Lúa Coderch aus Barcelona erzählt gern davon, dass sie ein Kind des Amazonas ist. Sollte diese Tatsache beeindrucken, dann hat die Künstlerin genau das erreicht, was sie wollte. Lúa Coderch recherchiert und analysiert die Oberfläche von Dingen und die Materialität von persönlichen und historischen Erzählungen. Sie stellt Fragen nach der ästhetischen Qualität von Begriffen wie Aufrichtigkeit, Begeisterung, Wert und Täuschung, wobei sie unterschiedlichste Medien und Strategien anwendet. Wir besuchten Lúa in ihrem Atelier am Stadtrand von Barcelona. Sie erzählte uns, wie sie über Ebay eine mysteriöse Schatulle aus dem Weltall kaufte, und wir erfuhren einige eher unbekannte Hintergründe über den Deutschen Pavillon von Mies van der Rohe in Barcelona, der auch Anlass für eine ihrer ikonischsten Arbeiten bot.
Lúa, wir befinden uns in deinem Atelier, etwas außerhalb von Barcelona. Kannst du uns etwas über diese Gegend erzählen?
Wir sind hier am Stadtrand, in einem Gebiet, das gerade erst wieder am Aufleben ist. Die Mieten sind hier noch ziemlich niedrig, was der eigentliche Grund war, warum wir hierhergekommen sind. Wir liegen aber schon ziemlich abgeschlagen. Das Gebiet heißt übrigens L’Hospitalet de Llobregat, so weit weg vom Zentrum sind wir also, dass wir nicht mal mehr Barcelona dazu sagen (lacht). Aber die Stadtverwaltung hat, natürlich nicht ganz uneigennützig, in den letzten Jahren viel unternommen, um die Gegend zu beleben, zum Beispiel, indem sie leer stehende Industrieflächen umgewidmet und Designakademien, Künstlern und anderen Kreativen angeboten hat. Dieser Prozess der Gentrifizierung ist problematisch und spricht nicht ausschließlich von Fortschritt, man kennt das ja aus vielen europäischen Städten. Der Bezirk wird dadurch aber natürlich lebendiger, und ich fühle mich wohl hier.
Es ist ein ziemlich großes Gebäude. Teilst du den Raum mit anderen Künstlerinnen und Künstlern?
Ja, außer mir gibt es noch vier weitere Künstler. Direkt nebenan auf diesem Stockwerk ist ein großer Open Space. Und dann gibt es noch eine Gruppe von sieben weiteren Künstlern im ersten Stock. Momentan kann ich euch leider mit niemandem bekannt machen, denn die ARCO ist eben erst vorüber, und alle sind noch bis Ende der Woche in Madrid. Ich bin selbst erst seit gestern zurück.
Die ARCO Madrid ist das wichtigste Event der spanischen Kunstszene.
Auf jeden Fall. Ob man will oder nicht, fast jeder geht Jahr für Jahr hin, um zu sehen, woran die anderen im letzten Jahr gearbeitet haben.
Bleibst du eigentlich lieber für dich, oder suchst du auch öfter den Kontakt zu deinen Künstlerkollegen im Gebäude?
Ich bin sehr froh, hier bei der Arbeit Leute
um mich zu haben. Rasmus Nilausen, Pere Llobera, Sebastián Cabrera, Martín Vitality sind meine Arbeitsfamilie. Ich suche an sich eher die Zurückgezogenheit, während ich arbeite, aber ich schätze die Möglichkeit, bei anderen hin und wieder vorbeizuschauen und mit ihnen ein paar Worte zu wechseln. Alle, die hier arbeiten, sind ziemlich gut in dem, was sie tun, und ich schätze es sehr, auf diese Weise Einblick in die Arbeit von Kollegen zu erhalten.
Was ist das eigentlich für ein Lärm, der durch den Fußboden zu uns hochdringt? Es klingt ganz so, als würde jemand eine Riesenparty feiern.
(lacht) Das ist die afrikanische Kirche unter uns. Sie war schon da, als wir hier eingezogen sind. Es ist eine ziemlich lebendige Glaubensgemeinschaft. Heute am Sonntag sind natürlich alle da. Es kann teilweise sehr laut werden, aber ich finde es gut, wenn im Gebäude Leben ist.
Du machst den Eindruck eines sehr nachdenklichen Menschen. Auch die Arbeiten, die wir von dir gesehen haben, sind allesamt konzeptionell sehr tiefgründig.
Ja, da ist schon was dran. Ich persönlich glaube, dass es bei Kunst schon immer um Recherche ging. Ich verwende Kunst gerne dazu, Dinge, die um mich herum geschehen, zu untersuchen, ihnen auf den Grund zu gehen. Das kann zum Beispiel ein Fachvortrag sein oder eine Beobachtung der Beziehungen, die zwischen uns bestehen, und auch die Medien spielen für mich eine große Rolle. Es beginnt normalerweise damit, dass ich auf etwas stoße, was mein Interesse weckt. Dann versuche ich, dasselbe Phänomen in anderen Situationen oder unterschiedliche Entsprechungen des Phänomens zu finden. Daraus kann dann ein Video, ein Text, eine Fotografie oder manchmal sogar ein Event entstehen.
Gibt es denn ein paar wiederkehrende Themen, die dich in deiner Arbeit inspirieren?
Ehrlich gesagt, habe ich mir in den Anfangsjahren, und das ist gar nicht so lange her, selbst diese Frage gestellt. Ich fand damals, dass meine Interessen so breit gestreut waren, dass ich nur schwer den Überblick behalten konnte. Irgendwie frustrierte mich das. Erst nach einiger Zeit erkannte ich, dass sich meine Interessen im Grunde um ein paar wenige Konzepte drehen. Ein Thema, dem ich zum Beispiel viel Aufmerksamkeit widme, ist der Begriff von Unaufrichtigkeit. Es gibt Dinge, die nur dem Anschein nach wahr sind, sich unter der Oberfläche aber als Unwahrheit entpuppen. Die meisten Dinge, die mich interessieren, haben mit Phänomenologie zu tun. Damit meine ich, wie Dinge auf uns wirken und uns direkt beeinflussen und wir diese Wirkung dann später erst intellektualisieren. Ein anderes Konzept, über das ich gerne nachdenke, ist die Frage, wie eigentlich Wert entsteht. Meiner Ansicht nach hat Distanz viel mit dem zu tun, was wir wertschätzen. Was uns exotisch und weit entfernt erscheint, übt eine gewisse Faszination auf uns aus. Sobald wir uns nicht mehr auf unsere eigene Erfahrung verlassen können, wenden wir andere Maßstäbe an und vermuten Wert in Dingen, die uns unbekannt und unerreichbar sind. Damit spiele ich gern.
Ist das auch der Grund, warum du so gerne davon erzählst, dass du am Ufer des Amazonas geboren wurdest?
Genau. Vor zwei Jahren produzierte ich eine Videoarbeit mit dem Titel »Gold«. Es ist eine auf Video aufgenommene Erzählung, wie Wert und Charisma entstehen und wie diese Begriffe mit unserer Vorstellung von Distanz, Undurchsichtigkeit und Schein zusammenhängen. Das Video beginnt mit der Geschichte meiner Geburt am Amazonas. Was ich an dieser Herkunftsgeschichte so bedeutungsvoll finde, ist nicht ihre mögliche Seltenheit, sondern ihre ästhetische Effizienz.
Jetzt hast du uns neugierig gemacht. Erzählst du uns die Geschichte deiner Kindheit am Amazonas?
Meine Eltern waren damals als Hippies für einige Zeit in Südamerika unterwegs. Als meine Mutter wusste, dass sie schwanger war, waren sie bereits drei Monate lang flussaufwärts entlang des Amazonas gereist. Sie entschieden sich, dort vorübergehend sesshaft zu werden, und bauten in einer kleinen Gemeinde eine einfache Hütte, in der sie auf meine Geburt warten konnten. Das war 1982, in einem Ort namens Santa Clara de Nanay, in der Nähe von Iquitos. Hier lebte ich allerdings nur für wenige Monate. Ich habe daran keine Erinnerungen und mich verbindet nichts mit diesem Ort. Alles, was ich weiß, basiert auf dem, was mir erzählt wurde und was ich mir aus Bildern zusammenreimen konnte. Für mich ist diese Geschichte also fast eine Lüge. Es ist die trügerische Qualität dieser Geschichte, die mich fasziniert. Sie verfügt über Potenzial.
Bist du denn überhaupt in Peru aufgewachsen?
Nur ein Jahr nach meiner Geburt zogen wir nach Brasilien. Als ich dann fünf war, kamen wir nach Spanien. Ich glaube, so im Alter von vier oder fünf beginnen Kinder, sich selbst zu erinnern. Ungefähr zu dieser Zeit fingen meine Eltern an, mir zu erzählen, dass ich an einem weit entfernten Ort geboren wurde. Diese Idee hat sich bei mir schon so früh festgesetzt, dass ich noch gut weiß, wie ich anderen Kindern im Kindergarten erzählte, dass ich aus Peru stamme. Meine Geschichte hat mich immer zu einer Fremden gemacht.
Wie wurdest du Künstlerin?
Eigentlich sollte ich Anwältin werden und war mehrere Jahre an der juristischen Fakultät eingeschrieben. Viele in meiner Familie arbeiten in juristischen Berufen. Ich hatte den Abschluss auch schon fast in der Tasche. Es fehlten mir, glaube ich, nur noch zwei Fächer. Aber schon nach dem ersten Studienjahr hatte ich begonnen, parallel auch Bildhauerei zu studieren. Ich habe mein Jurastudium nie ganz abgeschlossen, weil ich immer mehr Zeit und Energie in meine Kunst gesteckt habe. Dabei ist diese Entscheidung eigentlich nie bewusst von mir getroffen worden. Irgendwie habe ich mich im Laufe der Zeit immer weiter weg von den Rechtswissenschaften bewegt und kam der Bildhauerei immer näher.
Jura und Kunst, ist das nicht eine wilde Kombination?
Vielleicht auf den ersten Blick, ja. Aber mein Jurastudium hat mir, glaube ich, geholfen ein abstraktes Verständnis der Welt zu erlangen. In den Rechtswissenschaften ist alles auf materielle Beweislage ausgelegt, aber diese Beweise beziehen sich wiederum auf eine abstrakte Form. Alles um uns herum kann in Rechtsformeln gedeutet werden: Eine bestimmte Geste kann zum Beispiel als Vertrag verstanden werden. Und eine bestimmte Tat, selbst eine Äußerung, kann als Verbrechen ausgelegt werden. Ich glaube, dass ich einige Erkenntnisse aus meinem Jurastudium in meine Kunst übernehmen konnte.
Würdest du dich denn als Bildhauerin bezeichnen?
Anfangs war ich tatsächlich eine ziemlich klassische Bildhauerin. Im Studium habe ich gelernt, mit Stein und Bronze umzugehen. Die Kunstakademie, an der ich studierte, war sehr konservativ, und man hat dort noch sehr viel Wert darauf gelegt, uns die formalen Regeln und Grundlagen dieses Handwerks beizubringen. Der kleine Kopf, der hier auf dem Regal liegt, stammt zum Beispiel noch aus den ersten Jahren an der Akademie. Irgendwann begann die klassische Bildhauerei aber auf mir zu lasten, denn ich beherrschte mein Handwerk zwar sehr gut, wusste aber nicht so recht, wohin ich mich eigentlich entwickeln wollte. Inzwischen arbeite ich praktisch mit allen Medien. Aber meine Affinität dazu, Dinge „abzubilden“, ist, wie ich meine, immer noch unverkennbar. Ich gestalte und arbeite genauso gerne mit Gegenständlichem wie mit Konzepten.
2014 hattest du eine große Ausstellung in der Fundació Joan Miró, die sich »La montaña mágica« nannte. Auch dort war die Idee, etwas darzustellen, sehr präsent.
Ja, das stimmt. Ich baute mir dafür ein großes Lager, welches die Hälfte des mir zur Verfügung gestellten Ausstellungsraums einnahm und in dem ich Dinge wie ein Requisiteur am Theater aufbewahrte. Das Lager war nur für einige Stunden am Tag für die Öffentlichkeit zugänglich und ansonsten geschlossen. Während der Schließzeiten bereitete ich, sozusagen hinter den Kulissen, eine neue Ausstellung für den jeweils nächsten Tag vor – jede bestand aus Objekten, Videos, Audiomaterial, Fotografien und gesammeltem Archivmaterial aus meinem Lager. Die gesamte Ausstellung dauerte 72 Tage. Ich kann euch sagen, das war eine ziemliche Tour de Force (lacht). Für jeden Tag bemühte ich mich, eine neue Forschungsreihe aufzusetzen, die aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtete, wie sich Barcelona entwickelt hat und wie sich die Stadt ihr Gedächtnis aufgebaut hat.
Eine deiner beeindruckenden Fallstudien bei »La montaña mágica« war eine lebensgroße Reproduktion der Onyx-Wand des Deutschen Pavillons von Mies van der Rohe in Barcelona. Ging es dir da auch um „Gedächtnis“?
Nach dem Ende des Franco-Regimes strebte Barcelona wieder zurück zur Moderne, also zur Vorkriegszeit. Es war ein Versuch, vierzig Jahre Diktatur und Weltabgewandtheit hinter sich zu lassen. Im Zuge dieses Prozesses fiel die Entscheidung, den Deutschen Pavillon wieder aufzubauen, der vor dem Krieg 1929 von Mies van der Rohe für die Weltausstellung entworfen worden war. Barcelona erhoffte sich, auf diese Weise seinen Rückstand aufzuholen und an das Zeitgeschehen in Europa anknüpfen zu können. Dieser Hintergrund inspirierte mich dazu, die Arbeit »International Style (onyx wall)« zu nennen, eine Anlehnung an den architektonischen Stil der 1920er und 30er Jahre.
Was ist denn sonst so besonders am Pavillon von Mies van der Rohe, dass ausgerechnet dieser so prägend für eine deiner Arbeiten ist?
Man muss wissen, dass der Pavillon 1930, also nach dem Ende der Weltausstellung, abgerissen wurde. Über die Jahre wurde der Pavillon so zum Mythos. Genau das aber war ein Grund für seine Neuerrichtung. Während des Zweiten Weltkriegs gingen die Originalbaupläne verloren. So musste der Neubau auf Basis von Archivmaterial erfolgen. Dieser Nachbau eines Abbildes hat für mich etwas Geisterhaftes. Es gab zuzeiten der Franco-Diktatur auch noch einen anderen Pavillon auf demselben Areal. Als der Deutsche Pavillon neu errichtet wurde, stand, nur wenige Meter entfernt, dieser andere riesige brutalistische Pavillon, dessen architektonischer Wert unbedeutend war. Die Nähe dieses Pavillons störte das perfekte Postkartenbild und schwächte den ikonischen Wert des Mies-van-der-Rohe-Pavillons, den man sich ja so erhoffte. Man beschloss also, die komplette Fläche um den Deutschen Pavillon herum zu räumen und den anderen Pavillon einfach abzureißen … Barcelona musste sich oft den Vorwurf gefallen lassen, nur auf sein Image bedacht zu sein. Es ist eben eine touristische Stadt.
Warum war es dir so wichtig, gerade eine Reproduktion der Onyx-Wand herzustellen?
Die Onyx-Wand stellt ganz klar das Kernelement des Pavillons dar. Mies van der Rohe hatte die Baupläne komplett um dieses zentrale Wandelement herum angelegt. Die Onyx-Wand ist das Herzstück. Diese Tatsache verleiht der Wand einen enormen Symbolcharakter. Eine aufblasbare Version der Wand konnte für mich am besten die Ironie, die Komplexität und die Unaufrichtigkeit dieser Geschichte ausdrücken.
Du hast die Franco-Diktatur erwähnt. Eine deiner anderen Arbeiten, »The Palaces Left Behind«, handelt auch von Diktaturen.
Für das Projekt habe ich Bilder von den Palästen und Wohnsitzen von Diktatoren wie etwa Gaddafi, Saddam Hussein oder Ceaușescu gesammelt. Es geht dabei eigentlich nicht unbedingt um die Tatsache, dass es alles Diktatoren waren, sondern dass sie für das gemeine Volk entfernt und unerreichbar waren, so dass diese Personen ein gewisser Mythos umgab. Als Leute wie Gaddafi in einem überstürzten Akt fliehen, all ihr Hab und Gut und ihren Luxus zurücklassen mussten, zog das natürlich Plünderer an, aber auch Leute, die einfach nur neugierig waren. Zum ersten Mal war es einfachen Leuten gestattet, Orte zu betreten, die bisher nur in ihrer Vorstellung existiert hatten. Nachdem sie also Zugang zu den Privaträumen ihres früheren Herrschers erhielten, spürten viele den Drang, das Gesehene zu dokumentieren, Gegenstände und Räume zu fotografieren und abzufilmen, um die früheren Vorstellungen auszuräumen. Als Rosa Lleó von The Green Parrot mich fragte, ob ich an ihrer Ausstellung »The World of Interiors« teilnehmen würde, wollte ich einfach etwas mit diesen Bildern und dokumentierten Gegenständen machen. Ich entwarf einen Vorhang, der als Muster eben diese Objekte zeigte, die ich in Foto- und Filmmaterial gefunden hatte.
Man könnte dich eigentlich nicht nur als Kunstforscherin, sondern auch als Sammlerin bezeichnen, oder?
Ich fühle mich eigentlich gar nicht so sehr als Sammlerin, denn die gesammelten Objekte verwende ich ja gleich wieder für meine Arbeiten. Aber da ist schon etwas dran … Ich schätze mal, ich bin doch auch irgendwie Sammlerin. Denn manchmal dauert es auch eine ganze Weile, bis etwas tatsächlich seinen Weg in ein Kunstwerk findet.
Auf jeden Fall bist du eine „Story-Tellerin“
Ja, mich interessieren Geschichten sehr und auch, wie ein Gegenstand eine Geschichte auszulösen vermag, oder auch die Umstände, die dazu führen, dass eine Geschichte selbst wieder zu einer Art Objekt wird. Ich habe über einen längeren Zeitraum Kurzgeschichten gesammelt, die man sozusagen als „Conversation Starter“ einsetzen kann. Man könnte sie vielleicht auch als kleine Parabeln bezeichnen. Ich habe zum Beispiel einmal einen seltsamen Gegenstand auf Ebay gefunden. Es war eine alte Schatulle, die eine nicht entwickelte Filmrolle enthalten sollte. Der Verkäufer behauptete, dass der Behälter von einer russischen Weltraum-Mission in den 1980ern zurückgekehrt wäre. Ich beschloss, ein Angebot abzugeben, ohne jede Erwartung, tatsächlich den Zuschlag zu erhalten, denn ich nahm an, dass sich viele Leute für so einen bemerkenswerten Gegenstand interessieren würden. Ich konnte es kaum glauben, aber ich gewann die Auktion! Ich war sogar die einzige, die überhaupt ein Gebot abgegeben hatte, was mich dann wieder misstrauisch machte. Ich hatte immerhin 124 Euro bezahlt, was man als teuer bezeichnen könnte, oder billig, je nachdem wie man es betrachten wollte. Ich fand aber, dass – sollte sich die Geschichte als wahr erweisen – die Schatulle den Preis allemal wert wäre. Ich bewahrte diesen mysteriösen Gegenstand ein ganzes Jahr lang auf, ohne zu wissen, was ich damit anfangen sollte. Irgendwie scheute ich mich davor, den Behälter zu öffnen, denn ich hatte Angst, enttäuscht zu werden.
Was hast du am Ende mit diesem mysteriösen Behälter aus dem All gemacht?
Ich bemerkte, dass die ungeöffnete Schatulle Anlass für jede Menge Gespräche unter den Leuten bot, und dass manche ziemlich schnell für sich entschieden, was sie tun würden. Manche konnten nicht glauben, dass ich den Behälter noch nicht geöffnet hatte. Andere waren der Ansicht, dass es besser sei, ihn verschlossen zu halten und seinen Inhalt für immer als Geheimnis zu bewahren. Ich entschied, eine offene Einladung auszusenden, die auf dreißig Personen begrenzt war, und organisierte ein Event, bei dem wir gemeinsam entscheiden würden, was wir mit dem Behälter tun würden. Mir war wichtig, dass wir unsere Entscheidung gleich in die Tat umsetzten. Wir hatten daher einen Fotografen bei uns, der uns mit einem kleinen Labor vor Ort helfen würde, die dreißig Jahre alten Fotos zu entwickeln, sollte es dazu kommen. Eigentlich lieferte der Gegenstand nur den Anlass für unsere Zusammenkunft. Die Leute sprachen über alles Mögliche, wie etwa Liebe, Enttäuschung, Mut und Feigheit. Das Objekt hatte seine vermittlerische Funktion voll erfüllt, aber schlussendlich gewann die menschliche Neugierde doch die Oberhand, und die Gruppe beschloss, die Schatulle zu öffnen. Die Bilder waren ein bisschen enttäuschend, denn die Kontraste waren schlecht. Aber man konnte den Sonnenaufgang und Teile der Raumstation erkennen. Vorerst noch soll aber niemand außer dieser kleinen Gruppe die Bilder sehen.
Du bist erst seit wenigen Wochen Mutter. Wie könnte sich deine Arbeit als Künstlerin ab jetzt ändern?
Es ist wahrscheinlich noch ein bisschen früh, konkret darüber Auskunft geben zu können. Unser kleiner Mann ist ja erst seit einem Monat bei uns. Ich bin gerade dabei, wieder anzufangen zu arbeiten. Wenn ich’s mir überlege, fühlt es sich schon etwas beängstigend an. In unserer kleinen Künstlerszene haben wir unter Künstlerinnen nicht besonders viele Vorbilder, die uns zeigen könnten, dass es möglich ist, sowohl Künstlerin als auch Mutter zu sein. Naja, vielleicht gibt es ein paar wenige, sehr wertvolle Vorbilder. Man sollte die Frage eigentlich aber auch an männliche Künstler stellen, denke ich. Eines ist mir schon jetzt klar: Ein Kind lässt einen ein völlig neues Gemeinschaftsgefühl entwickeln.
Was sind deine Pläne für den Rest des Jahres?
Ich arbeite an einem ziemlich umfangreichen Projekt, dass ich »Shelter« nenne. Wir werden dafür einige internationale Reisen unternehmen. Mein Team und ich (dazu zähle ich den Kleinen und meinen Partner) werden in diesem Sommer an verschiedene Orte reisen, an denen wir im Freien provisorische Schutzhütten bauen werden, aus Dingen, die wir finden können. Später werde ich darüber einen Brief schreiben, der von dem Erlebnis berichten und auch andere verwandte Begrifflichkeiten wie Sammeln, materielles Gedächtnis, oder wie wir unseren Platz in der Welt finden, abhandeln wird. Natürlich bietet der Bau der Schutzhütte nur die Vorlage für eine längere Konversation.
Interview: Michael Wuerges
Fotos: Florian Langhammer