder auftauchen, die älteren Datums sind, um zu zeigen, dass sich mein Blick nicht wesentlich verändert hat. Eher die Tatsache, dass ich heute vor allem mit dem Mobiltelefon fotografiere und nicht mehr mit der Spiegelreflexkamera, hat dazu geführt, dass ich die Kamera immer dabei habe. Auch schätze ich, dass das Handy vielmehr ein Vermittler zwischen mir und dem Motiv ist und meinem Blick besser entspricht. Bei Einführung der digitalen Kameras hat mich noch gestört, dass man nicht mehr durch den Sucher, sondern übers Display schaut. Heute weiß ich genau das zu schätzen. Mir fiel auf, dass ich durch den Sucher, wie der Name schon sagt, die Perspektive erst suche, nachdem ich das Motiv schon gefunden habe, und teilweise meinen Blickwinkel korrigiere.
Was macht die Fotografie mit Handy und für Instagram so besonders für dich?
Wenn ich heute die Handykamera zwischen mich und das Motiv halte, entspricht das viel mehr meiner Art, zu sehen. Mir gefällt auch, dass die Geste etwas von Hamlet hat, der mit ausgetrecktem Arm den Totenkopf des Narren betrachtet und über Vergänglichkeit philosophiert; als ein Vanitas-Motiv und Memento mori.
Welche Rolle spielt die Popkultur in deiner Kunst?
Ich bin in den achtziger Jahren, der Hochzeit der Popkultur, großgeworden und sozialisiert. Pop ist der Kult der perfekten Oberfläche und die Negation alles Brüchigen und Tiefgehenden. Ich habe für mich erkannt, dass mich das unglücklich macht, weil es mich an eine Welt glauben lässt, die es nicht gibt. Es ist wie ein Instrument des Kapitalismus, weil es glücksverheißend ist und Sehnsüchte weckt, die wir meinen, mit Konsum befriedigen zu können. Deswegen ist die Droge das treffendste Sinnbild. Sie wird zum Selbstzweck. Nicht mehr das Erleben ist das Ziel, sondern die Befriedigung der Sucht, das Sehnen danach. Sehnsucht als Zustand. Davon erzähle ich in meinen Bildern.
Wie betrachten andere Künstler dich?
„Lars Eidinger ist sein eigenes Gegenteil“, sagte einer meiner liebsten Künstler, John Bock aus Berlin, einmal.
Im Video Erschaffung Lars von Deichkind warst du an der Erschaffung eines 200 Quadratmeter großen Bildes beteiligt: als menschlicher Pinsel. Wie hat sich das für dich angefühlt?
Ich war schon immer ein großer Deichkind-Fan. Schon 2007 habe ich sie in unserer Hamlet-Produktion an der Berliner Schaubühne zitiert. Sie waren für mich immer Inspirationsquelle und Referenz. Mittlerweile habe ich in vier ihrer Musikvideos mitgewirkt. Die Idee, mich als menschlichen Pinsel zu benutzen, erschien mir erst nicht realisierbar. Aber die Umsetzung schier utopischer Vorhaben zählt zu einer der großen Talente des Künstlerkollektivs. Das macht sie so visionär. Ähnlich wie die Dreharbeiten zu dem Video Keine Party, das wir an nur einem Tag gedreht haben, war die Arbeit an Die Erschaffung des Larskörperlich sehr anstrengend. Wir hatten unterschätzt, was es bedeutet, mit einem Körpergewicht von 90 Kilo über eine Leinwand gezogen zu werden. Es hatte einen Effekt, wie beim Fußballspielen über Kunstrasen zu rutschen. Ich war am ganzen Körper von Schürfwunden übersät. Auch dieses Video haben wir an einem Tag bis früh in die Morgenstunden gedreht.
Neben der Kunst bist du auch einer der gefragtesten Schauspieler. Was bedeutet das Schauspielen für dich?
Je länger ich den Beruf ausübe, je mehr möchte ich eigentlich aus dem gestalterischen Moment heraus, weil ich an den nicht mehr glaube. Das hat tatsächlich etwas Rückwärtsgewandtes, wenn ich mir vorher überlege, wie ich etwas mache, und das dann umsetze. Dann hat es in dem Moment nicht die Gültigkeit, die es erfahren könnte, weil es ja etwas aus der Vergangenheit ist, das einen Anspruch auf die Zukunft erhebt. Das ist für mich ja auch der Grund, warum ich so am Theater festhalte, weil das Theater im Gegensatz zum Film die Vergänglichkeit und die Endlichkeit feiert und kultiviert, und der Film, das sagt ja schon das Vokabular – beim Film sagt man, „die Szene ist gestorben“ –, versucht etwas festzuhalten, das widerspricht im Grunde dem Leben. Theater heißt Loslassen, und daran glaube ich, das ist die Schönheit dessen. Wenn ich jemandem einen Strauß Schnittblumen überreiche, dann besteht die Erotik in dem morbiden Charme, dass diese Blumen schon vergangen sind. Einer Topfpflanze hingegen fehlt diese Erotik.
Im letzten Tatort Borowski und der gute Mensch, in dem du mitgespielt hast, stellst du den unheimlichen Serienkiller Kai Korthals dar. Spielst du gern Bösewichte?
Auf der Schauspielschule wurde mir prophezeit, dass ich nie Bösewichter spielen werde, weil ich eine zu nette, sympathische Ausstrahlung hätte. Das hat mich so gewurmt, dass ich zum Abschlussvorsprechen Franz Moor aus Die Räuber als Wahlrolle selbst erarbeitet habe. Ich wollte verstehen, was einen Charakter böse wirken lässt. Ist es wirklich sein Phänotyp oder seine Ausstrahlung, oder ist es vielmehr eine gewisse Abgründigkeit und Skrupellosigkeit im Denken? Rückwirkend ist es interessant, dass ich heutzutage gerade mit solchen Rollenbildern in Verbindung gebracht werde.
Du hast mal gesagt, dass du Menschen nicht so gern magst. Wie meintest du das? Gilt das auch für deine künstlerische Arbeit?
Ich kann mich mit meinem Image arrangieren, und ich kann es auch zu einem großen Teil nachvollziehen, woher es kommt, aber interessanterweise würde ich beschreiben, dass das Gegenteil von dem, wie ich in der Öffentlichkeit dargestellt werde, der Fall ist. Also jemand wie ich, der sehr komplexbeladen, schüchtern, zurückhaltend ist, erscheint natürlich, weil er versucht all das durch einen Energieaufwand zu kompensieren, eher arrogant und selbstbewusst. Ich würde mich als alles andere als selbstbewusst beschreiben, einfach weil jemand, der selbstbewusst ist, dieses Bewusstsein ja aus sich selbst schöpfen kann, ich hingegen werde mir selbst bewusst in der Spiegelung, also im Gegenüber, und deswegen brauche ich die Öffentlichkeit. Es gibt ein Gedicht von Thomas Brasch, welches das sehr treffend beschreibt: „Mein Beruf heißt, mich nicht verstecken, sondern öffentlich entdecken, mich zu finden, indem ich mich verliere, nicht bewahren für mich, finden will ich, seit ich lebe.“ So verstehe ich meinen Beruf.
Interview: Kevin Hanscke
Fotos: Nils Müller