Madeleine Boschans Plastiken lassen die Schichten historischer, emotionaler und spiritueller Absichten erfahren, die alle menschengemachten Orte und Räume ausmachen. Im Laufe der letzten Jahre hat sich die Künstlerin dabei von einem sehr direkten Arbeiten mit Alltagsgegenständen und Objets trouvés hin zu einer auf eindrückliche Farbigkeit und architektonische Monumentalität bauenden Konzentration entwickelt. Über diese Entwicklung, ihren Werdegang zwischen Sport und Reisen und wie sie überhaupt zur Skulptur fand, haben wir mit Madeleine Boschan in ihrem Berliner Atelier gesprochen.
Madeleine, wir sind hier in deinem Atelier in Berlin-Adlershof, ein gutes Stück außerhalb des Zentrums.
Das war der ehemalige Hauptsitz eines der Wachregimente der DDR, und im Zweiten Weltkrieg war mein Großvater übrigens hier stationiert. Ich bin gern hier draußen. Im Frühjahr fahre ich mit dem Rad hierher. Je weiter ich mich von der Stadt entferne, desto entspannter werde ich, und gleichzeitig ist das ein guter Gegensatz zur Arbeit im Neuköllner Büro. Die Architektur in der Gegend ist toll. In Adlershof befand sich der erste deutsche Motorflugplatz und heute ist hier der Standort des DLR [Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt]. Man forschte schon in den 1910er-Jahren und baute entsprechend funktionale Architekturen, wie den Trudelturm oder den gigantischen Windkanal. Heute sind die denkmalgeschützt und werden nicht mehr genutzt, aber man trifft sich dort. Damit beschäftige ich mich auch in meiner Arbeit: Wo und wie kommen Menschen zusammen? Wie kann es zu Kommunikation kommen? Die Plaza wie in Italien oder Griechenland gibt’s hier ja nicht.
Du würdest also gar kein Atelier im schicken Berlin-Mitte oder in Friedrichshain haben wollen?
Ach, das würde ich nicht sagen, aber die freien, noch unbebauten Flächen und der Ausblick sind wunderbare Imaginationsflächen. Ich hatte mein Atelier lange Zeit in Friedrichshain und habe es immer als eng empfunden, obwohl es ein großes Studio war … Für meine Arbeit brauche ich Raum – im Kopf und auch wenn ich nach draußen gehe. Mir gefällt die Solitude hier.
Das Etablierte ist also eher nichts für dich?
Ich reise viel und versuche an anderen, mir unbekannten Orten zu sein – einerseits als Inspiration, aber auch um Abstand zu gewinnen. Ich bin schon als Kind mit meinen Eltern viel gereist. Die verschiedenen Gesellschaftsstrukturen waren prägend. Ich komme aber auch immer wieder gerne zurück nach Berlin und versuche dann, den neuen Eindrücken eine Form zu geben.
Du sagtest eben, dass die Freude am Reisen durch deine Eltern kam. Trifft das auch auf die Kunst zu?
Mein Vater war Systemanalytiker, aber auch Erfinder. Er sagte mir immer, wenn jemand „das geht nicht“ behauptet, würde das eher bedeuteten, dass es nichts gibt, was du nicht erfinden könntest. Er war aber auch derjenige, der sagte, dass meine Mutter immer richtig läge, sogar wenn sie falsch lag. Mit meinen Großeltern war ich viel in Museen und Ausstellungen.
Aber ganz so geradlinig war deine Entwicklung hin zur Kunst dann doch nicht. Denn du kommst eigentlich aus dem Sport.
Ich war Turnerin: Bodenturnen, Reck und Schwebebalken. Bis ich sechzehn war, habe ich bei Wettkämpfen mitgemacht. Die körperliche Erfahrung, durch einen nahezu freien Raum zu rennen, Anlauf für den Absprung zu nehmen, danach wieder Stand und Halt zu finden, sich selbst genau zu positionieren und zu schauen, wohin ich mich noch ausdehnen kann … danach suche ich auch heute noch. Für mich ist das Grundanliegen der Kunst – ganz egal ob es Architektur oder Plastik oder Malerei ist –, vor allem ein Gespür für den Ort zu vermitteln, damit der Künstler und der Betrachter wissen, wo sie sich befinden.
Gibt es einen Grund, warum du den Hochleistungssport aufgegeben hast?
Das immer gleiche Exerzieren war nichts für mich …
Wie bist du dann zur Bildhauerin geworden?
Ich habe Malerei und Fotografie in Braunschweig studiert. Noch im Studium habe ich große Formate mit Collagen gefüllt und kam immer weiter in den Raum hinein. Nach meinem Abschluss bin ich dann nach Berlin gezogen. Von da ab habe nur noch analog im Vollbildformat fotografiert und mir damit die Stadt erwandert. Hauptsächlich waren es Bauten, Schatten und Farben. Dennoch war mir in dieser Arbeit zu wenig Körpereinsatz. Und während der Spaziergänge mit der Kamera fielen mir die vielen Sperrmüllhaufen auf.
Wann ist deine erste Plastik entstanden?
2008. Damals wurde ich zu einer Ausstellung eingeladen, die das Selbstbildnis zum Thema hatte. Da ich mich aber weder malen noch ein Selfie machen wollte, habe ich einfach eine Plastik gebaut. Wohlgemerkt: Sie stand auf zwei Beinen und ihr Titel war „360.000 Möglichkeiten (stärkere und schwächere)“. Das hat mir gefallen, vor allem, wie der Raum um eine Plastik herum zum Ort wird.
Hier in deinem Atelier stehen ja nur Modelle. Die Originale sind riesige Metallarbeiten. Schweißt du sie selbst?
Es gibt ja keinen Unterschied zwischen dem modellhaften Charakter einer kleinen Arbeit und einer großen. Der Gedanke, der dahinter steht, ist bei allen Arbeiten inhärent utopisch und die jeweilige Proportion und Größe sind aus dem Gesamtgefüge entwickelt, das mir als Ort der Komposition zur Verfügung steht beziehungsweise stand. – Geschweißt werden müssen die größeren Arbeiten für den Innenraum nicht, die balancieren sich durch den Grad der Winkel selbst aus. Ich arbeite hin und wieder mit einer Firma zusammen, die mir Aluminiumbleche nach meinen Entwürfen und Plänen abkantet. Farblich fasse ich sie dann selbst, weil ich meine Vibration in der Farbigkeit haben will.
Aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet, verändert sich der Charakter deiner Plastiken stark – teilweise wirken sie fragil, dann wieder sehr massiv.
Durch eine minimale Veränderung des Winkels verändert sich alles. Etwas wird schmal oder breit. Wir Menschen haben ja auch eine schmalere und breitere Seite … Wenn Bruce Nauman in den 60ern in seinem Atelier präzise Rechtecke abschreitet, ist das natürlich eine physische Erfahrung, aber vor allem ist es das Sich-selbst-Versichern der eigenen Existenz.
Deine Arbeiten wirken einerseits absolut ungesehen, aber dennoch irgendwie vertraut. Ich weiß nicht, woran das liegt.
Das kann ich dir auch nicht sagen. (lacht) Ich kann auch nicht sagen, wo man anfangen und wo man dann hingehen soll. Ich kann niemandem seinen Weg abnehmen. Den eigenen Ort muss jeder selbst finden. Es ist vielleicht eher ein Gefühl von Vertrautheit, dem man aber nicht trauen sollte. Nicht nur dem unmittelbar körperlichen, sondern auch dem sozialen. Das Fremdsein – sich selbst und anderen – ist ein Teil der Erkenntnis. Akzeptiert zu werden und sich selbst zu trauen, ist ein komplexer Prozess. Das Gefühl davon mag sich schnell einstellen, nur hat es nichts damit zu tun, dass man sich irgendwie auskennen würde. Letztlich bleibt einem doch alles neuartig. Kunst ist ja kein Minigolf-Parcours, bei dem man einfach von eins bis zehn durch muss.
Vielleicht liegt es auch daran, dass deine Arbeiten mitunter sehr archaisch wirken oder wie Stätten eines vergangenen Kultes.
Das freut mich, dass du das so wahrnimmst. Für mich ist es so, dass die Plastiken von ihrer Umgebung und den Menschen, die sie sehen, aufgeladen werden. Sie fungieren als Speicher. Das ist unaussprechlich. Das spürt man einfach.
Wie gehst du denn an eine solche Arbeit heran?
Meine Ansatzpunkte sind Fragen: Wo befinde ich mich? Wie orientiere ich mich? Wenn ich eine Ausstellung plane, will ich zuerst alles über den Raum oder den Ort wissen – geschichtlich und architektonisch. Ein bisschen wie die strategische Ausspähung vor der Besetzung eines fremden Territoriums. Einer Plastik ihren Ort zu geben, hat immer auch etwas mit Okkupation zu tun. Ich schreite den Raum ab und lege in mir eine Art sensomotorisches Archiv aus Stimmungen und Eindrücken an. Daraus ergibt sich dann der Ansatz zur Arbeit.
Geschichte und Architekturgeschichte im Speziellen sind also große Inspirationen für dich?
Ohne Kontext hat man keinen Stand. Es geht nicht nur um die Physik. Wichtig sind für mich soziale und ethische Fragen. Wo und wie kann Begegnung stattfinden? Wie ist es möglich, dass man zusammentrifft? Eine Idee von Verknüpfungsmöglichkeiten. Das eine nicht ohne das andere, der eine nicht ohne den anderen. Ein Miteinander.
Hast du konkrete Vorbilder in der Architektur? Oder schaffst du deine eigenen Orte?
Nein, konkrete Referenzen habe ich nicht, doch Vorlieben für griechische und japanische Architektur. Ich bewundere Gropius, Niemeyer, Mies van der Rohe, Wright, aber die Plastiken mit ihren Perspektiven und Winkeln kommen alle aus mir. Zuerst probiere ich mit Papiermodellen, wie etwas funktioniert, was standhält und welche Winkel ich wählen kann. Dann baue ich größer aus Schichtholz oder Gips. So kann ich ins Extreme gehen, die Winkel verändern, bis das Ganze gerade noch steht, und das Formenvokabular ausreizen.
Könntest du dir auch vorstellen, dass deine Plastiken als Bauwerke funktionieren könnten?
Als Monument oder als Treffpunkt, ja. Aber bitte ohne Glaswände oder Toiletten. (lacht) Als konkreten Ort im Außenbereich stelle ich mir meine Plastiken vor. Statt am Fernsehturm am Alex trifft man sich dann halt am grünen Portal. (lacht)
Wir hatten vorhin schon vom Reisen gesprochen. Als Künstlerin erhält man ja auch die Möglichkeit einer „Residency“. Was nimmst du für deine Arbeit aus so einem Ortswechsel mit?
Geduld, Eindrücke, Stimmungen, neue Problematiken.
Du hast irgendwann damit begonnen, dich auch mit ozeanischer und afrikanischer Kunst auseinanderzusetzen. Wie kann man sich die Brücke zu deiner Arbeit vorstellen?
Bereits vor meinem Studium habe ich ein Sammlerpaar kennengelernt, das Plastiken aus Afrika und Ozeanien sammelt und mich da rangeführt hat. Ich war sehr fasziniert und habe begonnen, mich intensiver mit Ritus, Bedeutung, Sprache und Gesellschaft auseinanderzusetzen. Auch heute noch interessieren mich komplexe Systeme des Zusammenlebens und -arbeitens unterschiedlichster Gesellschaften. Ich habe auch eine eigene, kleine Sammlung von Figuren und Alltagsgegenständen (die, die ich mir leisten konnte) vorrangig aus der Gegend um die Elfenbeinküste und bin immer wieder erstaunt über die teils elegante und für unseren „westlichen“ Blick kühne oder auch groteske Formensprache.
Eine weitere Inspirationsquelle ist für dich auch die Literatur. Wie übersetzt du literarische Inspiration in deine skulpturalen Arbeiten?
Das Ausmaß der Beziehungen unterschiedlicher Körper in einer extremen, räumlichen Situation und die elementare Frage, kann ein Körper dort sein, wo eigentlich kein zweiter sein kann? Das kommt zum Beispiel von Beckett. Im Werk von Frank O’Hara dagegen herrscht ein spürbarer Wechselbezug von äußerer und innerer Erfahrung. Zu seinen präzisen Alltagsbeobachtungen kommt seine subjektive Selbstaussage. Hierbei wird die Spaltung zwischen der Welt und dem Subjekt (dem Ich) deutlich. Ebenso klar ist, dass das zusammengehört. Daher stellt sich die Frage, wie wir eigentlich in die Welt passen, ohne uns selbst zu verlieren? Der wechselseitige Bezug zwischen den Plastiken und Gedichten ist wie in jeder Beziehung zu verstehen. Was trifft und berührt uns? Das Nahe, das Ferne? Das Distanzierte oder das Innige? Ist da ein anwesendes oder eher ein abwesendes Miteinander? So entsteht in diesem Resonanzraum eine ästhetische Erfahrung, die fragt, wer spricht, von woher und wen an. Die Sensibilität für die gegenständliche Wirklichkeit und für die im gleichen Maße herrschende Abstraktion hat etwa eine Resonanz im plastischen Denken Rainer Maria Rilkes, der in seiner Pariser Zeit ja Rodins Privatsekretär war und unter anderem mit dieser Erfahrung seine Neuen Gedichte schrieb.
Sonst spielt ja eher Farbigkeit eine große Rolle in deinen Arbeiten. Welches Konzept verfolgst du bei den Farben, die du auswählst?
Auch hier ist es wieder so, dass der Ort, der mir zur Verfügung steht, ausschlaggebend ist. Die Plastiken, die 2015 in der Neuen Galerie Gladbeck gezeigt wurden, haben einen Anklang an die Farben der Art déco-Architektur Miamis sowie an die Farben der 1980er … Miami Vice zum Beispiel. (lacht) Die Farbigkeit der Arbeiten, die ich im Februar 2016 in meiner Galerie in Tel Aviv gezeigt habe, entstammt der antiken Polychromie. Ausschlaggebend war die Entdeckung eines antiken, griechischen Tempels unter einem Jerusalemer Parkplatz sowie die Annahme, dass Räume stets kulturell und historisch wandelbar seien. Der Begriff „antike Polychromie“ kommt aus dem 18. Jahrhundert. Dass Tempel und Statuen bemalt waren, war bis dahin nicht bekannt. Viel eher folgte man Winckelmanns klassizistischem Schönheitsideal, dass nur das pure Weiß das Sonnenlicht so reflektieren könne, dass die Schönheit der Körper wirklich zur Geltung käme. Alles Quatsch, und genauere Untersuchungen entfachten den sogenannten Polychromie-Streit – der bis zum Zweiten Weltkrieg dauerte. Erst wirklich hat dann Vinzenz Brinkmann mit modernen Untersuchungsmethoden festgestellt, dass die Skulpturen und Tempel tatsächlich bunt waren – auch selbst die Akropolis war überzogen von Grün, Ocker, Rosa, Violett und Hellblau.
Das war für viele ein Schock. Auch weil die griechischen Tempel in Weiß eigentlich ziemlich schön aussehen.
Ja, so sphärisch, abgehoben … und man hielt jahrelang daran fest, es sei bloß eine barbarische, etruskische Sitte gewesen, Skulpturen bunt zu bemalen … Nach dem Zweiten Weltkrieg ebbte die Diskussion vorerst ab. Kein Wunder also, wenn in unseren Köpfen weiterhin Winckelmanns marmorweiße, antike Denkmäler eingebrannt sind … Die Farbfassung war aber keine Nebensache, das zeigen die Farbpalette und die reiche Ornamentierung der Skulpturen und Tempel. Der Kult wollte der Realität so nahe wie möglich kommen. Das ist vielleicht so ähnlich wie die Porzellanfiguren und Szenerien, die an barocken Tafeln auf Spiegeln standen und vom Kerzenlicht zum Flackern gebracht wurden. Das ist eine lebendige, spielerische Welt. Im antiken Griechenland bedeutete dies das direkte Zusammenleben mit den Göttern.
Was steht für dich als nächstes an, Madeleine?
Ich arbeite … Ja, im Moment bereite ich meine nächste Einzelausstellung für die Galerie Bernd Kugler in Innsbruck vor, die Anfang Juni eröffnet. Hier bin ich gerade dabei, fünf neue begehbare Plastiken aus Metallblech herzustellen, die den Betrachter inmitten von Intimität und Irritation, Nähe und Distanz bringen. Die Betrachter werden Räume betreten können, die sich aus einzelnen plastischen Modulen bilden, die ich wiederum aus der menschlichen Proportion entwickle. Da bin ich schon gespannt, was für Handlungen und Kommunikationsmöglichkeiten das provozieren wird! Und währenddessen arbeite ich an Papier- und Gipsmodellen für eine Ausstellung kommendes Jahr in Zürich und sinne entweder über den Brutalismus nach oder höre Pergolesi.
Interview: Michael Wuerges
Fotos: Florian Langhammer