Lawrence Weiners Kunst ist lesbar. Sie ist sichtbar – im öffentlichen Raum und in kommerziellen Galerien, wobei er es den Betrachtern überlässt, seine Kunst für sich selbst zu interpretieren. So zugänglich wie seine Skulpturen aus Sprache ist auch der Künstler, mittlerweile 75 Jahre alt, selbst. Er wird oftmals als komplexer Konzeptkünstler bezeichnet, dabei ist er unfassbar „straight“ – sowohl in seiner Arbeit als auch in seiner Beobachtung der Welt, der Gesellschaft und der Kunst.
Lawrence, in vielen Publikationen werden Sie als Vertreter der Konzeptkunst bezeichnet, obwohl Sie selbst sich gegen diese Bezeichnung aussprechen.
Ich bin kein Konzeptkünstler. Meine Arbeit ist nicht konzeptuell, sondern furchtbar „straight“. Ich verstehe natürlich, dass damals meiner Arbeit ein Name gegeben werden musste. Eine große Gruppe von Menschen wählte den Begriff „konzeptuell“ – das ergibt aber keinen Sinn. Konzeptuell ist ein Verhalten, aber nicht die Kunst. Die Beschreibung ist nur ein Weg, etwas Banales sehr intelligent wirken zu lassen. Der Begriff ist aber eigentlich nicht intelligent genug. Er ist nur ein Vorwand. Ich bin Künstler.
Womit beschäftigen Sie sich in Ihren Arbeiten?
Ich beschäftige mich mit gleichzeitigen und parallel laufenden Realitäten. Wir leben in der gleichzeitigen Realität. Wenn du eine Freud’sche Wirklichkeit hast oder Träume, dann handelt es sich dabei um eine parallele Realität. Diese Realitäten können nichts miteinander zu tun haben, aber sie existieren zur gleichen Zeit und am gleichen Ort. Gelegentlich überschneiden sich diese Welten. So, wie derzeit in Europa Welten miteinander kollidieren.
Europa sieht sich derzeit mit einer Flüchtlingskrise konfrontiert. Welchen Eindruck haben Sie davon?
Ich finde, die Krise ist eine furchtbare Sache, und ich kenne die Lösung für dieses Problem nicht. Aber Massenmigrationen passieren ständig, und sie funktionieren nicht, weil niemand weiß, was mit diesen vielen Menschen zu tun ist. Ich weiß, dass derzeit sehr viele Menschen nach Europa kommen, die Hilfe brauchen. Diese Menschen können nicht abgelehnt werden. Ich denke, dass die Flüchtlinge den Menschen das Wertvollste geben, was sie besitzen – ihre Kinder. Sie möchten ihre Kinder hier zur Schule schicken und sie möchten die Sprache ihres Ankunftslandes sprechen. Das ist eine gesunde Sache für eine Kultur.
Weshalb ist es für Europa so schwierig, das Problem zu lösen?
Europa hat für eine lange Zeit sehr gut gelebt, und jetzt kommen alle diese Menschen, die eine völlig andere Kultur haben und andere Werte nach Europa bringen. Das ist ein Problem, aber es ist nicht mein Problem. Ich bin Künstler und ich arbeite ohne diese Werte und gesellschaftlichen Regeln.
Wie sehr spielt der Begriff Privileg in diesem Kontext eine Rolle?
Privileg ist ein schrecklicher Begriff, aber er muss existieren. Die Menschen, die Privilegien fordern, sind jene Menschen, die bereits die meisten Privilegien besitzen. Das ist der Punkt.
Und welche Rolle hat der Begriff Freiheit in dieser Diskussion?
Freiheit ist ein wichtiger Punkt. Ich bin von Zwängen angewidert.
Wie nimmt Amerika die europäische Flüchtlingskrise wahr?
Die amerikanische Bevölkerung ist isoliert von diesem Thema. Ich lebe in New York und arbeite in Los Angeles. Diese Orte sind von der Krise in Europa nicht beeinflusst. Die Menschen in New York und Los Angeles sind in sich selbst verliebt. Sie schenken dem Weltgeschehen keine besondere Beachtung. Sie verbringen die Zeit damit, indem Sie masturbieren und sich selbst dabei betrachten. Ich denke, Europa ist auf dem bestem Weg, sich ebenso zu entwickeln.
Überrascht Sie das?
Ich bin eher enttäuscht. Manche Menschen sind so privilegiert, dass sie nicht einmal wissen, welchen Wert ein menschliches Leben hat. Und darüber wachsen wir nicht hinaus.
In Wien haben Sie im öffentlichen Raum, im Esterházypark am Flakturm gearbeitet. Diese Luftschutzanlage wurde im Zweiten Weltkrieg erbaut. Gab es einen besonderen Grund für Sie, den Turm zu bearbeiten?
Nein. Mir wurde das Gebäude damals angeboten. Ich kenne den Ort natürlich und weiß um die Geschichte dahinter. Der Turm sollte damals viele Menschenleben vor einem völlig unnötigen Krieg schützen.
Auf dem Turm steht geschrieben: Zerschmettert in Stücke (im Frieden der Nacht). Worum geht es dabei?
Es geht dabei um Geräusche. Im Wien der 1970er und 1980er Jahre konnte man nachts und tagsüber zerschmetternde Bierflaschen hören. Diese Bierflaschen wurden an Wänden zerschlagen, aber je nach Uhrzeit klang es immer anders. Das war Grund genug für mich, um damit zu arbeiten, denn es handelte sich um ein reales Phänomen.
In einem Interview haben Sie erklärt, dass es die Aufgabe von Künstlern ist, auf Dinge hinzuweisen, die andere Menschen übersehen.
Der Zweck einer Person, die sich entscheidet, künstlerisch zu arbeiten, ist es, sich der Beobachtung von Dingen zu widmen, die leicht übersehen werden. Viele Menschen sind zu müde, um ihre Umgebung wahrzunehmen. Es ist die Aufgabe der Künstler, aufmerksam auf die Welt und die darin enthaltenen Gegenstände und Geschehnisse zu blicken, um dann damit zu arbeiten. Das ist alles. Das ist Kunst.
Wenn Sie Ihre Kunst schaffen, womit beginnen Sie?
Wenn ich arbeite, beginne ich mit dem Material. Das Material übersetze ich dann in Sprache und schaffe eine Skulptur. Als Künstler bin ich eigentlich ein Bildhauer. Diese Skulpturen können dann im öffentlichen Raum oder in Galerien betrachtet werden, wobei ich meine Arbeit lieber in Galerien zeige, denn der öffentliche Raum ist kompliziert. Bei Gebäuden muss ich sicher sein, dass diese öffentlich zugänglich sind und dass ich Teil der Öffentlichkeit bin, da sich dadurch eine Interaktion mit der Gesellschaft ergibt.
Die Menschen sollen Ihre Arbeit sehen, aber auch lesen. Weshalb die sprachliche Übersetzung des Materials?
Meine Arbeit ist ästhetisch, und ich habe gehört, dass sie sehr sinnvoll ist. Nicht die Form ist das Wichtige dabei, sondern der Inhalt. Die Menschen, die meine Arbeit sehen und lesen, sollen einen Sinn darin finden. Und, um wieder auf das Problem der Migration und der Flüchtlingskrise zurückzukommen, die Menschen blicken zu stark auf die Form, aber auch hier zählt der Inhalt, denn ein sehr angepasster Mensch mag nicht den richtigen Inhalt besitzen.
Interview: Alexandra-Maria Toth
Fotos: Nikolaus Herzog