Der in Tirol geborene Künstler Peter Sandbichler nutzt häufig Karton als Ausgangsmaterial, den er geschnitten, geknickt und gefaltet in dreidimensionale Objekte transformiert. Seine Vorliebe für modulare Systeme wird bei den gestalterisch in den Raum eingreifenden Skulpturen großen Maßstabs genauso sichtbar wie bei kleinteiligen Origami-Arbeiten. Sandbichlers besonderes Interesse an der Falte in der Skulptur wird ebenso deutlich, wenn er zu anderen Materialien wie Beton oder Metall greift. Wir sprechen mit dem Künstler, der konsequent dem Recyclinggedanken verpflichtet ist, über seine Vorstellung vom Atelier als Transformationsmaschine und unkonventionelle Wege der Materialbeschaffung.
Peter, du hast, bevor du in Wien Bildhauerei an der Universität für angewandte Kunst und der Akademie der bildenden Künste studiert hast, eine Fachschule für Holz- und Steinbildhauerei besucht. Warst du durch deine Familie künstlerisch vorbelastet?
Nein, gar nicht. Allerdings hatten wir daheim ein Sägewerk, und ich habe immer schon gern mit Holz gearbeitet – was man halt so macht, wenn man an einem solchen Ort aufwächst. Aber ich war nicht auffällig künstlerisch, sondern habe einfach gerne Dinge ausprobiert – vielleicht in einem größeren Maßstab als andere Kinder, weil im Sägewerk alle möglichen Materialien greifbar waren. Es war auch mehr als ein Sägewerk: Mein Vater hat ein tolles Produkt erzeugt, für das er Abfälle der Sägeindustrie recycelte und daraus eine VELOX-Bauplatte herstellte. Die Randabschnitte der Bretter, die man sonst einfach verheizt hätte, wurden zerkleinert und mit Zement vermischt zu Bauplatten für den Hausbau verarbeitet. Das geschah in einer Zeit, als der Recyclinggedanke noch gar nicht aktuell war.
Dein Vater hat ein Recyclingprodukt auf hohem Niveau erstellt und dir ist der Recyclinggedanke ein Kernanliegen deiner künstlerischen Arbeit …
Da kann man schon von Vorbelastung sprechen. Ich komme zwar nicht aus einer künstlerischen Familie, aber mein Vater ist durchaus ein sehr kreativer Mensch, der viele Dinge erfunden und dafür Patente angemeldet hat. Er hat Maschinen entwickelt und Abläufe optimiert. Auf unserem Firmengelände gab es ein Labor, da wurden Schall- und Materialmessungen durchgeführt, es wurde mit Kunst- und Dämmstoffen experimentiert. Es war spannend, in einem Umfeld aufzuwachsen, in dem viel herumprobiert wurde. Es hat uns Kindern Freude gemacht, wenn beim Experimentieren mit PU-Schaum irgendwas schiefging und er aufgequollen ist zu einer Riesenskulptur.
An welchem Punkt deiner Biografie bist du zur Kunst gekommen?
An der Fachschule in Innsbruck hat man nicht nur das Handwerk gelernt, sondern auch eine tolle Kunstausbildung genossen. Wir haben modelliert, die Technik für Metall- und Betonguss gelernt. Darüber hinaus hatten wir Theorieunterricht, Kunstgeschichte und Aktzeichnen. Es war wie die Vorstufe zur Akademie – auf einem tollen Niveau. Ich bin danach nach New York an die Art Students League und ein Jahr später nach Wien gekommen. Unsere Lehrer stammten aus der Nachkriegsgeneration. Sie haben uns 14-Jährigen das in der Nazi-Zeit verschüttete Wissen zugänglich gemacht.
Gab es einen Künstler, der dich in deiner frühen Jugend besonders beeinflusst hat?
Wilhelm Lehmbruck auf jeden Fall, aber wir haben damals auch von Beuys gehört und viel über Matisse und Picasso erfahren. Es waren die unterrichtenden Leute selbst, die Tiroler Nachkriegsgeneration in Innsbruck und in Wien Oswald Oberhuber, der als Rektor die damalige Hochschule für angewandte Kunst zu einem wirklich vibrierenden Ort gemacht hat.
Die Liste deiner Einzelausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen umfasst an die 200 Präsentationen. Welche davon war für dich besonders wichtig?
Die Teilnahme an der Biennale in Venedig 1995 war ein wichtiger Punkt in meiner Biografie. Ich bin nach dem Bildhauerei-Studium an der Akademie bei Bruno Gironcoli zu Peter Weibel ans Institut für Neue Medien nach Frankfurt gegangen und habe mich dort intensiv mit Computerkunst auseinandergesetzt. Die gemeinsamen Projekte mit Constanze Ruhm waren an der Schnittstelle von realem und virtuellem Raum angelegt. Unser Beitrag zum Medienpavillon war eine interaktive Installation. Mithilfe einer Fernbedienung konnte man zwischen sechs Videoprojektionen wechseln, die einen virtuellen Knoten um das von Coop Himmelb(l)au entworfene Gebäude legten und den Kunstpavillon in den Giardini mit der realen Sphäre der Stadt verbanden. Der von Peter Weibel kuratierte Media-Pavillon präsentierte die Bandbreite der damaligen Medienkunst. Abgesehen von der Hardware, hatte unser Werk keine physische Komponente. Dieser radikale Exkurs war für mich der Punkt, an dem ich beschlossen habe, mich wieder der Bildhauerei, der Objekt- und Installationskunst zuzuwenden. Was ich aber aus dieser Zeit mitgenommen habe, ist die Beschäftigung mit der Medientheorie und der konzeptionelle Zugang zum Handwerk. Meine Arbeitsweise oszilliert in einer Schleife zwischen Computer und Realität. Die Modelle für meine Objekte werden immer dreidimensional im Computer erstellt und anhand von Prototypen getestet.
Wie können wir uns den Arbeitsprozess im Detail vorstellen? Kannst du uns mehr darüber erzählen?
Ich beginne mit Skizzen und wechsle rasch zum Computer. Die geometrischen Gebilde, wie sie aktuell für den Kunstraum Dornbirn entstehen, sind sehr komplexe Arbeiten. Nehmen wir beispielsweise die Serie Skulls. Um einen Skull zu realisieren, der sehr groß ist, muss ich ihn in einzelnen Teilen bauen. Dafür habe ich den modularen Zugang entwickelt: Ein Skull ist aus drei mal neun Modulen aufgebaut. Ein anderes Projekt ist der Twist, den ich zuerst in Stahl und dann in Karton gebaut habe. Der gesamte Ring setzt sich aus ein und demselben Modul zusammen. Wenn ich ein Element abwandle, dann verändert sich das gesamte Arrangement. Ich arbeite mit der Software SketchUp total intuitiv und kreativ. Nachdem ich modular vorgehe, ist das Arbeiten mit Parametern wichtig. Ich habe Möglichkeiten, die ich mit der Zeichnung gar nicht ausschöpfen kann. Das modulare Arbeiten ist definitiv ein Grundinteresse meiner Arbeit. Ich wollte schon immer Dinge entwickeln, wo etwas Größeres aus vielen kleinen Teilen, die alle gleich sind, entsteht.
Nach deinem Tokio-Aufenthalt hast du begonnen, dich mit der Faltkunst Origami zu beschäftigen. Was interessiert dich an Origami?
Beim Origami wird ein und dieselbe Fläche im Raum gedreht und ergibt in der Wiederholung ein gefaltetes dreidimensionales Objekt. An sich ist meine Arbeit Die Zeit eine simple Zeitungsseite, die als Ausgangsmaterial zweidimensional auf Lesbarbeit ausgelegt ist. Durch das Falten erfolgt eine Transformation in die dritte Dimension. Der Arbeit liegt ein konzeptioneller Ansatz zugrunde, ich transformiere einen Fundgegenstand, in diesem Fall die Seite einer Zeitung, die mich aufgrund eines erhellenden Artikels oder einer bemerkenswerten Grafik interessiert. Die ausgewählte Zeitungsseite schicke ich einer Origami-Faltkünstlerin. Wenn das Kuvert zurückkommt und ich die Arbeit auffalte, ist das wahnsinnig spannend für mich. Ich sehe das Bild aufgefächert in viele Falten und etwas Neues kommt dazu; nämlich Licht und Schatten. Die Falte ist ein Thema, das mich seit dem Studium beschäftigt, in der Auseinandersetzung mit Architektur, Philosophie und Kunst bis zurück in den Barock. Die Verwerfung in der Fläche produziert Licht und Schatten. Wenn ich diese konkrete Falt-Arbeit ansehe, erinnert mich die Überschrift „Betäubte Bürger“ daran, dass in Amerika so leichtfertig Schmerzmittel verschrieben werden. Dahinter steht wiederum die Pharma-Dynastie Sackler, die mit dem Schmerzmittel Oxycontin die Opioid-Epidemie in den USA ausgelöst hat. Die gleiche Familie, die Gegenwartskunst im großen Stil sponsert und nach der so mancher Gebäudeflügel eines Museums benannt wurde. Das hat mich an dem Artikel interessiert.
Du greifst häufig auf Karton zurück bei der Auswahl der Materialien, mit denen du arbeitest. Woher kommt dein besonderes Interesse an Karton?
Hier entsteht eine Installation für den Kunstraum Dornbirn, es ist ein Modul einer horizontalen Spirale. Wir schneiden die Module aus Fahrradkartons, die ich aus den Fahrradgeschäften hole. Warum ich das mit Karton baue? Stell dir das in irgendeinem anderen Material vor. Selbst wenn es nur Sperrholz wäre, kostete es eine Lawine und verursachte aus ökologischer Perspektive einen Wahnsinnsschaden. Außerdem lässt Karton viel mehr zu als andere Materialien. Holz kann ich nicht falten. Wenn ich es in Metall fertigen möchte, brauche ich eine Biegemaschine. Beim Karton genügen Lineal und Pizzamesser.
Was geschieht mit den Resten? Kommen die dann nochmals für kleinere Projekte zum Einsatz?
Nein, die gehen in die Altpapiertonne und das gibt ein angenehmes Gefühl. Ich bin gewissermaßen ein Corona-Profiteur, die Fahrrad-Läden haben Hochkonjunktur, sie verkaufen 20 Prozent mehr. So hatte ich im Lockdown nie Materialbeschaffungsprobleme. Aber es geht nicht nur um den ökologischen und ökonomischen Aspekt. Schon Robert Rauschenberg hat über Karton gesagt, dass er ein universell verfügbares Material ist, überall in derselben Qualität vorhanden, man kann alles damit machen. Aufschriften und Gebrauchsspuren sind eine zusätzliche Facette, die ich bewusst aufnehme.
Mit den „Alten Schachteln“ hast du eine Reihe von Objekten, die aussehen wie Karton, aber keiner sind.
Die Alten Schachteln sind Güsse von Schachteln, die ich durch Einsatz meines Körpers verforme, indem ich draufspringe oder mich darauf setze, und die ich dann – wenn mich das Ergebnis interessiert – in der eingeknickten Form abgieße.
Die „Alten Schachteln“ laden auch zur Benutzung ein. Wo ist für dich die Grenze zwischen Kunst und Design?
Wenn jemand sagt, das ist Kunst, dann ist es Kunst, oder anders gesagt: Ich bin Künstler, kein Designer.
Welche Künstler haben dich beeinflusst?
Die frühe Auseinandersetzung mit Friedrich Kiesler und Buckminster Fuller war prägend. Meine Sozialisierung in Wien mit der Kunst der 1980er und 1990er Jahre, deren Protagonisten und Protagonistinnen und die kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Moderne sind wichtige Berührungspunkte, die nicht nur meine Arbeit beeinflussen, sondern auch die Art der Präsentation.
Friedrich Kiesler, Peter Eisenman, Buckminster Fuller – du nennst häufig Architekten als wegweisend für deine Arbeit. Und du gestaltest selbst immer wieder Architektur-Interventionen – beispielsweise für das Haus in der Mariahilferstraße 1, das „Haus mit Augenbrauen“ genannt wird – als ironisches Zitat auf Adolf Loos’ Haus am Wiener Michaelerplatz.
Ironisch ist nur der Titel in Anspielung auf den vielfach falsch interpretierten Text Ornament und Verbrechen von Adolf Loos aus dem Jahr 1908. Dieses konkrete Haus an einer zentralen Adresse in Wien war ein Gründerzeithaus von 1860 mit einem besonders opulenten Fassadenschmuck, den der Hausbesitzer aufgrund der prominenten Lage und in Referenz an das schräg gegenüberliegende Kunsthistorische Museum beauftragte. Bombentreffer im Zweiten Weltkrieg haben den Fassadenschmuck zerstört und die Reste wurden abgeschlagen. Viele Kunsthistoriker sagen, in Wien wurde durch diese Maßnahmen nach dem Krieg mehr zerstört als während des Krieges. Im Wettbewerb ging es nicht um die Fassade per se, sondern eher um einen „künstlerischen Akzent“. Da mich das nicht interessiert hat, habe ich den Vorschlag gemacht, die historische Gründerzeitfassade in ihrer dreidimensionalen Ausdehnung in meiner Formensprache nachzuempfinden und dem Spiel von Licht und Schatten eine Projektionsfläche zu geben. Mit der Methodik der Faltung habe ich die ursprüngliche Tiefe der historischen Elemente wie Giebel, Halbsäulen, Mittelrisalit wiederhergestellt. Zwar hat der Vorschlag den Rahmen des Wettbewerbs gesprengt, aber als wir ein 5 Meter hohes Kartonmodell im Maßstab 1:1 vor dem Haus aufgestellt hatten, waren die Auslober überzeugt.
Das heißt, dass die Anschaulichkeit des 1:1-Kartonmodells größer ist als jene der Computeranimation. Weshalb ist das so? Eigentlich sollten wir doch mittlerweile geschult sein im abstrakten Sehen über diverse Screens.
Fotorealistische Animationen gehen am Kern meiner Arbeit vorbei. Das ist konterproduktiv, geradezu abstoßend. Wenn ich das Modell hinstelle, und der Betrachter muss es nur noch auf die weiße Gründerzeitfassade projizieren, dann findet eine Übersetzung statt. Das ist ein Wesenszug der Kunst, dass man Dinge produziert, die noch eine Übersetzung brauchen.
Was macht für dich gute Architektur aus?
Gute Architektur ist, wie Eisenman es sagt, wenn man beim Durchschreiten eines Gebäudes Gefühle hat. Es geht also um Erlebnisse.
Hast du dir schon mal darüber Gedanken gemacht, was du tun würdest, wenn du nicht Künstler wärest?
Ich glaube, die treibende Kraft in der Kunst besteht darin, dass man keinen Plan B hat. Obwohl – ich habe in letzter Zeit immer wieder von der Qualifikation von „Super-Recognizern“ gelesen. Das sind Menschen, die sich Gesichter und Gesten überdurchschnittlich gut einprägen und wiedererkennen können. Ich kann behaupten, dass ich auf diesem Gebiet über ganz gute Voraussetzungen verfüge.
Wie ist das, wenn deine Kunst das Atelier verlässt, wie empfindest du die Reaktionen anderer, deren Interpretationen deiner Arbeiten?
Vor Kurzem wurden zwei Texte über meine aktuelle Ausstellung verfasst, die ganz unterschiedliche Aspekte behandeln, die ich selbst so noch nie gedacht habe. Das ist das Schönste, was mir passieren kann. Mich interessiert es, Arbeiten zu zeigen, die so weit offen sind, dass sie Spielraum für Interpretationen zulassen und neue Gedanken und Zugänge entstehen.
Was möchtest du beim Betrachter für ein Erlebnis auslösen?
In der Kunst geht es um die Awareness, das situationsbezogene Bewusstsein, das die Wahrnehmung auf eine andere Ebene lenkt. Das Haus mit Augenbrauen war von mir von Anfang an so intendiert, dass man aus der Entfernung nicht sieht, dass die Fassade zeitgenössisch ist. Auf den ersten Blick sieht sie aus wie eine Gründerzeitfassade. Erst beim Näherkommen erkennt man die Dreiecksflächen. Diese Transformation der Wahrnehmung interessiert mich. Das würde ich gerne als wichtigen Moment in meiner Arbeit bezeichnen. Das betrifft auch die Origami-Arbeiten. Aus der Ferne sind es Dreiecksflächen. Dann erkennt man das Zeitungsblatt und schließlich den Artikel. Diese Wahrnehmungsschritte habe ich zum Ziel. Dadurch können die Leute eine gewisse Begeisterung entwickeln, weil etwas mit ihnen passiert.
Welche Empfehlung hättest du an dein jüngeres Ich?
Ich denke mir häufig, dass ich mich zu wenig darum gekümmert habe, den Kontakt mit interessanten Zeitgenossen und Zeitgenossinnen zu pflegen. Der Austausch mit wertvollen Menschen und streitbaren Positionen nimmt einen wichtigen Platz ein. Die Ökonomie der Aufmerksamkeit scheint mir heute mehr denn je als kostbares Gut.
Auf welches Projekt dürfen wir uns in Zukunft freuen?
Ich hatte das Glück, dass ich vor dem Lockdown noch einen Wettbewerb für einen Neubau der Universität Innsbruck gewonnen habe. Dort entsteht zurzeit eine Intervention, ein für mich sehr spannendes Projekt, weil ich die Arbeit direkt in die Betonschalung des Gebäudes hineinreklamiert habe. Ich gestalte die bogenförmige Untersicht mit 200 pyramidenförmigen Elementen, die gemeinsam eine komplexe dreidimensionale Skulptur bilden. Ein schlichtes Konzept, das in der Umsetzung eine Vielzahl von Expertisen und Gewerken orchestriert: vom Ton-Gatschen und Formengießen, über den Bau eines Kartonmodells bis hin zur Übersetzung der parametrischen Struktur in die Dateiformate für die CNC-Fräse, mit der dann 200 hochkomplexe Holz-Schalungsteile gebaut werden, die von meinem Team auf der Baustelle implementiert und von der Baufirma in Beton gegossen werden.
Interview: Barbara Libert
Fotos: Christoph Liebentritt