Der in Berlin lebende Nasan Tur thematisiert in seiner künstlerischen Praxis das Spannungsfeld zwischen selbstverantwortlichem Handeln und Untätigkeit. Er untersucht bestehende Machtstrukturen und stellt diese in Frage. Die Grenzen von Kommunikation sowie die unsichere oder zerbrechliche Natur der Wahrnehmung sind weitere treibende Kräfte hinter seiner Praxis und vieler von ihm geschaffener Situationen. Heute sprechen wir mit ihm über die Beweggründe, die dazu geführt haben, dass er Künstler geworden ist, über die Notwendigkeit, politisch aktiv zu sein, und über die Alltäglichkeit des Scheiterns.
Nasan, in vielen deiner Arbeiten machst du Performances auf der Straße oder lädst andere dazu ein, dies zu tun. Deine „Backpacks“ (2006) beispielsweise sind thematisch vorbereitete Rucksäcke, die Besucher aus der Ausstellung ausleihen und damit im Stadtraum demonstrieren oder auch kochen gehen können. Was interessiert dich am öffentlichen Raum?
Meine frühen Arbeiten sind Performances im öffentlichen Raum, die keine Zuhörerschaft benötigen. Ich habe sie einfach gemacht, ohne dass die Leute wussten, dass es sich um eine Performance handelt. Zum Beispiel habe ich Purzelbäume in verschiedenen Städten der Welt gemacht, oder mich in eine Pfütze gelegt. Mich hat schon immer das Aktivistische im Menschen interessiert. Ich bin sehr unpolitisch aufgewachsen und habe mich auch so verhalten. Das hat sicher mit meiner Sozialisierung als Gastarbeiterkind zu tun, meine Eltern hatten immer das Gefühl, nur Gäste zu sein, also lieber den Kopf unten halten und nicht groß auffallen. Das hat sich für mich erst als Erwachsener geändert und zwar mit der Kunst. Kunst sehe ich immer im Kontext zur Gesellschaft. Ich stelle Fragen, wie: „In welchem System leben wir? Welche Rolle spielt Kunst innerhalb dieses Systems? Was kann Kunst leisten? Kann sie den Gesellschaftskörper formen und eine kritische Haltung dem gegenüber sein, was wir vorfinden?“. Das ist eine sehr analytische Herangehensweise. Die Backpacks gehören in diesen Kontext, letztlich sind sie für mich aber gar nicht innerhalb der Aktion selbst so wichtig, sondern weil sie Gedanken aktivieren und Möglichkeiten offerieren. Du kannst sie ausleihen, du kannst mit dem Rednerrucksack oder mit dem Demonstrationsrucksack auf die Straße gehen. Aber du musst nicht. Sobald sie dann auf der Straße sind, sind sie auch keine Kunst mehr, sondern funktionale Objekte. Eine Plattform zu schaffen, auf die man reagieren muss und agieren kann war mir wichtig. Es geht dann auch um Fragen, mit denen sich der Besucher konfrontiert sieht: „Möchte ich das überhaupt machen? Habe ich den Mut, das zu tun – und auch die Kraft? Habe ich überhaupt etwas zu sagen?“
Wie kam es, dass du diese gesellschaftspolitischen Fragen mit Kunst verbunden hast, wenn zu Hause wenig darüber gesprochen wurde? Wer hat dich an die Kunst herangeführt?
Mein damaliger Jugendschwarm und jetzige Frau hat sich sehr für Kunst interessiert. Und da ich damals an ihr interessiert war, kam ich mit der Kunst mehr oder weniger freiwillig in Berührung. Ich habe relativ schnell gemerkt, dass das Gestalten und das Sich-Auseinandersetzen mit eigenen Themen etwas ist, was mich reizt und herausfordert. Während des Studiums an der HfG in Offenbach gab es ein für mich wichtiges Projekt namens Larve. Die Kirche hatte junge Künstler dazu eingeladen, in ihren Räumen zu arbeiten. Es war eine Zeit, in der die Kirchen versuchten, eine größere Aufmerksamkeit zu bekommen, da sie zumindest in den Großstädten, immer leerer wurden. Also suchten sie alternative Konzepte um ihre Räume zu aktivieren. Das Projekt entstand vor dem Hintergrund, dass in einer Stadt wie Offenbach, der Stadt mit dem größten Migrationsanteil Deutschlands, dutzende Moscheen in Garagen, Moscheen und Hinterhöfen weitgehend unsichtbar im Straßenbild existierten – aber die Stadtkirche im Zentrum der Stadt verlassen vor sich hin existiert. Ich stellte mir die Frage, worum es innerhalb einer Religionsgemeinschaft geht. Das führte zu einer Gesangsperformance, angelehnt an den Gebetsrufs des Muezzin, die ich vom Kirchturm mehrmals am Tag in die Stadt gesungen habe. Das Ganze geriet dann etwas außer Kontrolle.
Was ist passiert?
Die Reaktionen waren teils sehr extrem. Der Ort zog durch den Gesang Menschen an, mit denen ich bis Dato keine Erfahrung hatte. Satanisten, fundamentalistische Christen, Provokateure von der Straße. Es gab verbale und körperliche Angriffe, Polizeieinsätze und politischen Druck vom Bürgermeister, die Aktion zu stoppen. Aber auch sehr viele positive, liebevolle und interessierte Reaktionen. Menschen kamen und sangen mit mir zusammen in verschiedensten Sprachen vom Kirchturm herab. Die Presse und das Fernsehen waren vor Ort und das Ganze wurde ein wenig zum Spektakel. Ich war gänzlich überfordert, aber das alles hat etwas mit mir gemacht. Nach dem Projekt habe ich die Entscheidung getroffen Künstler zu sein. Es war eine ganz klare Entscheidung, ohne Plan B, ich wollte wirklich Künstler sein. Rückblickend war diese Entscheidung sehr wichtig. Sie hat mich fokussiert und keinen Platz für Kompromisse zugelassen.
Eine andere Arbeit, in der du ebenfalls im Stadtraum arbeitest, ist „City says…“ (seit 2008). Du sammelst in einer Stadt gefundene Wörter, sprayst diese übereinander und erzeugst damit ein neues Bild. Was interessiert dich daran, diese Wörter zu sammeln und übereinanderzuschreiben?
Es ist eine Aktion und zugleich eine Reaktion auf viele Aktionen von anderen, die im Vorfeld stattgefunden haben. Die Bevölkerung einer Stadt benutzt die Fassaden einer Stadt, also ihr Gesicht, als Plattform für ihre Ideen und Gedanken. Alles, was eine Gesellschaft bewegt, ist auf diesen Fassaden zu finden. Ich sehe meine Arbeit daher als eine Art Readymade, denn ich verändere die Schriftzüge inhaltlich nicht. Da entscheidet sich eine Person bewusst, einen illegalen Akt im öffentlichen Raum zu machen, wahrscheinlich nachts, heimlich, und es wird nach rechts und links geschaut, dass keiner kommt. Um sich dann zu überwinden, eine Fassade zu besprühen – das ist schon was sehr Explizites. Das ist für mich in meiner Performance ebenfalls ein emotionaler Akt, da ich diese Rolle übernehme und genau dieses eine Graffiti wieder an die Wand bringe. Alle Fassaden, die ich in den drei bis vier Wochen gesammelt habe, in denen ich durch die Stadt gelaufen bin, werden in einem performativen Akt auf ein und dieselbe Wand gesprüht. Für mich sind diese Arbeiten, die schon in unterschiedlichsten Städten entstanden sind, wie Ljubljana, Wien, Istanbul, Belgrad oder Thessaloniki, eine Art Stadtportrait, die aber auch ganz explizit mit dem Zeitgeist des Momentes zu tun haben, zu dem ich sie gemacht habe. Etwas was 2013 auf einer Fassade in Berlin stand, wird 2019 wahrscheinlich schon wieder übermalt oder durch ein anderes Graffiti ersetzt sein. Graffitis spiegeln immer den Zeitgeist wieder, in dem sich Menschen befinden. Es ist eine stetige Veränderung. Die Arbeit ist also jeweils immer nur eine Momentaufnahme.
Sprache ist auch an anderen Stellen ein wichtiger Ausgangspunkt für deine Werke. In "Versionen von Kapital“ (2013) hast du von einem Computer rund 41.000 Varianten der Schreibweise von „Kapital“ ermitteln lassen, die phonetisch so klingen wie „Kapital“. Von diesen Varianten hast du inzwischen mehrere Hundert, die von einem Zufallsgenerator ermittelt wurden, mit indischer Tusche auf handgeschöpftes tibetisches Papier gezeichnet. Was interessiert dich an diesen mehrfachen Transformationsprozessen von Sprache und Bild?
Es geht sogar noch weiter. Weder kann ich frei entscheiden, welche Arbeit ich mache, noch kann der Sammler frei entscheiden, welches Bild er kaufen kann. Dem Sammler wird per Zufallsgenerator das Bild zugewiesen. Er kann dann nur entscheiden, ob er das kaufen will, oder nicht. Auch die Arbeitsweise der Galerie ist festgelegt. Jede Arbeit kostet 1.000 Euro. Die Galerie darf den Preis nicht erhöhen oder reduzieren. Die Arbeit ist inhaltlich sehr komplex. Es geht mir gar nicht so sehr um Transformation, sondern vielmehr um die Frage: „Was bedeutet eigentlich Kapital?“ Am Ende ist es auch eine Idee, aus dem Wort Kapital so viel Kapital zu erzielen, wie es eben geht. Dabei sind ganz viele Ebenen wichtig für mich, z.B. die Frage nach der Rolle des Künstlers. Das reicht vom Verständnis des Künstlers als Genie und Bildschöpfers bis hin zu demjenigen, der nur noch von anderen, in dem Fall von einem Computer, getroffene Entscheidungen ausführt. Im Moment der Signatur bekommt das Werk dann plötzlich wieder einen ökonomischen Wert. Theoretisch könnte es 41.000 Arbeiten geben. Ist das dann noch ein Unikat, oder eine Edition? Dann wiederum fragt man sich, ob der Künstler überhaupt 41.000 Exemplare machen könnte. Ich habe das mal ausgerechnet. Ich bräuchte über 12 Jahre, wenn ich jeden Tag zehn Stunden daran arbeiten würde. Aber theoretisch wäre es möglich. Ein anderer Kapital-Aspekt: Durch den festgelegten Preis könnte fast jeder, der möchte, in den Besitz einer solchen Arbeit kommen.
Viele Deiner Arbeiten beschäftigen sich mit dem Verhalten des Einzelnen. Du beobachtest menschliche Reaktionen, z.B. in Deiner Videoarbeit „First Shot“ (2014), in der Menschen zum ersten Mal mit einer Waffe schießen. Was interessiert dich an dem Verhalten der Anderen?
Es geht mir besonders um das Verhalten des Einzelnen in einer bestimmten Situation. First Shot ist eine spezielle Arbeit, die auf einer für mich sehr gewalttätigen Erfahrung basiert. Danach kam für mich die Frage auf: „In welche Situation müssten wir eigentlich selbst kommen, dass wir von einem gewaltlosen Handeln in ein gewalttätiges übergehen?“ „Ab welchem Moment bist du derjenige, der den Stein nimmt und ihn auf den Schädel des anderen schlägt und ihn so womöglich umbringt?“ Dieser Turningpoint hat mich interessiert. Jeden Tag lesen wir von Menschen, die in Gewaltsituationen sterben. Mich hat interessiert, mit diesem Projekt und der Plattform, die ich hierfür kreierte, den Zustand von Menschen zu verändern. Von jemandem, der noch nie mit einer Waffe geschossen hat, in jemanden der nie wieder sagen kann, dass er noch nie mit einer scharfen Waffe geschossen hat. Der Schuss selbst steht für mich gar nicht im Fokus.
Siehst du dich selbst als „politischen Künstler“?
Natürlich bin ich politisch. Ich bin ein politischer Mensch, nicht nur ein politischer Künstler. Ich denke politisch, mein Engagement ist politisch. Vielleicht nicht in politischen Parteien, aber in Bezug darauf, innerhalb des politischen Wirrwarrs, in dem wir uns befinden, eine kritische Stimme zu sein und auch durch meine künstlerische Arbeit Stellung zu beziehen. Das bedeutet nicht, dass man als Künstler sagen muss, welche Partei oder Agenda die richtige oder falsche ist. Es kommt immer drauf an, wie man sich auch als Mensch positioniert. In all meinen Arbeiten, auch in meinen aktuellen wie Agony (2018) geht es mir um den Gesellschaftskörper. Agony ist eine stark metaphorische Arbeit und eine Art Ausdruck des Wiederstands, ein „Nicht-Akzeptieren-Wollen“ von vorgegebenen Gesetzmäßigkeiten. In diesem Fall triumphiert im Todeskampf die Taube über den Falken, das Rehkitz über den Fuchs oder die Ziege über den Luchs. So entstehen Bilder, die dazu animieren, sich innerhalb von Systemen nicht nur konform zu verhalten, sondern auch Widerstand zu leisten, um das System mit zu verändern. Mich interessiert immer auch eine anthropologische und soziologische Herangehensweise. „Wie leben wir? Wie reflektieren wir?“ Das passiert aus einer Sicht, die ganz klar kritisch ist. Und dieses Kritische bedeutet nichts anderes, als auch poli-tisch zu sein. Wir leben in Deutschland, hier gibt es keinen Krieg. Wir leben hier wie die Made im Speck, selbst wenn man wenig Geld hat, lebt man relativ okay und muss nicht um sein Leben fürchten, wie in vielen anderen Teilen der Welt. Ich werde nicht sofort eingesperrt, wenn ich eine kritische künstlerische Arbeit mache. Ich agiere hier aus einer sehr privilegierten Stellung heraus. Dessen bin ich mir bewusst.
Deine erste Monographie heißt „failed“ (gescheitert), auf dem Cover ist deine Arbeit „In my Pants“ (2015) abgebildet, in der du dir vor laufender Kamera in die Hosen machst. Was fasziniert dich am Scheitern?
Diese Auseinandersetzung mit dem Scheitern hat, denke ich, viel mit dem Zweifel an mir selbst zu tun und der selbstkritischen Haltung, die ich mir gegenüber einnehme. Es ist ja nicht so, dass ich mit meinen Arbeiten suggerieren will, dass ich irgendetwas besser weiß als andere, oder gar einen pädagogischen Anspruch hätte. Aber ich finde, wenn man künstlerisch arbeitet, muss man sich fragen: „Warum tust du das, was du tust?“ Es macht ja keinen Spaß sich, wie z.B. bei der Arbeit Clouds, durch hunderttausende Kriegsfotografien durchzukämpfen. Es gibt in mir einen inneren Drang, mich den mir unangenehmen und mich fordernden Themen stellen zu müssen und nicht den einfachen Weg zu gehen, weder inhaltlich noch Formal im Bezug zum Kunstmarkt. Ich versuche, so wahrhaftig und ehrlich mit mir zu sein, wie nur irgendwie möglich. Mit all meinen Schwächen und meinem Scheitern.