Sophia Pompéry ist eine Beobachterin. In stiller Konzentration arbeitet sie aus dem scheinbar Belanglosen poetische Wahrheiten heraus. Gegenstand ihrer Konzeptkunst sind dabei Alltäglichkeiten und die ihnen zugrundeliegende Physik. Ihre Werke laden uns ein, diese vorgeblich bekannten Bereiche neu kennenzulernen. Als wir Sophia in ihrem Berliner Atelier treffen, zündet sie eine von der Decke hängende Kerze mit doppelseitigem Docht – bekannt aus ihrem Video Lighting Up, Burning Down – an. Ähnlich einer Sanduhr wird die Kerze wird von beiden Enden nach innen brennen, und gibt uns die Zeit für unser Gespräch an.
Sophia, du bist wahrscheinlich eine der wenigen Künstlerinnen, die nicht nur in Berlin leben und arbeiten, sondern auch hier geboren worden sind. Wie hast du die Veränderung der Stadt erlebt?
Zu Zeiten der Mauer war ich noch klein. Damals war Berlin eine Insel, und eigentlich haben alle versucht, wegzukommen. Nach Düsseldorf, nach Frankfurt oder nach München – Hauptsache weg aus dieser Enklave. Mit der Wende war dann Berlin auf einen Schlag die neue Hauptstadt, in der man günstig zentral gelegene Räume mieten konnte. Plötzlich war die neue Mitte [Ost] hip. Die Gebäude waren zwar in schlechtem Zustand und direkt an der Mauer, und man musste mit Öfen heizen, aber dafür kam man mit sehr wenig Geld aus, war mitten in der Stadt und hatte Partys im Keller.
Inzwischen hat sich manches in Berlin geändert.
Ja klar. Irgendwann wurden die Häuser dann saniert und die Party ist umgezogen. Zuerst an den Prenzlauer Berg, nach Kreuzberg und dann nach Neukölln. Es war traurig, zu sehen, wie sich in den letzten 15 Jahren an manchen Orten die Bevölkerung nahezu komplett ausgewechselt hat. In letzter Zeit ziehen immer mehr Kreative an den Stadtrand, nach Marzahn oder nach Mariendorf – also wirklich ziemlich ab vom Schuss. Es gibt einen großen Bedarf an bezahlbaren Wohnungen und Arbeitsräumen. Ich hatte großes Glück, dass ich beides zentral und nahe gelegen gefunden habe.
Dennoch kann man sich, im Vergleich zu anderen Metropolen, das Leben als Künstler noch leisten.
Das stimmt. Und die Stadt tut inzwischen auch einiges dafür. Mittelfristig ist vorgesehen, 4 000 Ateliers zu bauen, und 2 000 sind anscheinend jetzt schon auf Schiene. Die Stadtregierung hat erkannt, dass die Künstler und die internationale Community ein Pluspunkt für die Stadt sind. Die Tatsache, dass die Stadt viele Kunstschaffende aus der ganzen Welt anzieht, ist sehr wichtig geworden für Berlin – vor allem aus Imagegründen.
Hast du, als du im Studium begonnen hattest, intensiver künstlerisch zu arbeiten, lange gebraucht, deine Richtung zu finden?
Im Rückblick weiß ich nicht, ob es gut war, gleich mit achtzehn anzufangen zu studieren. Ich habe viel Zeit damit verplempert herauszufinden, was ich nicht will. In Weißensee standen einem alle Türen offen und man hatte die Qual der Wahl.
Gibt es da niemanden, der einem hilft, sich zu orientieren?
Das muss man schon für sich selbst herausfinden. Ich glaube, mit mehr Lebenserfahrung und wenn man vorher irgendetwas anderes gemacht hat, kann man die Möglichkeiten besser nutzen, weil man sich inhaltlich mit der Arbeit auseinandersetzen kann und sich nicht erst mit dem Erproben von Techniken beschäftigen muss. Antje Majewski und Karin Sander waren sehr gute Professorinnen. Und je reifer die Arbeit, umso hilfreicher ist die Kritik. Andererseits ist es auch schön, wenn man früh beginnt und das Studium früh fertig hat.
Du kamst später, an der Universität der Künste, auch mit Ólafur Elíasson in Kontakt.
Genau. Als ich in Weißensee fertig studiert hatte, gründete Ólafur dort gerade das Institut für Raumexperimente. Ich habe mich beworben, weil ich mir so ein Konzept der Lehre immer gewünscht hatte. Ólafur hat Leute aus sehr verschiedenen Bereichen eingeladen, über ihr Thema zu sprechen. Das konnte ein Chaostheoretiker sein, der über schwarze Löcher forscht, ein Sprachwissenschaftler, der über die kulturell bedingte Definition von Farben nachdenkt, oder ein Philosoph, der über Karten als Werkzeuge des Denkens forscht. Es ging immer darum, wie diese Leute Raum definieren. Ein Soziologe wird Raum ganz anders bestimmen als ein Tänzer und ein Architekt anders als ein Mathematiker. Das Experiment bezog sich nicht nur auf die künstlerischen Arbeiten, sondern auch darauf, was für Formate Ausstellungen, Exkursionen oder Arbeitsbesprechungen haben können. Es war sehr vielseitig.
Wie hast du den Einstieg Künstlerleben nach dem Studium erlebt? Manche fallen ja erst einmal in ein Loch.
Nein, für mich gab es das nicht. Ich hatte schon kurz nach meinem Studienabschluss meine erste Soloausstellung in der Gitte Weise Galerie, Berlin. Zeitgleich war auch die Eröffnung von ARTER – space for art, einem Museum in der Türkei, dessen Sammlung Arbeiten von mir angekauft hatte. Dort hingen meine Sachen neben sehr großen Namen. Ich war zu einem Empfang in der Sommerresidenz des Sammlers eingeladen: Kellner in weißer Livree, Sonnenuntergang über dem Bosporus. Das war ziemlich viel für den Anfang. Zurück in Berlin, wurde ich erst mal auf den Boden geholt, denn es wartete ein Brief von der Bank, um mir mitzuteilen, dass die Miete nicht überwiesen werden konnte, weil das Konto leer war. Daraufhin habe ich von meinem letzten Geld Farben für neue Arbeiten gekauft. Ende der Woche hatte meine Galeristin drei der Arbeiten verkauft. Das war dann meine Feuertaufe.
Wie ist es, wenn man bei einem Superstar der Kunstwelt wie Ólafur Elíasson studiert hat und noch am Anfang der eigenen Karriere steht? Fühlt man sich da unter Druck gesetzt?
Mich hat die Frage nach der eigenen Identität als Künstlerin eigentlich viel mehr beschäftigt als der Druck, der dadurch vielleicht entstehen könnte.
Du hast dich aber auch nie zurückgelehnt...
Man hat einen großen Teil des eigenen Erfolgs schon selbst in der Hand. Das ist eine Sache, die einem im Studium niemand sagt: Eigentlich verbringt man sehr wenig Zeit mit der eigenen Arbeit und sehr viel damit, Kontakte zu pflegen, die Arbeit zu dokumentieren, sich zu organisieren und so weiter. Das ist nicht immer einfach, aber ich kann heute sagen, dass ich seit sechs Jahren ausschließlich freiberuflich tätig bin und von meiner Kunst lebe.
Hast du dich ausreichend auf die Gegebenheiten nach dem Studium vorbereitet gefühlt?
Nein, zu wenig. Es ist ein Luxus, während des Studiums in einem Schutzraum arbeiten zu dürfen und nicht allzu früh mit der Realität konfrontiert zu werden. Aber Talent macht nur einen Bruchteil des Erfolges aus, und zu wenige Künstler haben den nötigen Unternehmergeist und das nötige Know-how, um sich allein durchzusetzen. Wie spreche ich über meine Arbeit? Wie schreibe ich eine gute Bewerbung? Wie verhandele ich Honorare? Diese Dinge sind leider auch wichtig. Mittlerweile findet jedoch ein Wandel an den Hochschulen statt. Ich freue mich sehr, denn seit diesem Semester baue ich zusammen mit meiner Kollegin Birgit Effinger an der Weißenseer Kunsthochschule Berlin ein Zentrum für Absolventen auf. Das Programm entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschulleitung und dem Freundeskreis. Es wird auf die Bedürfnisse der Absolventen zugeschnitten und bietet karrierebegleitende Seminare und Workshops, Exkursionen und Alumni-Abende zum Aufbau eines Netzwerkes. Künftig sollen auch 20 geförderte Studios hinzukommen.
Inzwischen bist du ja schon nicht mehr am Anfang deiner Karriere und hast dich in deine eigene Richtung entwickelt. Wie würdest du denn in eigenen Worten erklären, was du machst?
Ich versuche es mal in drei Sätzen: Ich interessiere mich für Physik und Alltagsphänomene und versuche alltägliche Gegenstände so zu zeigen, dass sie nicht alltäglich wirken. Die Arbeiten funktionieren wie physikalische Anordnungen. Die dabei entstandenen Fotos, Videos, Objekte und Installationen sind dokumentarischer Natur. Ich verwende keine Bildbearbeitungsprogramme oder andere Formen des digital Generierten.
Das heißt, du zeigst immer etwas, das wirklich passiert ist, auch wenn es vielleicht manchmal unwirklich oder surreal aussehen mag?
Vielleicht reichen drei Sätze doch nicht! (lacht) Es geht mir nicht darum, neue Sachen in eine Welt zu stellen, die sowieso schon voll mit Zeug ist, sondern darum, genau zu beobachten und diese Beobachtungen mit Hilfe der Fotografie, eines Objekts oder eines Videos zu teilen. Aber ich benutze Videos nicht, wie ein Maler Farbe benutzt. Bei mir geht es immer um einen Aufbau, der dokumentarisch abgefilmt wird und dadurch ganz genau beobachtet werden kann. So schafft man es, dem Alltag ein Schnippchen zu schlagen. Sehen, was kaum zu erkennen ist – zeigen, dass das Alltägliche unter unserer Beobachtung seine Banalität abstreift, um ein Versatzstück unserer eigenen Geschichte zu werden: Diese Motivation bestimmt meine Arbeitsweise.
Und was möchtest du, dass deine Arbeit bei den Betrachtern auslöst? Wie soll sie wahrgenommen werden?
Ich möchte mit dem Betrachter in einen Dialog treten und anhand von physikalischen Phänomenen ein Spiel mit Naturgesetzen, Sehgewohnheiten und Erwartungen entstehen lassen. Idealerweise mache ich nur die Hälfte der Arbeit. Wenn ich etwas beobachtet habe, dann überlege ich mir einen Weg, es zu zeigen, zu rahmen, es auszustellen und zu inszenieren. Dann kommt der Betrachter und ergänzt das mit seinem Erfahrungsschatz. Jeder erzählt sich dann seine eigene Geschichte, die nicht deckungsgleich mit meiner sein muss.
Mein Ziel ist es, mit möglichst wenigen Mitteln möglichst viele Assoziationsebenen zu eröffnen. Ich möchte Bilder hinter dem Bekannten zeigen, welche die Betrachter tiefer in ihre persönliche Geschichte hineinziehen. Konzentriert, ganz still und leicht, mal mit Melancholie, mal mit Humor.
Also hat deine Kunst immer einen doppelten Boden, unter dem sich die verschiedensten Bedeutungen verbergen? Ist das dein Anspruch an deine Arbeiten?
Wenn meine Arbeit dadurch eine philosophische Bedeutung bekommt, dass du ihr eine gibst, dann ist das durchaus erwünscht. Die verschiedenen Lesarten zeichnen für mich eine gute Arbeit aus. Sonst wäre sie platt wie ein Physikbuch. Mittlerweile kann ich mich in dieser Hinsicht ganz gut auf mein Bauchgefühl verlassen.
Eine deiner Arbeiten, die viel mediale Aufmerksamkeit bekommen hat, setzt sich mit literarischen Quellen auseinander.
Ja, die Schlusspunkte. Das ist eine Arbeit, bei der ich gemeinsam mit der StaBi [Staatsbibliothek zu Berlin] und dem Rathgen-Forschungslabor die Schlusspunkte der Erstausgaben von 15 Liebesromanen aus den letzten zwei Jahrhunderten mit einem Mikroskop fotografiert habe. Die wurden dann stark vergrößert gedruckt, und so sieht man zum Beispiel, dass bei Goethes Werther der Schlusspunkt gar nicht rund ist. Den von Schnitzlers Traumnovelle mag ich auch sehr gerne. Der sieht aus wie ein Vexierbild.
Das ist ja eine beinahe poetische Arbeit. Kannst du mit dem Begriff „Poesie“ etwas anfangen in Bezug auf deine Arbeit?
Solange ich sie nicht selber schreiben muss, ist alles in Ordnung. Wenn ich schreiben könnte, wäre ich nicht bildende Künstlerin geworden. (lacht) Poesie im übertragenen Sinn ist für mich total in Ordnung, solange sie nicht der Grund einer Arbeit ist, sondern sich daraus entwickelt. Ich mache keine Arbeiten, damit sie schön sind. Das wäre Kitsch.
Aber was ist dann der eigentliche Grund, eine Arbeit zu machen und auszustellen?
Das ist Gefühlssache. Wenn ich etwas faszinierend finde, wird eine Arbeit daraus. Im Moment der Entscheidung weiß ich noch nicht, wie die Arbeit aussehen wird. Und oft ist das dann auch eine Überraschung. Bei den Schlusspunkten habe ich zum Beispiel drei Monate lang mit den Institutsleitern verhandelt, ohne zu wissen, dass die Arbeit etwas hervorbringen wird, was man mit bloßem Auge nicht sieht.
Wenn es der Ausgangspunkt deiner Arbeiten ist, dass du mit wachen Augen durchs Leben gehst und beobachtest, ist es dann nicht letztendlich Zufall, worüber du eine Arbeit machst?
Natürlich spielt Zufall eine gewisse Rolle. Die Entstehung meiner Arbeiten ist oft mit einer Anekdote verbunden. Ich habe zum Beispiel eine Arbeit mit zwei unterschiedlich langen Zollstöcken. In dem Fall war ich dabei, einen Messestand aufzubauen, und habe festgestellt, dass irgendwie alles nicht zusammenpasst: Überall haben mir zwei Zentimeter zwischen den einzelnen Holzteilen gefehlt. Ich habe dann festgestellt, dass das Maß auf der Säge ein anderes war als das auf dem Zollstock. Der Gedanke, dass man sich auf Maße nicht verlassen kann, ließ mich dann nicht mehr los, bis ich tatsächlich ungenaue Zollstöcke gefunden und gekauft habe. Sowohl die kürzeren als auch die längeren Zollstöcke stammen aus einem deutschen Baumarkt. Ich fand das total spannend, wenn man bedenkt, dass Genauigkeit eigentlich ein sehr deutsches Thema ist.
Gibt es zu deiner Serie mit erd-topografischen Modellen auch eine Anekdote?
Die gehören eigentlich auch in die Werkgruppe, in der ich mich mit Maßen beschäftige. Maße sind eine Definitionssache. Wer sagt, dass ein Meter ein Meter ist? Warum hat ein Tag vierundzwanzig Stunden und nicht dreißig? Das hat irgendjemand irgendwann einmal so festgelegt und alle haben sich darauf geeinigt. Darüber gibt es keine politischen Debatten. Aber über Grenzen streiten wir uns! Deswegen wollte ich Tabula rasa machen und habe Reliefkarten gekauft und die dann mit Tafelfarbe übermalt. So kann jeder seine eigenen Hauptstädte, Landesgrenzen, Autobahnen – seine eigenen Welten – aufzeichnen.
Wir haben gelernt, eine Grenze als natürliche Gegebenheit, als gesellschaftliche Norm anzunehmen. Aber wie willkürlich oder wie relativ ist eine Grenze? Was bedeutet eine geografische Grenze in Zeiten grenzenloser Kommunikation und grenzüberschreitenden Handels? Grenzen, Geschichtsverläufe, amtliche Definitionen einer bestimmten Topografie oder Region erfreuen die einen und machen andere unglücklich. Grenzen und die Bewertung ihrer Historie sind nicht so statisch, wie es scheint. Diese Karten sind eine Einladung, scheinbar Festgelegtes zu überprüfen und neu zu denken, zum Beispiel die Idee des Nationalstaates oder die Gesamtverantwortung für soziale Unterschiede oder Umweltprobleme in einer globalisierten Welt der offenen Märkte.
Deine Kunst hat also auch eine politische Dimension?
Natürlich sind einige meiner Arbeiten auch politisch. Aber es gruselt mich vor Arbeiten, die mit erhobenem Zeigefinger daherkommen. Mit so einer didaktischen Haltung kann ich wenig anfangen. Es ist mir wichtig, keine eingleisigen Weltverbesserungsvorschläge oder Kapitalismuskritik zu betreiben, sondern dem Betrachter die Freiheit zu lassen, darin zu sehen, was er möchte. Wenn meine Arbeiten auf diese Art eine politische Ebene bekommen, ist das schön.
Du hast für längere Zeit in Istanbul gelebt. Was konntest du aus dieser Zeit mitnehmen?
Ab 2012 habe ich länger dort gelebt. Das war zwei Jahre, nachdem Istanbul Kulturhauptstadt Europas war und ein Jahr vor den Gezi-Protesten. Ich habe diese Zeit als unglaublich euphorisch erlebt. Istanbul war für mich die exotischste Stadt Europas und die europäischste Stadt des Orients – ein Ort, an dem sehr viel möglich war.
Das ist ein spannender Clash von verschiedenen Einflüssen, die in dieser Stadt zusammenkommen. Und gleichzeitig fühlt man sich, so wie in Rom, als Staubkorn, wenn man 4 000 Jahre Menschheitsgeschichte auf einen Blick sieht. Man hat irgendwelche alten Ruinen und gleich daneben einen kleinen Designladen. Auch die elektronische Musik ist sehr vielschichtig gewesen. Ich habe dieses kreative Chaos, das vielleicht mit den ersten fünfzehn Jahren nach der Wende in Berlin vergleichbar ist, sehr genossen. Niemand wusste so recht, wo es mit dieser Stadt hingeht. Es brachen einfach irgendwelche Kräfte hervor und ein gewisses Tun entstand.
Im Augenblick scheint sich die Situation in Istanbul und im ganzen Land ja leider zum Schlechteren zu ändern.
Die Euphorie ist jetzt in Lethargie umgeschlagen. Dass selbst Professoren nicht reisen können und das Ausmaß der Zensur, das ist sehr traurig. Dazu kommt noch eine Art Autozensur. Die Leute sind, schon bevor die Zensur ansetzt, sehr vorsichtig. Sehr wenige aus meinem Freundeskreis dort schreiben in E-Mails offen, was sie zur Situation denken.
Es ist bestimmt schwer, solche Entwicklungen in einer Stadt zu beobachten, der man verbunden ist.
Alles kann inspirierend sein, wenn man sich die Mühe macht, hinzuschauen. Das gilt insbesondere für Istanbul. Die Stadt ist eine „bitchy diva“ – einerseits schillernd, schön, herzlich und anziehend und andererseits abstoßend hässlich, ungnädig, hart und eitel zugleich. Das ist inspirierend – wenn einen das politische Geschehen nicht lähmt. Würde ich heute noch einmal für ein halbes Jahr hingehen? Man hätte die Hagia Sofia für sich allein … Aber die Euphorie, die ich 2012 gespürt habe, ist bei vielen meiner Bekannten in eine gewisse Apathie und Verdrossenheit umgeschlagen, die durch die letzten Wahlen noch verstärkt wurden. Und nach dem sogenannten „Putschversuch“, der massenhafte Verhaftungen und die Eindämmung der unabhängigen Presse nach sich zog, sehe ich bei meinen Bekannten Mutlosigkeit und eine Flucht ins Private.
Gesellschaftlich ist das Land gespaltener denn je. Ein Drittel der Istanbuler Galerien hat seit den Gezi-Protesten dicht gemacht. Die Sinop-Biennale wurde abgesagt, ebenfalls die Çanakkale-Biennale. Auch die Art International Istanbul fand 2016 nicht statt. Für die Kulturszene sind es keine guten Zeiten. Übrigens auch für nationale Kulturgüter nicht, die oft für merkantile Interessen herhalten müssen, dem Denkmalschutz zum Trotz. Es ist sehr traurig, mit welcher Überheblichkeit so manche Sanierung in einem Umbau und Verkauf an regierungsnahe Großinvestoren endet. Es ist noch trauriger, zu sehen, wie die geistige Elite verstummt, weggesperrt wird oder das Land verlässt.
Aber deine Frage verlangt nach einem positiven Fazit. Ein türkisches Sprichwort sagt: „Meine Hoffnung ist ins Wasser gefallen, aber sie ist nicht ertrunken, ich habe ihr das Schwimmen beigebracht.“ Naja, oder so ähnlich.
Was kommt alles Spannendes auf dich zu in diesem Jahr?
Meine Einzelausstellung Gravity is Just a Habit in der Galerie Wagner + Partner hat gerade eröffnet. Der Titel zielt auf unsere Trägheit ab, Gewohntes und Vorgefundenes unhinterfragt als gegeben und unveränderlich hinzunehmen, statt Dinge zu ändern. Die Ausstellung zeigt Fotografien und Installationen. Man sieht explodierende Vasen, schwarze Landkarten und Projektionen von Himmelssphären. Auch diesmal geht es um das genaue Beobachten und um Parabeln des Alltäglichen.
Außerdem gibt es gerade eine Gruppenausstellung zum Thema Muscle Memory im Kunstraum Kreuzberg, Berlin. Die Ausstellung greift den Begriff des Muskelgedächtnisses bzw. des motorischen Lernens auf, der in den Neurowissenschaften als eine Art von Bewegung definiert ist, die sich durch Wiederholung mit der Zeit in die Muskulatur einprägt. Die Ausstellung untersucht diesen Begriff aus unterschiedlichen Perspektiven im Hinblick auf Gesellschaftspolitik, Körpertechnologie und Machtmechanismen.
Und dann werde ich im Sommer zwei Monate in der Stiftung Kunstdepot Göschenen in der Schweiz verbringen und an einer neuen Serie zum Thema „das kurzsichtige Porträt einer Landschaft“ arbeiten. Bisher stand die optische Genauigkeit des Dokumentierens bei physikalischen Phänomenen besonders im Fokus. Das ist insbesondere deshalb komisch, da ich selbst kurzsichtig bin und für mich nur ein Detail scharf ist, nie aber das Gesamtbild. Genau diese Kurzsichtigkeit möchte ich jetzt zum Thema machen und dafür eine spezielle Kamera entwickeln. Die Unfähigkeit, scharf zu sehen, setze ich mit dem weitläufigen Schweizer Alpenpanorama in Kontrast. Schlussendlich werde ich das Thema der Unendlichkeit auf die Spitze treiben. Wir wissen, dass unendlich + unendlich = unendlich ist. Aber wie sieht doppelte Unendlichkeit aus? Diese Frage wird ganz wörtlich umgesetzt, indem ich die Unendlichkeit des Linsenfokus verdoppele und voraussichtlich in Unschärfe ende.
Ganz besonders freue ich mich auf die Skulpturtriennale in Bingen im Oktober und auf das Festival of Future Nows mit den ehemaligen Studenten von Ólafur Elíasson im Hamburger Bahnhof Berlin im September.
Um es mit John Cage zu sagen: „We welcome what ever happens next.“
Interview: Michael Wuerges
Fotos: Florian Langhammer