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Liesl Raffl, Wien

In the Studio

»Latex hat so etwas wie ein Gedächtnis.«

Die deutsche Künstlerin Liesl Raff ist für ihre skulpturalen Arbeiten mit Latex bekannt; sie bearbeitet und verändert diese Materialien, mit denen sie Räume, Atmosphären und Situationen kreiert. Sie studierte Bühnenbild in Graz und danach Bildhauerei auf der Akademie der Bildenden Künste Wien. 2024 gestaltet sie den österreichischen Pavillon bei der Gwangju Biennale und wird auch eine neue Arbeit für die Lyon Biennale produzieren. Da wie dort geht es ihr um die Schaffung eines kollektiven Moments, den die Besuchenden bei dem Betreten ihrer Installationen – sei es ein Club, sei es ein Korridor – teilen sollen.

Liesl, wie bist du zur Kunst gekommen?
Mein Großvater war Kunstschlosser; das hat mich geprägt. Als ich mit dreizehn Jahren einen Schweißkurs besuchte, fing ich an, dreidimensional zu denken. Davor hatte ich gemalt und gezeichnet.

Und wie kamst du von Stuttgart zum Studium nach Graz?
Ich wollte Kunst studieren, das hatte aber nicht geklappt, dann kam ich zum Theater. Damit wurde Bühnenbild zu einer Option und in Graz war zeitlich letzte Möglichkeit, mich im deutschsprachigen Raum zu bewerben (lacht)! Ich wurde aufgenommen, aber der Gedanke an ein Kunststudium ließ mich nicht los. Allerdings habe ich für meine künstlerische Arbeit von meinem ersten Studium enorm profitiert. Danach ging ich nach Wien, an die Akademie für bildende Kunst, und studierte bei Monika Bonvicini.

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Du arbeitest hauptsächlich mit Latex, wie stellst du deine Arbeiten her?
Latex ist ein Naturmaterial – der Rohstoff kommt vom Kautschukbaum. Es gleicht Milch und wird in Kanistern verkauft. Es ist mit Ammoniak zersetzt und greift die Schleimhäute an; ich trage beim Arbeiten daher eine Maske. Ich versetze das Latex mit Farbe, solange es flüssig ist. Mir ist wichtig, ins Material einzugreifen, ich verändere und kontrolliere es, mache es haptischer, schaffe quasi malerische Arbeiten mit Farbeinschlüssen. Übrigens sieht man erst beim Trocknen die Farbe, weil das Material in flüssigem Zustand weiß bleibt! Es trocknet dann an der Luft und wird zur gummiartigen Haut.

Damit machst du es zu etwas Eigenem?
Ja, ich verbinde es auch immer mit industriellen Materialien, wie zum Beispiel mit Polyesterseilen: Die Halterung für die Arbeiten gieße ich gleich mit ein, weil ich im Nachhinein nichts mehr manipuliere. Die Größe und Aufhängung der Werke stehen also beim Produzieren schon fest.

Gießt du auf dem Boden?
Meist auf Tanzboden, dazu baue ich eine Außenform. Dabei ist mir wichtig, dass der Boden keine Poren hat, keine Informationen in sich trägt. Wenn aber zufällig noch Latexreste auf dem Boden sind, gieße ich die nächste Arbeit drüber, diese trägt dann die Spuren von jener davor. Auch die Metallformen reinige ich nicht: Sollten dort noch Spuren von Latex drinnen sein, gieße ich die nächste Arbeit nach und es bleibt daran kleben. So sind alle Werke miteinander verwandt.

Aber sie können auch für sich stehen?
Ich habe den Anspruch an jede Arbeit, dass sie auch alleine bestehen muss. Egal in welchem Raum: ob Studio, White Cube oder Altbaupalais. Ich will mich nicht auf bestimmte Konstellationen festlegen, sodass ich die Arbeiten immer wieder woanders miteinander in Verbindung setzen kann.

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Wie würdest du deine Kunst definieren?
Das ist eine schwierige Frage. Aber ich sehe mich schon als klassische Bildhauerin, so wie ich mit Material umgehe, wie ich Räume, Atmosphären und Situationen schaffe. Meine Skulpturen sind vielleicht eher sozial, zugänglicher.

Interessant ist, dass deine Kunst am Foto viel weniger lebendig aussieht als live bei einem Studiobesuch …
Stimmt, und das ist auch der Grund, warum ich noch keinen Katalog rausgebracht habe. Das Problem meiner Arbeiten ist, dass die Abbildungen das Gesamte oft nicht rüberbringen. Es geht viel um das Atmosphärische, um den Detailreichtum, um den Moment mit der Arbeit, oder neben ihr und am Foto sehen sie manchmal fast industriell aus. Dabei sind die Arbeiten eigentlich malerisch: Sie beinhalten Pigmentstörungen, Luftblasen und Irritationen und das Material ist auch meist nicht gleich dick.

Ist es eine Schwierigkeit in der Rezeption deiner Arbeit, dass sie mehr im persönlichen Kontakt wirkt?
Nein, ich finde das gut. Es gibt ja viele Arbeiten, die nur auf Abbildungen gut aussehen. Meine Arbeiten brauchen aber die persönliche Erfahrung. Sie treten in Kontakt mit den Menschen, und das funktioniert nur über deren Präsenz im Raum. Um meine Arbeit wirklich zu verstehen, muss man davor, daneben oder dahinter sein. Gerade wenn Menschen ins Studio kommen und zum ersten Mal meine Arbeiten sehen, merke ich, was für ein Erlebnis das ist!

Mir ging es genauso!
Das ist das lustige an diesen Arbeiten, dass sie das können: Menschen überraschen. Die sich denken: „Das ist ja krass!“ (lacht). Und natürlich spielt der Geruch nach Latex auch eine Rolle.

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Wie bist du auf Latex gekommen?
Die erste Arbeit mit Latex entstand für Salvatore Viviano in der One Work Gallery, das war etwa 2016. Ich brauchte Aufhängungen für die Metallarbeiten, die ich damals noch produzierte. Die sollten aus einem flexiblen, aber stabilen Material sein; so kam ich auf Latexschnüre. Dabei entdeckte ich, dass dieses Material viel mehr Potential hat! Dass ich es als primäre Arbeit nehmen müsste, aber dafür wiederum eine starre Aufhängung aus Metall schaffen – also das genaue Gegenteil von dem, was ich bis dahin gemacht hatte.

Was gefällt dir so an Latex?
Es ist ein emphatisches Material: Es nimmt die Form von anderem an. Latex hat so etwas wie ein Gedächtnis. Wenn ich es um eine Form herumdrehe, und es nach einer Woche abnehme, bleibt es so. Es ist kontrollierbar, aber auch unkontrollierbar.

Was ist der unkontrollierbare Aspekt?
Man muss sich darum kümmern, es pflegen. Es ist ein Material, mit dem ich behutsam sein muss. Ich mag es, wenn man sich bemüht, also auch im Allgemeinen, etwa was Beziehungen betrifft.

Gibt es dir viel zurück?
Oh ja, extrem viel. Es sucht Kontakt zu mir, es findet ein Dialog zwischen dem Material und mir statt. Es hat ein Eigenleben, macht auch was es will, und gibt mir unglaublich viele Ideen für Arbeiten und Formen.

Darf man deine Arbeiten angreifen?
Sie sind wie gesagt pflegebedürftig. Schweiß mögen sie gar nicht! Aber auf alle Arbeiten, die aus meinem Studio rausgehen, habe ich zusätzlich Pflegematerialien wie Talkum oder Silikonöl aufgetragen. Damit gehe ich so großzügig um, dass es schon Teil der Arbeit geworden ist; auch sichtbar in den Materialangaben zu jeder Arbeit.

Wenn ich etwas kaufe, muss ich es auch zuhause pflegen?
Ja. Nicht jede Woche, aber man muss sich schon darum kümmern. Sammler bekommen dadurch einen anderen Bezug zur Arbeit, weil sie sie angreifen, sie einreiben müssen. Allerdings wandelt sich Latex so oder so, das ist auch eine Qualität, die ich sehr daran schätze. Es ist eben kein synthetisches Material! Ich persönlich mag es, wenn die Dinge um mich herum sich verändern, weil ich Statik unglaublich furchtbar finde.

Verwendest du auch andere Materialien?
Ich liebe Leder. Weil es auch lebt und man es pflegen muss. Wenn ich es feucht mache und über eine Form ziehe, behält es diese Form. Es ist ein interessantes, weil viel widerspenstigeres Material, so eine große Lederhaut hat etwas von einem Stahlblech. Leder vernähe ich und ziehe es über Metallteile.

Wenn du eine Ausstellung machst, wie wichtig ist dir die genaue Positionierung deiner Werke?
Die Abfolge der Arbeiten steht manchmal schon vor der Arbeit selbst fest. Ich mag eine klare Hängung sehr, weil meine Werke so viel Information im Detail beinhalten. Man soll durch meine Ausstellung gehen, die Information an sich vorbei ziehen lassen … und dann kommt der Moment, in dem man stehenbleibt und sich konzentriert einer Sache widmet.

Welche Information soll der Betrachter bekommen?
Erstens ist mir wichtig, dass Menschen sich wohlfühlen. Ich versuche in jeder Ausstellung, Rückzugsorte zu schaffen, wo man runterkommen kann. Weil ich glaube, dass man sich so eine Ausstellung in einem ruhigen Zustand ansehen sollte. Ich interessiere mich für transitorische Räume und Momente.

Das erinnert an den Architekten Luis Barragàn, den du immer wieder als Inspiration nennst!
Als eine ganz wichtige! Alles veränderte sich mit dem Besuch eines Hauses von Barragàn in Mexico City. Zuerst wartete man in einem Vorraum, wobei eine schöne Stimmung entstand, weil alle runterkamen. Und dann lernte ich, dass Barragàn in jedes seiner Häuser einen solchen transitorischen Raum mit einplante. Das funktionierte dort so unglaublich gut, man ging danach mit so einer Konzentration durch das Haus … Ich war sehr berührt und wollte, dass es den Menschen in meinen Ausstellungen genauso geht. Seitdem bemühe ich mich, bei jeder Präsentation einen Raum oder Ort zu haben, in dem man zu sich kommen kann.

Das ziehst du in allen Ausstellungen durch?
Ja, ich versuche es zumindest, jeder und jede soll das Draußen abschütteln, sich auf die Kunst konzentrieren und im besten Fall anders rausgehen: Weil die Arbeiten Kontakt zu einem gesucht haben, weil sie einen berühren und runterfahren. Alle sollen spüren, dass in meinen Arbeiten eine positive Energie und ein positiver Arbeitsprozess stecken: Bei mir wird nichts weggeschnitten, nichts ist destruktiv. Alles fügt sich zusammen. Ich gehe so behutsam mit dem Material um, und es ist mir wichtig, dass die Besuchenden das merken.

Du willst also Behutsamkeit und Positivität vermitteln – kurzum: ein Gefühl?
Ein Gefühl, genau. Ich kann runterfahren, mich verstecken, zur Ruhe kommen … Und dieses Gefühl mit anderen in einem Raum zu haben, einen kollektiven Moment zu schaffen, ist das, was mir sehr wichtig ist.

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Diese Harmonie kommt auch in deinen Farben zum Ausdruck?
Latex kann von der Farbe her nie aggressiv werden. Es dunkelt nach, die Farbe wird gedämpfter. Für viele hat Latex vielleicht etwas fetischmässiges, aber nicht bei mir. Ich mag es, Dinge so zu verändern, dass die Lesart eine andere wird. Ich verwende das Material auch mal ganz zart, trage es mit dem Pinsel auf.

Das hast du zum Beispiel in deiner großen Einzelausstellung am Franz Josefs Kai 3 gemacht?
Stimmt. Vor mir hatte Jeremy Deller dort eine Soloausstellung, an den Wänden waren noch riesige Farbflächen. Diese durfte ich wiederverwenden und legte einen Latexschleier drüber; damit war die vergangene Ausstellung noch im Raum eingeschrieben. Durch diesen Schleier fühlte man sich wie in einem Kokon. Dazu verwendete ich weiß eingefärbtes Latex.

Die Ausstellung bespieltest du auch mit gewebten Latexarbeiten?
Da waren Riesenarbeiten, handgegossene Latexschnüre, dann verwebt, die Profile aus Metall sind Gussformen anderer Arbeiten und hier Teile des Webrahmens, welcher wiederrum auch die Aufhängung war.

Im Untergeschoss der Ausstellung hattest du den Club Liaison geschaffen. Was war das?
Die ganze Ausstellung hieß Liaison, weil meine Materialien eigentlich sehr oft eine Liaison miteinander eingehen; Kuratorin war Fiona Liewehr. Ich hatte unter der Bedingung zugesagt, dass ich in diesem großen Space im Untergeschoss einen Club bauen dürfte. Die Wände wurden mit violettem Latex bemalt, alle Behänge waren aus violettem Latex gegossen. Für die Performances, die im Club stattfanden, arbeitete ich mit Carolina Nöbauer zusammen.

Der Club hat also als solcher funktioniert?
Ja, es gab eine Bar und eine Bühne. Ich wollte unterschiedliche Leute verbinden und das Szenenhafte in Wien öffnen. Das hat wirklich gut funktioniert. Der Club war jeden Abend voll, mit ganz unterschiedlichen Menschen, das habe ich geliebt!

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Du arbeitest so viel mit Latex – hast du je Ermüdungserscheinungen?
Ja (lacht). Es ist schon viel, denn für den österreichischen Pavillon für die Biennale in Gwangju im September 2024 arbeite ich ja wieder damit! Der Vorhang hier im Studio ist zum Beispiel ein Ausschnitt für den Pavillon.

Wie kamst du zu dem Auftrag?
Als ich die Ausschreibung für Gwangju mit dem Thema „Pansori – a soundscape for the 21st century“ las, war das so im Einklang mit dem, was wir für den Club Liaison gemacht hatten … So reichte ich, wieder mit Fiona Liewehr als Kuratorin und Carolina Nöbauer als Performance Kuratorin, einen Vorschlag ein, mit einem anderen Raumkonzept. Dort wird es Perfomances von in Österreich und Korea lebenden Künstler*innen geben. Ein neuer Raum, der sich für eine neue Liaison öffnet.

Wie kann man sich die Arbeit daran vorstellen?
Ich gieße die Arbeiten seit Januar, es gibt circa 60 Latexvorhänge. Man betritt den Raum und steht mitten auf der Bühne. Die Vorhänge bilden einen U-förmigen Korridor, sie hängen geschichtet und enden 50 cm über dem Boden. Im Korridor befinden sich Leuchtobjekte, wie eine Art Umgangslicht.

Was gibt es noch für Pläne?
Die Biennale in Lyon! Sie eröffnet Mitte September 2024. Dafür mache ich eine neue, große Latexarbeit – es ist also ein großes Latexjahr. Dann kommt vielleicht eine kleine „Latexpause“ und ich habe wieder mehr Zeit fürs Leder.

Was hältst du von Wien als Ort zum Arbeiten und Leben?
Ich arbeite und lebe sehr gerne hier, ich mag das unaufgeregte, langsame, da kann ich mich sehr gut konzentrieren, arbeiten und entspannen. Und ich liebe meine Freunde hier!

Blind (Grün), 2023, Latex, Stahl, Garn, Seile, Talkum, 200 x 225 x 10cm, Foto: Peter Mochi

About Palms, Snakes, and Tongues, Sophie Tappeiner, Wien / AT, 2020, Cascade, 2020, Palmenblatt, Latex, Talkum, Stahl, Aluminiumdraht, Seil, 335 x 150 x 120cm, Foto: Peter Mochi

Liaison, FJK3 Raum für zeitgenössische Kunst / AT, 2023, Den, 2022, Latex, Seil, Jute, Pigment, Silikonöl, 270 x 130 x 100 cm, Foto: Simon Veres

Liaison, FJK3 Space for Contemporary Art / AT, 2023, Ausstellungsansicht, Foto: Peter Mochi

Interview: Alexandra Markl
Fotos: Maximilian Pramatarov

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