Miao Ying hat schon immer Technologie in ihre Kunst einbezogen. Zunächst untersuchte sie, wie diese die Zensur in China ermöglichte, indem sie die Kernsprache des heutigen Internets, den Humor, und andere damit verbundene Attribute wie visuelle Lo-Fi-Elemente, kitschige Bilder und GIFs aufgriff. In letzter Zeit versucht Miao, der künstlichen Intelligenz Einhalt zu gebieten und Wege der Zusammenarbeit mit ihr zu finden, denn abgesehen von den negativen Aspekten der künstlichen Intelligenz hat sie durchaus auch etwas Magisches an sich.
Ying, du wurdest in Shanghai geboren und bist mit der chinesischen Wirtschaftsreform aufgewachsen, die das Land für ausländische Investitionen und Technologien öffnete, dem Aufkommen des Internets und der Ein-Kind-Politik des Landes. Wie hat sich dies auf deine Arbeit ausgewirkt?
Meine Generation ist mit dem Internet und dem PC aufgewachsen. Ich hatte immer das Gefühl, dass es eine Zweiteilung gibt, denn in China herrscht eine strenge Zensur. Während das Internet also ein Werkzeug zur Erkundung ist, funktioniert die Technologie auch als ein Instrument, das die Unterdrückung unregulierter Erkundungen ermöglicht. Ich habe miterlebt, wie sich das Internet entwickelt hat, noch bevor es Google in China gab, wie es sich mit dem Aufkommen der Social-Media-Plattformen weiterentwickelte und wie die Regierung gegen die westlichen Plattformen vorging, die dann durch lokale Tech-Unternehmen ersetzt wurden. Damals, im Jahr 2010, lag der Schwerpunkt meiner Arbeit auf der Selbstzensur. Da es Einschränkungen bei der Nutzung des Internets gibt, können die Menschen die Zensur umgehen, indem sie beispielsweise Memes erstellen, eine Form der menschlichen Kreativität, die durch die Zensur entstanden ist. Als Ausländerin betrachte ich das Internet aus einer anderen Perspektive. Die Menschen sind sich bewusst, was sie dem Algorithmus zur Verfügung stellen. Wenn ich etwas schreibe, dann zensiere ich mich selbst und bin sehr vorsichtig, während die Menschen im Westen glauben, dass sie Redefreiheit haben.
Bereits dein erstes Kunstwerk Blind Spot (2007) war ein wichtiges Statement gegen die Zensur. Es handelt sich um ein 1.869 Seiten starkes Mandarin-Wörterbuch, das von Hand kommentiert wurde, um aufzuzeigen, wie viele Suchbegriffe zu dieser Zeit in China zensiert waren. Wie bist du auf diese Idee gekommen und was war das Ergebnis?
Von den 56.000 Einträgen waren 2.000 als Internet-Suchbegriffe zensiert worden. Ich erfuhr in den Nachrichten, dass Google in China aktiv wurde und sich bereit erklärt hatte, Wörter zu zensieren, die die chinesische Regierung nicht sehen wollte, und es wurde angenommen, dass sich nur wenige die Mühe machen würden, herauszufinden, welche Begriffe genau die Liste der zensierten Einträge aufwies. Ich stand kurz vor meinem Studienabschluss und bereitete mich auf die Präsentation meiner Abschlussarbeit vor, und ich wollte wissen, wie umfangreich die Liste war und welche Wörter die Regierung zu zensieren für notwendig hielt. Diese Arbeit interessierte mich nicht nur aus Neugier auf die Zensur, sondern auch, weil ich für diese Aufgabe zehn Stunden am Tag arbeiten musste, indem ich einen einfachen Vorgang manuell wiederholte, der normalerweise vom Programm automatisch ausgeführt wird, und ich dadurch an die Grenzen meiner Fähigkeit als Maschine stieß. Es war eher eine Performance, bei der ich mich zwang, weiter zu suchen; ich versuchte, nicht an einen Grund zu denken, warum ein bestimmter Begriff zensiert werden könnte, sondern ihn einfach im Wörterbuch als etwas zu vermerken, das aus dem Wörterbuch gelöscht werden würde.
Wie lange dauerte deine Arbeit an Blind Spot?
Ich arbeitete drei Monate lang daran. 2007 gab es interessanterweise 2.000 zensierte Wörter, aber 2008 waren es nur noch 80, weil wegen der Olympischen Spiele in Peking viele Ausländer in China waren und die Regierung jegliche Kontroverse über die Zensur herunterspielen wollte. Im Jahr 2010 verließ Google schließlich China. Jedes Mal, wenn ich in den USA über diese Arbeit spreche, konzentriert sich die Öffentlichkeit nur auf die Aspekte der Zensur in China. Aber das ist nicht die ganze Geschichte, denn es geht auch darum, wie die chinesischen Technologieunternehmen selbst Geschäfte machen. Seit dem Weggang von Google gibt es jetzt eine Doppelsuchmaschine namens Baidu, die strenger ist, als Google es je war. Wenn man bei Google einen Begriff eingab, der zensuriert worden war, erschien unten auf der Seite die Meldung: „Gemäß den lokalen Gesetzen wurde dieses Ergebnis gefiltert.“ Bei Baidu erfährt man nichts, es wird nur zensiert. Google hat seine Niederlassung in Peking nie geschlossen und versucht, wieder auf dem chinesischen Markt vertreten zu sein. Einige Jahre nach der Schließung hat Google einen modifizierten Algorithmus namens „The Dragonfly“ entwickelt, der alles zensieren sollte, was die chinesische Regierung verlangte, doch Proteste von Google-Mitarbeiter*innen haben diese Bemühungen beendet.
Du arbeitest mit verschiedenen Medien, darunter Malerei, Video und Installation, verwendest aber auch GIFs. Wie wurde dieses in den sozialen Medien beliebte Format in dein Projekt Chinternet Plus einbezogen, das eine Parodie auf die 2015 von der chinesischen Regierung eingeführte Strategie „Internet Plus“ ist?
Chinternet Plus wurde vom New Museum in New York in Auftrag gegeben und war eine gefälschte Lifestyle-Ideologie-Marke des echten chinesischen Ideologie-Internet Plus. Sie besteht aus einer Website und einer Multimedia-Installation. Eines der Werke in Chinternet Plus – Problematic Gifs ist ein Bild von Mao Zedong, das ich absichtlich selbst zensiert habe. Dieses wird nicht ganz von oben geladen, sondern nur bis zu seiner Stirn. Im Hintergrund sind alle GIF-Sticker von WeChat zu sehen. Die Menschen in China nutzen WeChat, weil es eine App ist, die alles vereint. Es ist Facebook, es ist Instagram, es ist Apple Pay. Es ist eine Alles-was-du-willst-App, und man muss sie nie wieder verlassen. Es gibt keine anderen gleichwertigen Apps, alles ist in WeChat enthalten, was auch bedeutet, dass alle Daten bei einem einzigen Unternehmen gespeichert sind. In WeChat kannst du dein eigenes, persönliches GIF erstellen und es dann an einen Freund senden. Der Clou dabei ist, dass es sich nicht um ein statisches Bild handelt und somit nicht zensiert werden kann. Die beliebtesten GIFs enthalten die beiden Dinge, die in China am häufigsten zensiert werden – Pornografie und Politik.
Du stellst schwierige Fragen, aber stets mit Humor. Woran liegt das?
Ich denke, Humor ist die Sprache des Internets. Ich habe das Gefühl, dass die meisten Internet-Memes aus China von politischen Ideologien herrühren.
Es ist sehr wirkungsvoll, etwas, über das man nicht sprechen kann, in etwas zu verwandeln, über das die Leute lachen.
Seit Kurzem hat sich der Schwerpunkt deiner künstlerischen Praxis auf das maschinelle Lernen verlagert. Was reizt dich an künstlicher Intelligenz?
Etwa 2018 begann ich, mit einer Gruppe von Informatikern zu kooperieren, und seither arbeiten wir kontinuierlich zusammen. Das war vor ChatGPT. Selbst die Informatiker hatten nicht erwartet, dass KI so mächtig werden würde, aber wir hatten ein intuitives Gefühl für ihr Potenzial. Ohne Regulierung könnte sie wirklich überhandnehmen und in einer Weise zerstörerisch werden, wie es beispielsweise eine Filterblase nicht könnte. Meine Praxis ist sich der Technologie immer bewusst. Für mich ist diese neue Art des maschinellen Lernens wie ein mathematisches Werkzeug, das jeder nutzen kann.
Du hast mit KI an einem Drei-Kapitel-Projekt namens Pilgrimage into Walden XII zusammengearbeitet. Was hast du von KI erwartet und was ist dabei herausgekommen?
Chapter one: The Honor of Shepherds hatte eine Art Vorreiterrolle in Sachen Hightech. Wir haben eine Spiel-Engine als Live-Simulationssoftware entwickelt, die auf einem Computer ausgeführt werden kann. Es gibt sechs von der KI geschaffene Hirten, die in einem Fantasieland Wächter sind. Zu dieser Zeit hatte noch niemand maschinelles Lernen in einer Spiel-Engine eingesetzt. Chapter two: Surplus Intelligence war möglicherweise der erste Film, bei dem die KI Regie führte. Ich bat GPT-3, das Material in dem von mir bevorzugten Schreibstil zu studieren. Mit der Zeit begann es, eine lose Geschichte zu schreiben. Sie war zusammenhängend, sie hatte Logik, aber es gab auch eine poetische Art von Lockerheit in kleinen Kapiteln. Nachdem GPT-3 die Geschichte geschrieben hatte, wurde sie in einer Spiel-Engine simuliert und von mir so gesteuert, wie die Handlung es erforderte. Jetzt ist GPT-3 viel leistungsfähiger und kann längere Geschichten schreiben. Auf diese Weise kann man sehen, dass der Film poetischer ist. Man könnte sogar denken, dass er von einem Menschen geschrieben wurde, bis zu dem Zeitpunkt, an dem man zum Beispiel einen Sturm sieht, der aus einem Burrito gemacht ist. Dann stellt man seine Sicht der Realität infrage und überlegt, ob es sich um einen Scherz oder eine ernsthafte Geschichte handelt. Für ein Projekt, das ich zusammen mit Informatikern gerade abgeschlossen habe, haben wir eine Graphic Novel mit sechs Kapiteln erstellt, die von GPT generiert wurde. Diesmal hat die KI japanische Zeichentrickfilme studiert, und ich habe Midjourney verwendet, eine Plattform zur Generierung von Inhalten für Bilder, sodass auch das Bildmaterial von der KI generiert wurde.
Woran arbeitest du im Moment?
Obwohl ein großer Teil meiner Arbeit technologiebasiert ist, denke ich immer, dass physische Formen sehr wichtig sind. Im Moment konzentriere ich mich auf Gemälde in Kombination mit maschinellem Lernen. Zusammen mit einem Informatiker arbeite ich an einem Auftrag für einen Preis des Museums M+ in Hongkong, für den ich nominiert wurde. Wir entwickeln eine Software für maschinelles Lernen, die im App-Store veröffentlicht, aber auch im Museum ausgestellt werden soll. Ich arbeite auch an Gemälden, die mehrere Ebenen haben. Zunächst habe ich ein von der KI zufällig generiertes Bild genommen und dann ausgebildete Maler beauftragt, online ein Gemälde anzufertigen. Die Maler glasieren ihre Bilder nicht mehr, denn das war eigentlich eine Technik aus der Renaissance, also habe ich sie digital glasiert, damit sie den alten Ölgemälden ähneln. Sie sind sehr dunkel, aber auch sehr glänzend. Sie sehen auch aus wie die Sichtschutzfolien, die die Leute auf ihre Handys kleben, sodass man das Bild nicht von einem Winkel aus sehen kann, sondern direkt darauf schauen muss, um zu erkennen, dass es ein mittelalterliches Haus auf dem Gemälde gibt. Es gibt Kerzen, ein paar Dollars, Cowboy- und Zaubererhüte. Das ist die Magie. Sie liegt jenseits unseres Verständnisses, wie das Lernen von KI. Sogar die Informatiker sagen mir, dass sie nicht verstehen, was da vor sich geht, weil das neurologische Lernen des Sprachmodells der KI so komplex ist, dass es passiert, aber sie verstehen nicht, wie es passiert! Mir gefällt der Prozess, bei dem etwas Digitales zu etwas Physischem wird.
Wann und wo wird das Werk ausgestellt werden?
Diese Bilder werden im Herbst 2023 im Museum M+ ausgestellt. Auf der Rückseite der Bilder wird eine Schnitzerei auf einer Holzplatte zu sehen sein, auf der „Trainiert“ steht, weil es sich um eine trainierte KI handelt. Außerdem werden an der Seite und auf der Rückseite des Gemäldes Spielzeuge zu sehen sein, die zum Hundetraining verwendet werden.
Geplant ist auch eine Zusammenarbeit mit der Wiener Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder. Was für eine Art von Ausstellung wird das sein?
Für diese Ausstellung werde ich mich weiter in die Richtung bewegen, die ich bereits beschrieben habe. Es wird eine Gruppe von Ölbildern auf Leinwand geben, aber mit einem Austausch von Prozessen zwischen menschlicher Handarbeit und KI. Die Bilder wurden von einer geschulten Deep-Learning-KI auf einer Spiele-Engine generiert, dann als Referenzbild für eine inhaltsgenerierende KI verwendet, um sich ein neues Bild „auszudenken“, und anschließend an einen Maler geschickt, der speziell in der Ausführung des russischen Realismus geschult ist. Ich werde die Gemälde digital glasieren, je nach meiner Intuition und meinem Gefühl für jedes Bild, sodass es völlig anders aussehen wird als zu Beginn. In diesem Prozess haben sich Menschen und KI gegenseitig aufeinander bezogen; es ist eine Kombination aus digitalen und physischen Interaktionen. Gemeinsam mit den Bildern werde ich auch die Live-Simulationssoftware, mit der sie generiert wurden, in der Galerie zeigen.
Viele Künstler finden KI weniger gut, weil sie glauben, dass sie die Kunst ersetzen kann. Wie siehst du die zukünftige Arbeit mit KI?
Wie bei der Arbeit Blind Spot, als ich drei Monate lang zehn Stunden am Tag bei Google nach Begriffen aus dem Wörterbuch suchte, stieß ich an meine Grenzen als menschliche Filtermaschine. Diesmal würde ich gerne ein Sklave der KI sein. Obwohl das Zeitalter der allgemeinen künstlichen Intelligenz noch nicht angebrochen ist, hat der Inhaltsgenerator der KI bereits viele Dinge von Grund auf verändert. Kunstschaffende sollten eher Fragen stellen und die KI nicht als des Kaisers neue Kleider betrachten.
Interview: Anton Isiukov
Fotos: Katharina Poblotzki