Die nigerianisch-amerikanische Künstler*in und Dichter*in Precious Okoyomon imaginiert in seiner künstlerischen Praxis neue Welten, bevölkert von nicht-menschlichen Wesen und wuchernden Pflanzen. Sie lädt das Publikum ein, an einem kollektiven Traum teilzuhaben – unter einer einfachen, aber profunden Voraussetzung: das wahre Selbst nicht zu verbergen. Durch enthüllende Fragen werden die Besucher*innen mit zuvor verborgenen Seiten ihrer selbst konfrontiert. Dieses Streben, das wahre Selbst sichtbar zu machen, ist Okoyomons Geschenk an die Welt.
Precious, wenn dich eine fremde Person bitten würde, deine Kunst zu beschreiben, was würdest du sagen?
Ich würde sagen, sie ist Poesie, die ganz zufällig Kunst ist.
Hast du als Kind deine Zukunft als Künstler*in und Dichter*in gesehen?
Ich hätte nicht gedacht, dass das der Weg ist, den ich einmal einschlagen werde. Als Kind habe ich meinen Eltern immer gesagt, ich möchte etwas tun, das sich magisch anfühlt - aber was genau das sein wird, darüber war ich mir nicht sicher. Ich war sehr interessiert an Philosoph*innen, hatte eine besondere Leidenschaft für Pataphysik, die ich später auch am College studiert habe. Vor allem von dem französischen Schriftsteller Alfred Jarry und der existentialistischen Schule war ich fasziniert. Es ist also kein Wunder, dass sich mir irgendwann die Frage stellte: „Wie macht man sein Leben jeden Tag aufs Neue absurd, magisch?”
Hat deine Familie deine Interessen unterstützt?
Ja, sie haben mich so gut unterstützt, wie es eine nigerianische Familie mit Migrationsgeschichte konnte.

©Courtesy of the artist and ART Magazin, Photographer: Lila Barth

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Träume spielen eine essenzielle Rolle für deine Kunst; was macht sie für dich so bedeutsam?
Träume sind die Basis meiner künstlerischen Praxis und meiner Perspektive auf die Welt als ein kollektiver Traum, den wir bewusst zusammen kreieren und steuern - sei es der gemeinsame Traum von einer Welt, wie wir sie sehen wollen oder die radikale Vorstellungskraft, die wir zusammen aufbringen und die uns unsere Möglichkeiten offenbart, die Welt zu verändern. Dieses radikale Träumen entspringt der Freiheit, einen klaren, schmalen Weg vor sich zu haben und die Menschen, um uns zu verstehen.
Träume spielen auch eine Rolle in deiner Ausstellung „ONE EITHER LOVES ONESELF OR KNOWS ONESELF“ im Kunsthaus Bregenz, die sich über mehrere Stockwerke erstreckt. Magst du uns etwas über deine Überlegungen hinter dieser Show erzählen?
Eigentlich geht es in der Show um Rituale - darum, wie meine Gedankengänge im Ritual, im Zusammensein mit anderen Menschen entstehen, und um die Konstruktion und Dekonstruktion des Selbst. Das ist ein großer Teil meines Schaffens, meiner Poesie und meiner generellen Praxis. Zwei Mal pro Woche mache ich Psychoanalyse - das ist ein sehr wichtiges Ritual, das ich pflege. Ich versuche, diese Art der Fürsorge auch anderen Menschen zukommen zu lassen, die sie vielleicht nicht in ihrem Leben haben. Deshalb beginnt die Show mit meiner „existential detective agency” - das war einer meiner Traumjobs als Kind.

©Courtesy of the artist and ART Magazin, Photographer: Lila Barth
Was bedeutet „existential detective agency”?
Ich habe ein Fragment einer Ausstellung kreiert, in dem man eines von zwei Häusern betritt und sich meinen Fragen stellen muss. Eine fremde Person befragt dich, dabei gibt es zwei Regeln: „Ich werde nicht lügen” und „ich werde das Selbst nicht verbergen”. Du musst die Fragen ehrlich beantworten; das stattet dich dann mit den Tools aus, die du benötigst, um durch die Show zu gehen. Es geht viel um Fragilität, um ein vorsichtiges Aufbrechen des Selbst und die Offenbarung all der Seiten von dir, die du noch nicht kennst. Die Expansion, der Wandel und das Wachstum, das damit einhergeht, ist ein absolutes Wunder.

©Courtesy of the artist and ART Magazin, Photographer: Lila Barth

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Die Konversation beginnt mit sehr banalen Fragen wie „Wer bist du?" und „Woher kommst du?" und schreitet dann fort zu tiefergehenden Fragen wie „Was hast du unausgesprochen gelassen?” und „Wer hat das Leid deiner Mutter verursacht?” - Wie reagieren Museumsbesucher*innen auf diese Art der Konversation?
Ich erhalte eine Menge an Nachrichten auf Instagram von Leuten die mir schreiben „Ich bin zusammengebrochen”, „Ich war nicht dazu imstande, diese Fragen zu beantworten”, „Ich habe die Fragen mit nach Hause genommen und sie beschäftigen mich seither” oder „Das sind Dinge, für die ich mir selbst nie die Zeit gegeben habe”. Ich bin überzeugte*r Lacanianer*in und praktiziere jungianische Psychoanalyse, aber ich glaube, dass Analyse nicht nur ins Büro gehört – sie ist eine Beziehung zwischen Menschen. Würden wir unsere Art, miteinander zu kommunizieren, ändern und lernen mit anderen zu teilen, wären wir nicht ständig auf einen so rigiden Rahmen angewiesen. Es geht darum, den Rahmen zu erweitern und andere nicht mit misstrauischem Blick zu betrachten, um für diese Fragilisierung Platz zu schaffen. Dann käme sie in unserer Welt natürlicher auf. Wir können einander Platz geben und damit wahrhaftig Raum für uns selbst schaffen.
In deiner Kunst tauchen oft kindheitliche Elemente wie Teddybären, hängende Spielzeuge oder handbemalte Tapeten auf. Warum ist dir diese Verbindung zur Kindheit so wichtig?
Die Kindheit ist die Grundlage, auf der wir alle unser Verständnis aufbauen. Sie ist ein Ort der Vorstellungskraft, ein Quellcode, zu dem ich immer wieder zurückkehre. Ich betrachte sie als einen Ort ursprünglicher Fragilität, aber auch als einen Ort, an dem Gewalt und Niedlichkeit miteinander verbunden sind, und an dem wir auf unerklärliche Weise verändert werden – eine Zeit, die unser Leben prägt. Meine Kindheit war interessant und turbulent; dennoch ist sie ein Ort, der viel Geheimnisvolles in sich trägt und mir sehr präsent ist. Sie ist meine Wurzel der Liebe, sie ist sowohl von Schönheit als auch von Dunkelheit erfüllt, aber das fortwährende Durcharbeiten dieser Gegensätze ist eine Reise zu einem tieferen Selbstverständnis und zur Selbstliebe. Für mich ist die Show im Kunsthaus Bregenz eine Erweiterung dessen, was ich Menschen geben kann - ein Bruchstück eines Geschenks des Gestaltens und Auflösens, des Verstehens des Selbst. Das Überarbeiten und der Aufwand, miteinander das Rätsel zu lösen, empfinde ich als Wunder.

©Courtesy of the artist and ART Magazin, Photographer: Lila Barth

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Deine Installationen beinhalten oft Pflanzen oder wunderschöne Gärten - wenn du Werke schaffst, die die Natur mit einbeziehen, besteht immer die Möglichkeit, dass die Objekte ein Eigenleben entwickeln und sich mit der Zeit verwandeln. Wie fühlst du dich mit diesem Kontrollverlust über deine Kunstwerke?
Ich liebe es, wenn etwas außerhalb meiner Kontrolle liegt. Es ist wohl einer der Gründe, weshalb ich Dichter*in und Gärtner*in bin. In Bregenz wollte ich die Besucher*innen im kleinen, schönen, aber giftigen Garten meiner Kindheit einfangen. Er ist voll mit Pflanzen, mit denen ich aufgewachsen bin, aber auch mit denen, in die ich mich verliebt habe, als ich nach Österreich gekommen bin, weil sie den Lieblingsblumen meiner Kindheit so ähnlich sind. Ich habe Bregenz so oft besucht, dass ich mit der Zeit viele Samen gesammelt habe. Es war ein gutes Gefühl, etwas auszusuchen und seine Wurzeln ausfindig zu machen. Das ist tatsächlich, wie viele meiner Gärten entstanden sind: durch tiefgehende Recherche, den Prozess, etwas zu finden und seine Geschichte kennen zu wollen, es zu kultivieren und die Samen zu erforschen.
Im Zentrum deiner Installationen standen oft Zuckerrohr und Kudzu. Zum Beispiel waren sie wichtige Elemente in deiner Show „To See the Earth Before the End of the World,” die 2022 auf der Biennale Arte in Venedig zu sehen war. Warum hast du dich entschieden, einen Fokus auf genau diese Pflanzen zu legen?
Kudzu und Zuckerrohr sind zwei sehr besondere Pflanzen. Kudzu wurde nach dem Ende der Sklaverei in die USA eingeführt, um der dortigen Bodenerosion entgegenzuwirken, die durch die Überkultivierung von Baumwolle entstanden war. Im Laufe der Zeit erwies sich Kudzu als eine Pflanze, die sich unkontrollierbar invasiv ausbreitet. Kudzu repräsentiert den Versuch, die Folgen des transatlantischen Sklavenhandels zu beheben. Und dann ist da Zuckerrohr, das eben diesen Handel überhaupt erst finanzierte und sein eigentliches Fundament bildete. Die Geschichten dieser beiden Pflanzen treffen in diesem Raum aufeinander. Es entsteht eine Welt außerhalb unseres kolonialen Verständnisses, in der sich vermeintliche Monstrositäten in zwei wunderschöne, wenn auch geschichtsträchtig belastete, invasive Pflanzen verwandeln.

©Courtesy of the artist and ART Magazin, Photographer: Lila Barth
Was passiert mit den Gärten nach dem Ende der Shows?
Immer, wenn ich einen Garten mache, werden die Pflanzen danach in die Gemeinschaft zurückgebracht, aus der sie stammen. In Aspen gingen alle Pflanzen an Gemeinschaftsgärten und Schulen. In Venedig haben wir die invasiven Pflanzen verbrannt, weil sie invasiv sind – diese Asche wurde später für meine Ausstellung in New York verwendet. Das Zuckerrohr gaben wir an die Farmer zurück, die es uns verkauft hatten. Und hier in Bregenz wird ebenfalls alles der Gemeinschaft zurückgegeben. Das ist ein wichtiger Bestandteil meiner Praxis: die Dinge kommen dorthin zurück, wo sie gepflegt und genährt werden. Die Bäume werden wieder eingepflanzt, weil es diese endlosen Verhältnisse gibt - sie enden nicht im Museum, sondern kehren an ihren Platz zurück, wo sie wachsen und Wurzeln schlagen können.
Du sprichst viel von Kollektivismus – vom gemeinsamen Träumen, Ruhen, Essen. Welche Rolle spielen Beziehungen und Gemeinschaft in deinem kreativen Prozess?
Ich habe nie zugestimmt, ein Individuum zu sein. Das ist mein Problem. Ich empfinde eine tiefe Fürsorge für andere Menschen. Meine Praxis ist die Kunst, die ich liebe, doch dann gibt es da noch die Liebe an sich, in der ich verwurzelt bin, die Freude und all die Dinge, die mich nähren. Ich habe ständig das Gefühl, es gibt so viel, dass ich schaffen will, gemeinsam mit all den Menschen, die ich liebe. Ich gerate immer wieder in eine Hektik, alles gleichzeitig zu tun; alles zu knacken, damit es überläuft – und genau darin liegt für mich der größte Spaß. Unabhängige Einsamkeit ist für mich keine Utopie; vielmehr geht es in meiner Utopie darum, dass Menschen zusammenkommen, um Träume zu verwirklichen. Ich bin Gärtner*in, und kein Garten wird allein erschaffen. Gleichzeitig glaube ich an meine Einsamkeit, die einen großen Teil meines Lebens ausmacht. Viele meiner Gedichte sind Reflexionen über die Zeit, die ich allein verbracht habe. Gedichte schreibe ich allein, aber es gibt Raum dafür, es liegt so viel Bewegung zwischen verschiedenen Realitäten darin.

©Courtesy of the artist and ART Magazin, Photographer: Lila Barth

©Courtesy of the artist and ART Magazin, Photographer: Lila Barth

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Vorhin hast du deine Kunst als Poesie, die ganz zufällig Kunst ist, beschrieben. Sind diese beiden Medien für dich unerlässlich miteinander verbunden?
Ich sehe keine Trennung zwischen Dichtung und Kunst, sie sind dasselbe für mich, sie laufen ineinander über. Ich glaube an Unordnungen - klebrige, kleine Unordnungen. Es ist wie ein Traum, die kollektive Liebe. Als Kind habe ich immer Gedichte geschrieben, es war mein Weg, mit einem Großteil meiner Familie zu kommunizieren. Man wusste, dass ich etwas Bedeutendes zu sagen hatte, wenn man einen langen, gedichteten Brief von mir erhielt. Es wurde zu meiner Art, die Welt zu verstehen und zu lernen, wie man mit Menschen kommuniziert. Das hat sich mit der Zeit nie geändert, es ist nur in anderer Form zum Ausdruck gekommen, wie Essen, Objekte, usw. Es ist stetig in Veränderung, aber die Dichtung ist die Wurzel für mich.
Ein Beispiel für diese Überschneidung von Lyrik und Kunst ist dein Film „Skysong”, der gegenüber des Gartens in deiner Ausstellung im Kunsthaus Bregenz gezeigt wurde. In dem Film fliegst du ein Flugzeug und liest dabei dem Himmel deine Lyrik vor. Wann bist du Pilot*in geworden?
Ich bin über meinen Heimatort geflogen, Cincinnati, Ohio, wo ich auch aufgewachsen bin. Es ist ein weiteres Fragment meiner Kindheit, da ich einen großen Teil meines Lebens dort verbracht habe - von 12 bis 19 Jahren. In dieser Zeit habe ich konstant nach Zuflucht und Quellen der Freiheit gesucht. Der Himmel wurde mein Zufluchtsort. Ich lernte schon jung das Fliegen, mit etwa 16 Jahren; ein Alter, in dem die meisten Menschen den Autoführerschein machen. Der Himmel war der eine Ort, an dem ich den meisten Frieden hatte, da er mir den Raum bot, einen Platz zu schaffen, an dem ich mich frei fühlen konnte. In der Ausstellung ist man ganz in meiner Utopie gefangen, umgeben von Schmetterlingen, die mit diesem Garten leben und sterben. Gleichzeitig kann man direkt gegenüber meine Freiheit beobachten, aber ohne daran teilnehmen zu dürfen.

©Courtesy of the artist and ART Magazin, Photographer: Lila Barth

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Um auf den Ausstellungstitel zurückzukommen, “ONE EITHER LOVES ONESELF OR KNOWS ONESELF.” In welchem Stadium befindest du dich bezüglich dieser Selbsterkenntnis und Selbstliebe?
Es ist ehrlich gesagt ein stetiger Prozess. Es kommt auf den Tag an. Es fluktuiert zwischen vollständiger Kenntnis und vollkommener Liebe, aber ich bin nie bei irgendetwas angekommen. Es ist immer eine Reise - du lernst dich selbst besser kennen, um dich selbst aufrichtiger lieben zu können.

©Courtesy of the artist and ART Magazin, Photographer: Lila Barth
Interview: Anton Isiukov
Fotos: Lila Barth