Im Allgemeinen ergänzen sich Kunst und Wissenschaft eher, als dass sie viel gemein hätten. Nikolaus Gansterer gelingt es allerdings, diese beiden, scheinbar entgegengesetzte, Pole zu vereinen. In seinem Werk beschäftigt er sich damit, Prozesse aus kulturellen und wissenschaftlichen Kontexten abzubilden und unsichtbare Beziehungsgeflechte sichtbar zu machen, wobei die Zusammenhänge zwischen Zeichnen, Gedankenprozess und Aktion eine wesentliche Rolle spielen. Wir trafen Nikolaus in seinem Atelier inmitten des Wiener Praters, um zu verstehen, warum er Spuren von Orten und vergänglichen Momenten sammelt, und wie er es schafft, dass sich manche von ihnen sogar selbst aufzeichnen.
Nikolaus, wenn man deine Arbeiten betrachtet, wirken sie wissenschaftlich – fast schon wie astrophysische Modelle oder Aufzeichnungen zur Relativitätstheorie.
Da ist schon was dran, denn ich finde wissenschaftliche Prinzipien sehr interessant. Wir leben in einer hochkomplexen Welt. Wissenschaft ist ein Zeichensystem und ein Erklärungsmodell unter vielen. Ich greife dieses System auf und führe es weiter. Ebenso wichtig ist mir die wechselseitige, zum Teil paradoxe Durchdringung von Mikro- und Makroebenen unterschiedlichster Systeme. Ich versuche unseren komplexen Lebensrealitäten wiederum mit Komplexität zu begegnen.
Hat deine Arbeit auch einen wissenschaftlichen Anspruch, im Sinne von wissenschaftlich präziser Dokumentation? Oder geht es dir eher um einen ästhetischen Aspekt?
Da sehe ich prinzipiell mal gar keinen Widerspruch! Ästhetik leitet sich aus dem Griechischen „aisthesis“ ab. Es geht vor allem um ein bewusstes Wahrnehmen: die Welt mit allen uns zur Verfügung stehenden Sinnen zu beobachten, zu erkunden und zu erforschen. Daraus ergeben sich wortwörtlich sinnliche Zusammenhänge, auch im Sinne von neuer Erkenntnis. Mit dieser Perspektive macht sogenannter Un-Sinn also genauso viel Sinn. (lacht) Es geht zunächst einmal um differenzierte Erfahrung als elementare Möglichkeit, um sich Wissen zu (ver-)schaffen.
Als Künstler arbeite ich genuin mit künstlerischen Mitteln, um jene Formen des Denken-Fühlen-Wissens zu erforschen. In meinem Fall spielt eine erweiterte zeichnerische Praxis eine zentrale Rolle. Allerdings weniger, um die Welt mimetisch abzubilden, sie zu erklären und somit beherrschbar zu machen, sondern um Phänomene – Dinge und ihre Zusammenhänge, die nicht (auf den ersten Blick) offensichtlich sind – dennoch möglichst präzise für mich und für andere sichtbar zu machen. Das „Schöne“, das oft mit Ästhetik im ursprünglichen Sinn verwechselt wird und zu „schöner Kunst“ an weißen Wänden führt, langweilt mich eher.
Wie würdest du in eigenen Worten dein künstlerisches Werk erklären?
In meinen Arbeitsprozessen geht es um eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit Wahrnehmungsvorgängen und der Frage nach Visualisierungsstrategien von temporären und dynamischen Präsenzen – beziehungsweise der Suche nach neuen Formen der Übersetzbarkeit. Dafür untersuche ich verschiedene Zeichensysteme auf ihre Eignung, diese in ein künstlerisches Umfeld zu übertragen und mit neuen Bedeutungen aufzuladen. Es geht mir dabei nicht so sehr um die Dinge selbst, sondern um ihr Verhältnis zueinander, um den relationalen Zwischenraum.
Was genau meinst du mit temporären und dynamischen Präsenzen?
Es geht mir in der Arbeit um die Suche nach der offenen Form! Mit temporären und dynamischen Präsenzen meine ich jene prozessualen Vorgänge, die sich zwischen Dingwelt, Umfeld und Betrachter ereignen. Ein phänomenologischer Zugang also. Wie lässt sich etwas aufzeichnen und materialisieren, das per se sehr flüchtig ist, sich eigentlich fortwährend der Formwerdung entzieht? Das ist ein ständiger Balanceakt!
Beispielsweise habe ich ein Mapping-Projekt in Damaskus gemacht, wo ich einen alternativen Stadtplan gezeichnet habe, basierend nur auf persönlichen Erlebnissen, Beobachtungen und Erinnerungen. Oder bei Mapping the Terminal habe ich begonnen über ein Jahr die Psychogeografie von Flughäfen zu kartografieren. Arbeiten wie diese thematisieren die immanenten Prozesse der temporären Formwerdung und deren Auflösung. Deswegen auch mein großes Interesse an Diagrammen, Karten und Notationssystemen in zwei-, drei,- und mehrdimensionaler Form und folglich die intensive Beschäftigung mit Performance.
Teilweise baust du für deine Materialisierungen von Räumen sehr eigenwillige Apparaturen und Messinstrumente selbst, wie bei „Traces of Spaces“. Darin dokumentiert ein Helium-Ballon mit einem Stift an der Spitze den Weg, den die Luft in einem Gebäude nimmt.
Es geht mir in meinen Arbeiten grundsätzlich um Übersetzungsvorgänge. Der „Apparatus“ als Mittel, der wie eine Realität in eine andere Realität transformiert werden kann. Zeichnung ist deswegen so geeignet, weil der Transfervorgang sehr unmittelbar passieren kann – ohne großen technischen Aufwand.
Und diese Messinstrumente und Aufzeichnungen stellen dann auch einen Teil der ausgestellten Arbeit dar?
Klar. Es gibt in meinen Arbeiten wenig Hokuspokus. Bewusste Offenlegung der Produktionsmittel: Die von dir angesprochenen Instrumente sind sozusagen analoge Modelle für diesen permanent stattfindenden autopoetischen Vorgang.
Unsichtbare Kräfte machen sich also gewissermaßen selbst sichtbar. Und du schaffst den Rahmen dafür.
Ich stelle mir die Frage: Kann ich ein System schaffen, sodass sich ein Ort oder eine Situation selbst abbildet – eine Art Selbstaufzeichnungssystem also, in dem ein Ort zu einem spezifischen Zeitpunkt sich selbst abbildet und aufzeichnet. In den letzten Jahren habe ich mich viel mit der Sensibilisierung der eigenen Sinne beschäftigt und daraus performative ad-hoc-Diagramme entwickelt – sogenannte Translectures.
Du hast Performance als Teil deiner Arbeit erwähnt. Wo ist der Bezug?
In der Performancekunst ist ja Präsenz fundamentales Baumaterial und Messinstrument dieser Kräfte in einem zugleich. Welche Kräfte wirken an einem Ort und welche Räume konstituieren sich dadurch?
Wozu soll dein künstlerisches Werk idealerweise anregen?
Ich wünsche mir, dass Seh- und Denkgewohnheiten hinterfragt werden und auf diesem Wege, vielleicht auch in Folge, andere Handlungsmuster zugänglich werden, vielleicht sich sogar verändern …
Wenn man dir zuhört, muss ich unweigerlich an Daniel Kehlmanns Roman „Die Vermessung der Welt“ denken …
… oder auch die Unmöglichkeit der Vermessung der Welt! (lacht) Als Medium interessiert mich die Zeichnung schon sehr lange. Insbesondere eben Mindmaps und Diagramme – all die Wechselwirkungen zwischen sogenannten inneren und äußeren Räumen. Die spannende Frage lautet: Wie vermesse ich Orte und Unorte? Welche Sprache oder welches Zeichensystem muss ich dafür entwickeln? Und wie verändert der Raum wiederum mich? Die weitläufige Annahme einer Objektivität ist längst obsolet.
Wie näherst du dich denn einer neuen Arbeit? Gibt es da, ähnlich wie bei einer wissenschaftlichen Versuchsreihe, einen festen Prozess, den du immer durchläufst?
Nein, es gibt keinen fixen Prozess, das passiert eher frei-assoziativ, oft beim Zeichnen oder Experimentieren, ohne zu wissen, was genau dabei rauskommt. Inspiration geschieht oftmals nur durch Zufälle! Mittlerweile habe ich auch mein eigenes Vokabular und eine eigene Formen-Sprache entwickelt, auf die ich zurückgreifen kann. Es geht eher um eine Form von Leer-Werden, damit etwas Neues entstehen kann. Diesen Zustand zulassen zu können, kann manchmal dauern …
Du hast einige Jahre auch in der Klasse von Brigitte Kowanz, an der Angewandten, verbracht. Inwiefern hat dich ihre Herangehensweise an „Raum“ in deinem eigenen Ansatz beeinflusst?
Nachhaltig. Durch ihre intensive Beschäftigung mit dem Phänomen Licht und dessen un(be)greifbarer, aber wie wir alle wissen, essenzieller Sinnlichkeit und atmosphärischer Kraft hat sich ein weites künstlerisches Handlungsfeld eröffnet. Raum wurde nie als statische Entität vermittelt, sondern als dynamisches transmediales Feld. Das erzeugt natürlich sofort auch eine politische Dimension. Ich habe mich daher von Anfang an gleichzeitig mit Installation, Musikkomposition, Improvisation und Choreografie beschäftigt, alles Strategien, um Raum und Zeit zumindest vorübergehend zu organisieren.
Welche Rolle spielt eigentlich dein Atelier für dich und deine Arbeit? Ist es ein kreativer Ort, oder eher eine Art Labor?
Das Atelier ist der Ort, wo die Dinge ihr Eigenleben entwickeln können, wo die Arbeiten wachsen, ihre Form finden dürfen. Viele Arbeiten konzipiere ich aber auch beim Reisen, bei Kollaborationen und bei Residencys.
Du lebst und arbeitest in Wien. Die Stadt entwickelt sich seit einigen Jahren immer mehr zu einer internationalen Kunstmetropole. Woran, glaubst du, liegt das?
Wien ist einfach eine sehr lebenswerte Stadt mit einer spannenden geopolitischen Lage. Es gibt hier nach wie vor ein einigermaßen gut funktionierendes System der öffentlichen Kunstförderung. In Wien gibt es zwei Kunstuniversitäten und einen interessanten Querschnitt an Kunstinstitutionen. Parallel dazu hat sich in den letzten Jahren auch eine höhere Dichte an Off-Spaces entwickelt. All das ist Humus für die Kunst.
Ist das auch der Grund, warum du dich entschieden hast, selbst in Wien zu leben und zu arbeiten?
Während meiner Wanderjahre hat es mich in verschiedene Städte in Holland und Belgien verschlagen. Letztendlich bin ich dann, wie so viele, in Berlin gelandet. Eher zufällig bin ich nach einer Weile aber nach Wien zurückgezogen und hab mich hier ad hoc wieder wohlgefühlt. Die Wege sind kurz, die Mieten noch erschwinglich. Das Kulturinteresse ist groß.
Du hast eben deine „Wanderjahre“ angesprochen. Früher war es üblich, dass Gesellen aus verschiedenen Handwerken auf der Wanderschaft neue Arbeitspraktiken kennenlernten und Lebenserfahrung sammelten. Wie hast du dich selbst während deiner Stationen entwickelt?
Ich halte es für sehr wichtig, sowohl für die persönliche als auch die künstlerische Entwicklung. Heute kommen oft Studierende zu mir in die Seminare, die gerade mal achtzehn sind, also eben erst ihre Matura abgeschlossen haben. Viele Arbeiten ähneln sich. Ich glaube, es braucht ein Reservoir unterschiedlichster Lebenserfahrungen, das die Tiefe eines Werks charakterisiert und unverwechselbar macht!
Was steht für dich in diesem Jahr Spannendes auf dem Programm?
Im Degruyter Verlag ist kürzlich mein erstes umfassendes Buch zu Diagrammen Drawing a Hypothesis in zweiter Auflage erschienen sowie eine umfangreiche Publikation mit dem Titel Choreo-graphic Figures, die ein spezifisches Notationssystem für Performances im Spannungsfeld zwischen Choreografie, Schreiben und Zeichnen vorstellt. Im Zuge dessen wird es eine Reihe von performativen Präsentationen geben. Über den Sommer arbeite ich intensiv in meinem Atelier am Wiener Prater an einem neuen Animationsfilm. Im Herbst folgen Ausstellungsprojekte bei Urbane Künste Ruhr, in der Nähe von Düsseldorf, eine Residency und die Vorbereitung einer Ausstellung in der Villa Arson in Nizza sowie am Wiels in Brüssel.
Interview: Florian Langhammer
Fotos: Eva Kelety