Das in London ansässige Künstlerduo Revital Cohen und Tuur Van Balen beschäftigt sich mit einer weit gefassten Bedeutung von Material und Produktion. Sie arbeiten mit Objekten, Installationen, Filmen und Fotografien, und untersuchen dabei manuelle Produktionsverfahren als kulturelle, ethische und politische Praktiken. Ob es sich nun um die Zucht eines gentechnisch veränderten Goldfisches handelt oder ob die Glücksspielindustrie untersucht wird, ihre Arbeit ist stets herausragend. Ihre experimentellen Projekte queren die Welten von Design, Film, Wissenschaft, Soziologie und Politik und wurden vom MoMA und dem Hong Kong M+ Museum übernommen.
Revital, Tuur, was hat euch beide zur Kunst gebracht?
R: Schon als kleines Kind wusste ich, dass ich Künstler werden wollte, aber meine Eltern haben mich nicht dazu ermutigt und irgendwann orientierte ich mich mehr an Design und Architektur. Als ich anfing, Kunst zu machen, beschäftigte ich mich hauptsächlich mit Malerei, konnte mich aber nicht ganz als Maler sehen. So sehr ich auch die Praxis der Malerei liebe, ich war nicht so begeistert davon, was ich malen sollte. So landete ich beim Design, allerdings sehr stark im Umfeld des konzeptionellen Designs, also bei Objekten, die als Teil des Lebens sinnvoll waren. In der Folge studierte ich am RCA in London (Royal College of Art), wo ich Tuur traf. Ich habe noch nie in meinem Leben als Designer gearbeitet und auch nie etwas gemacht, das von Nutzen ist (lacht). Aber nachdem wir beide unseren Abschluss gemacht und mit unserer eigenen Tätigkeit begonnen hatten, spürten wir, dass der Diskurs uns mehr in Richtung Kunstwelt führte. Wir trafen Kollegen, Kuratoren und Schriftsteller, die uns wirklich inspiriert haben, das war eine natürliche Weiterentwicklung.
T: Bei mir war es nicht so unähnlich. Als Teenager in Belgien aufgewachsen, habe ich unterschiedliche Dinge getan, ich habe beispielsweise mit Video, Fotografie und Performance gearbeitet und auch getanzt. Es waren die 90er Jahre und es gab all diesen zeitgenössischen Tanz, ich war stark davon beeinflusst. Gleichzeitig war ich als Kind immer ziemlich gut in Naturwissenschaften und Mathematik. Also studierte ich Industriedesign und widmete mich einem technischen Studium, vielleicht weil ich dachte, es sei eine Möglichkeit, all diese Dinge zu kombinieren. Während meines Studiums habe ich mich in Richtung forschungsbasierter Prozesse und konzeptioneller Arbeit bewegt, weshalb ich überhaupt am RCA studiert habe. Dort fand ich eine autonomere Art zu arbeiten, aber lange Zeit weigerte ich mich, es Kunst zu nennen.
Wie würdet ihr eure Arbeit mit eigenen Worten beschreiben?
R: Wir machen Installationen, Skulpturen und Filme, die sich mit Produktionssystemen beschäftigen. Wir suchen nach den sozialen, politischen und kulturellen Adern innerhalb des bestehenden kapitalistischen Systems. Unsere Arbeit versucht, die Produktionsprozesse aufzuzeigen, und wir verwenden dazu immer sehr unterschiedliche Materialien.
T: Wir machen Skulpturen und Filme, deren Herstellungsprozesse uns an bestimmte Orte führen. Der Prozess der Produktion einer Skulptur oder eines Films ist fast so wichtig wie der entstehende Film oder die Skulptur. So haben wir für eines unserer Projekte in Japan einen Goldfisch mit einem Wissenschaftler gemacht, der ihn für uns gentechnisch verändert hat; es dauerte fünf oder sechs Jahre und wir waren sehr stark in den Prozess eingebunden.
Ein ikonisches Werk von euch ist „Leopard, Impala“ aus dem Jahr 2016. Könnt ihr erklären, wie sich eure künstlerische Praxis hier konkret manifestiert hat?
T: Diese Arbeit begann damit, dass wir Beispiele historischer Tierpräparate aus dem Königlichen Museum für Zentralafrika in Tervuren (Belgien) in einem örtlichen Krankenhaus röntgen ließen. Die Stahlkonstruktionen, die die Radiographie im Inneren des Tableau Vivant eines Leoparden, der einen Impala tötete, enthüllte, wurden aus Metallen der Seltenen Erden, Neon, Mammut-Elfenbein und Naturkautschuk nachgebildet; sie rekonstruierten eine imaginäre Choreographie zwischen zwei Tierhäuten in Materialien zeitgenössischer Bergbautechniken. Durch die Freilegung der handgefertigten Stahlstäbe stellt das koloniale Objekt die Frage, ob das, was als Naturgeschichte wahrgenommen wird, ebenso viel mit Kultur zu tun hat wie mit Wissenschaft. Unsere Praxis besteht darin, Materialien aus den Archiven eines historisch umkämpften Museums, das auch persönliche Erinnerungen enthält, zusammen zu bringen. Wir arbeiten dafür im Team zusammen mit Medizinsch-Technischen Assistenten unter Verwendung von medizinischen Geräten. Die Arbeit beeinflusst und wird von den an ihrer Entstehung beteiligten Orten und Menschen beeinflusst und trägt in ihrem Produktionsprozess Ebenen von Forschung, Logistik, Technik, Form, Humor und persönlichen Beziehungen in sich. Wir haben uns entschieden, ihre skulpturale Form mit Materialien zu übersetzen, die aktuelle geopolitische Implikationen und Mythologien (Metalle der Seltenen Erden und Mammut-Elfenbein) haben und selbst Spuren von Kultur, Politik, Technologie und Folklore in sich tragen.
Wie hat eure Zusammenarbeit begonnen?
T: Wir wurden sehr schnell ein Paar, nachdem wir uns an der Kunsthochschule getroffen hatten. Etwa sechs Jahre lang haben wir getrennt gearbeitet. Wir waren immer sehr unterstützend und engagiert in der Arbeit des anderen. Wenn man zusammenlebt und sein ganzes Leben und sein Studio teilt, denke ich, dass sich die Werke allmählich annähern. Ich hatte das Gefühl, dass der Moment, in dem wir uns entschieden haben, mit der Zusammenarbeit zu beginnen, kein so großer Schritt mehr war.
R: Du willst auch nicht im Wettbewerb mit deinem Partner stehen, und du willst nicht immer alleine beruflich reisen. Bevor wir mit der Zusammenarbeit begonnen haben, konnten wir uns nicht mehr so oft sehen. Aber seit damals haben wir die Möglichkeit, all diese erstaunlichen Dinge gemeinsam zu machen. Es ist nicht immer einfach, es ist keine natürliche Zusammenarbeit, aber in Bezug auf unser Leben als Paar ist es das wert.
Du hast gerade erwähnt, dass deine Werke begannen sich anzunähern. Habt ihr jemals einen Identitätsverlust durch das Zusammenleben und die Zusammenarbeit gespürt?
R: Ich glaube nicht, nein, denn unsere Fähigkeiten ergänzen sich und sind doch sehr unterschiedlich. Wir würden uns auch gegenseitig helfen, wenn wir nicht zusammenarbeiten. Ich würde eine Menge Art Direction für dich machen, Tuur, und du würdest andere Dinge für mich tun. Nachdem sie unsere Ausstellung gesehen hat, schrieb eine Kritikerin einmal, dass sie nun verstanden habe, dass wir kein Kollektiv, sondern zwei sehr individuelle Künstler seien, die zusammenarbeiten. Jeder von uns hat eine ganz besondere Arbeitsweise.
T: Und wir sprechen beide sehr unterschiedlich über die Arbeit. Meine Arbeit beinhaltet Teile von mir. Das Gleiche gilt für Revital. Und das sehen und respektieren wir. Manchmal bedeutet es, dass wir sagen müssen: "Okay, ich werde dir all diesen Freiraum geben, denn ich denke, ich sollte nicht daran herumbasteln." Aber es ist nie ein Verlust an Individualität, es ist fast das Gegenteil. Manchmal geht es darum, sich durch Arbeit besser kennenzulernen.
Gibt es jemanden Bestimmten, der eure Kunst inspiriert?
Beide: Viele!
R: Natürlich Pierre Huyghe, das ist unvermeidlich. Und ich liebe Sophie Calle wirklich. Auch wenn unsere Arbeit das oberflächlich nicht suggeriert, steckt doch noch viel Persönliches und Autobiografisches darin. Sogar die Tatsache, dass wir angefangen haben, zusammenzuarbeiten, und das unsere Leben vollständig verschmolzen hat. Es gibt etwas, was ich in Sophie Calles Arbeit sehr interessant und relevant finde, nämlich die völlige Missachtung von Grenzen.
T: Wir haben viele Einflüsse von außerhalb der Kunst. In den 90er Jahren in Belgien aufgewachsen, war der gesamte zeitgenössische Tanz und die Performance für mich von großem Einfluss: Vor allem die Rosas Dance Group und der französische Choreograph Boris Charmatz, der aus ihr hervorging. Ich denke, dass unsere Einflüsse aufgrund der Natur unserer Praxis sehr stark über die Kunstwelt hinausgehen.
Gibt es ein besonderes künstlerisches Anliegen, das eure Arbeit am meisten bestimmt?
T: Ich würde sagen, wir dekonstruieren Produktionsprozesse als kulturelle, politische und ethische Vorgänge. Ich denke, unsere Herkunft aus dem Design bedeutet, dass wir Produktionsprozesse im weitesten Sinne betrachten. Ein Großteil unserer Arbeit dreht sich also um die Herstellung des Tierkörpers. Wir versuchen, zu hinterfragen, wer oder was in diesem Vorgang hergestellt wird. Außerdem besuchen wir gerne jene Orte, an denen diese Arbeitsschritte passieren, denn das veranlasst uns, sie auf andere Weise zu betrachten.
Kannst du ein Beispiel dafür nennen?
T: Zum Beispiel 75 Watt, ein Stück, das wir vor einigen Jahren in China hergestellt haben, als wir uns eine Fabrik-Montagelinie aneigneten, um ein Objekt herzustellen, das keine andere Funktion hatte, außer die Bewegungen der Arbeiter, die es zusammenbauen, zu choregrafieren. Es war uns wichtig, dass alle Komponenten in China hergestellt wurden und dass wir tatsächlich in die dortige Fabrik gingen, um das Fließband zu choreografieren und zu filmen - so konnte die Arbeit verortet werden.
Ist eure Arbeit also von dem Wunsch getragen, die Menschen für diese Produktionsprozesse zu sensibilisieren?
R: Ich würde sagen, dass unsere Arbeit aus dem Wunsch heraus entsteht, selbst in diesen Verstrickungen zu sein. Um zu reflektieren und wirklich darüber nachzudenken, wie wir in der Welt agieren. Wir kritisieren diese Prozesse, während wir unsere eigene Rolle in ihnen anerkennen. Wir wollen nicht didaktisch sein, aber wir tun auch mehr als nur beobachten.
T: Unsere Arbeit entsteht aus Neugierde, die sich bis zur Selbstfindung ausweitet. Ob es sich nun um Fabriken in China oder Minen im Ostkongo handelt oder um Goldfische, die in einem Labor in Japan hergestellt wurden. Diese bestehenden Produktionsprozesse sind im Rahmen des globalen Kapitalismus so unglaublich verstrickt, dass wir uns dabei auch selbst einbeziehen müssen, als Künstler oder was auch immer. Wir bewerten Produktionsprozesse im Sinne einer kritischen Dekonstruktion, anstatt mit dem Finger der Zensur zu wedeln.
Eine wachsende Zahl von Menschen wacht über die schädlichen Auswirkungen menschlicher Produktionsprozesse auf den Planeten. Beeinflusst der wachsende Aktivismus rund um den Klimawandel eure Arbeit in irgendeiner Weise?
R: Es ist unglaublich ermutigend, diese Veränderung zu sehen, weil wir schon lange über diese Dinge nachdenken. Ich denke, dass Extinction Rebellion eine wunderbare, inspirierte Sache ist, aber obwohl es aus künstlerischer Perspektive ein wunderbares Beispiel für Aktivismus ist, inspiriert es nicht wirklich zu einem interessanten Kunstwerk. Während wir also außerhalb unserer Praxis mit Aktivismus arbeiten können, versuchen wir immer, eine komplexere Sichtweise in unsere Arbeit einzubringen. Es ist nicht schwarz-weiß. Mit Aktivismus kann man eine wirklich einfache Botschaft wie "weniger Plastik verwenden" formulieren, aber ich würde es nicht in meine Arbeit aufnehmen, weil ich es nicht interessanter machen könnte.
T: Gesellschaftliche Veränderungen oder Zeitgeistbewegungen sind wirklich wichtig, aber für unsere Arbeit wäre die Konzentration auf sie destruktiv, weil sie zu reduktiv sind.
Ihr sprecht sehr politisch über eure Arbeit. Wollt ihr mit eurer Praxis den politischen Wandel anregen?
T: Unsere Arbeit ist politisch, weil diese Prozesse von Natur aus Teil des Systems sind, zu dem wir gehören. Die Produktion eines Objekts wird uns nicht als politisch dargestellt, aber es gibt so viele Ebenen: vom Handel bis zur Herstellung - alles. Ich würde nicht sagen, dass wir politische Veränderungen auf die gleiche Weise bewirken wollen wie ein Aktivist. Ich glaube nicht, dass es einen so klaren Zweck gibt in dem, was wir tun. Der politische Wandel beruht auf Antworten, und wir wollen keine bestimmten Antworten geben. Aber ich stelle mir vor, dass sich einige Leute, die sich unsere Arbeit ansehen, eine ganze Reihe von Fragen stellen könnten. Und vielleicht kann das Hinausgehen mit diesen Fragen in gewisser Weise Veränderungen herbeiführen.
R: Ich habe das Gefühl, dass die Art und Weise, wie wir arbeiten, darin besteht, zu versuchen, Unterströmungen in der Gesellschaft zu spüren, ein wenig wie Seismographen. Wir versuchen, Dinge aufzuspüren, die es wert sind, darüber nachzudenken und sie zu erkunden. Aber wir haben keinen Masterplan, um sie zu lösen.