Der bildende Künstler Stefan Reiterer beschäftigt sich in Malerei und Computeranimationen mit der Verformbarkeit der Welt. Sein Werk bewegt sich an der Schnittstelle zwischen Virtualität und Realität, geht über das klassische, zweidimensionale Bild hinaus. Er schafft Gebilde, die zwischen Abstraktionen und verschwommenen Landschaften pendeln.
Stefan, welcher Weg hat dich zur Kunst geführt?
Das hat mit dem Künstler Franz Part, meinem Kunstprofessor am Gymnasium, zu tun. Er hat die Schule in meinem Heimatort im Waldviertel quasi zu einem eigenen Gesamtkunstwerk gestaltet, indem er alle Schülerinnen und Schüler mit eingebunden und das ganze Gebäude durch Repliken von bekannten Arbeiten von Joseph Beuys, Meret Oppenheim oder Marcel Duchamp zu einer Art Universalmuseum umfunktioniert hat. Wenn man dort zur Schule ging, war man ständig von moderner Kunstgeschichte umgeben, und das beeinflusste einen auch unterbewusst (lacht). Franz Part hatte großen Einfluss auf mich; er hat mein Interesse am Zeichnen und Malen gesehen und angefangen, mir Input zu geben. Ich bin dann häufig mit kiloweise Katalogen seiner Bibliothek im Rucksack nach Hause gefahren … Das war ganz cool und für mich tatsächlich der Einstieg in die Kunst.
Du hast dann Malerei an der Akademie der bildenden Künste in Wien studiert. Warum Malerei?
Vermutlich ist es am interessantesten, wenn man schon eine Art Berufserfahrung, Studium oder sonstiges im Vorfeld gemacht hat und das dann in die Zeit an der Akademie mitnehmen kann. Oder man hat schon eine recht fortgeschrittene Praxis und weiß bereits, wohin man damit will. Ich glaube aber, viele Leute kommen an die Akademie und beginnen erst dann, sich über verschiedene Lehrveranstaltungen und Seminare ein Bild über das gesamte Spektrum der Medien und Methoden von Kunst zu machen. Bei mir aber war die Aufnahmeprüfung eben direkt nach der Schule mit einer Mappe Grafiken und Malereien.
Hat dein Umfeld dich in deiner Berufswahl, Künstler zu werden, unterstützt, oder gab es einen Plan B?
Nein, den gab es nicht. Aber es gab immer Unterstützung, obwohl meine Eltern nicht per se etwas mit Kunst oder der Kunstwelt zu tun haben. Ich denke, sie haben genauso wie ich erst nach und nach verstanden, was so ein Studium und so eine Berufswahl bedeutet.
Und wann wurde dir bewusst, ich bin jetzt Künstler?
Ich glaube während der Zeit an der Akademie, als ich schon mehrere Ausstellungen gemacht hatte. Dass es wirklich auch ein Beruf werden kann, merkt man, wenn die administrative Arbeit mehr wird. Wenn man dann nur noch am Computer hockt und E-Mails schreibt oder die Steuer machen muss; dann kapiert man, dass man Künstler geworden ist …
Bist du als Künstler gerne selbst für dich verantwortlich oder wünschst du dir Assistenz?
Ich bin schon gerne für mich, aber klar wäre es super, wenn man Sachen abgeben könnte. Im Studium werden einem die erwähnten administrativen Fähigkeiten nicht unbedingt mitgegeben. Ich habe viele Jobs in Galerien und Museen gemacht und einiges von erfahreneren Künstlerkolleginnen und -kollegen gelernt. Zwar gibt es bestimmte Seminare für Alumnis, für die Gestaltung von Portfolios etc., aber eigentlich liegt es danach bei Vereinen wie der Interessengemeinschaft Bildende Kunst, die einem erklären, wie das mit der Sozialversicherung funktioniert oder was „fair pay“ bedeutet. Vielleicht hat sich das inzwischen verbessert, aber ich fand es schon etwas weltfremd, dass das oft außen vor gelassen wird, obwohl es eigentlich deinen ganzen Alltag als Künstler betrifft.
Über dein eigenes Kunstschaffen hinaus betreibst du zusammen mit Axel Koschier den Artist-run Space „new jörg“ in Wien. Kannst du uns mehr darüber erzählen?
Den Kunstverein gibt es seit 2013, gegründet von Axel Koschier, Bernhard Rasinger und Saskia Te Nicklin. Als ich in das neu gegründete Gemeinschaftsatelier eingezogen bin, habe ich angefangen, im „new jörg“-Raum eigene Ausstellungen zu realisieren. Bernhard und Saskia sind 2015 aus Zeitgründen aus dem Verein ausgestiegen, und seitdem führen Axel und ich diesen nun fort. Aber alle, die im angeschlossenen Atelier Pappenheimgasse 37 eingemietet sind, können Ausstellungen, Konzerte, Screenings etc. organisieren, da sie den Raum auch mit bezahlen. Dadurch bleibt das Programm sehr lebendig.
Tatsächlich gibt der Verein Kunstschaffenden eine ganz andere Sichtbarkeit …
Richtig. Von vornherein war die Idee, dass man Kunstschaffenden, die weniger Sichtbarkeit oder keine Galeriepräsenz in Wien haben, einen Raum und eine Plattform gibt. Bisher hatten wir durch Förderungen von Staat, Stadt und Bezirk die Möglichkeit, über sechzig Einzelausstellungen und Projekte im In- und Ausland zu realisieren und fast dreißig Publikationen zu veröffentlichen. Dabei haben wir immer darauf geachtet, allen Beteiligten ein Künstler*innenhonorar zu bezahlen.
Siehst du hier gegenüber Galerievertretungen Vorteile?
Wir sind vor allem viel flexibler und nicht darauf angewiesen, dass wir irgendetwas verkaufen. Somit können die eingeladenen Künstler*innen die sperrigsten Ideen umsetzen. Das schließt aber natürlich Verkäufe nicht aus, die sich hin und wieder ergeben. Wir haben auch einen Online-Shop auf unserer Website für die Editionen und Publikationen, die wir herausgeben. Selbst auf den Messen, zu denen wir als „new jörg“ eingeladen waren, merkte man ganz klar, dass man als Artist-run Space oder Projektraum anders wahrgenommen wird. Im Endeffekt handelt es sich dabei um eine weitere Ausstellungsfläche und Präsentationsmöglichkeit für sehr gute, aber vielleicht weniger bekannte Künstlerinnen und Künstler. Diese oft internationale Sichtbarkeit und das daraus resultierende Interesse sind wichtig. Aber es ist gut, diesen Verkaufsdruck nicht zu haben.
Deine Arbeit ist geprägt von der Malerei und der Schaffung analoger sowie digitaler Räume. Welche Themen beschäftigen dich?
Es geht grundlegend um eine sehr klassische Fragestellung: nämlich wie objektiv ein Bild von der Welt überhaupt sein kann und inwieweit es konstruiert ist. Da ich u. a. auch mit digitalen Satellitenbildern arbeite, wie zum Beispiel jene von Google Earth oder Google Maps, stellt sich immer die Frage, ob diese von großen Technologie-Firmen oder staatlichen militärischen Organisationen bereitgestellten Bilder „wahr“ sind oder nicht. Aber das Digitale fließt auch anders mit ein, zum Beispiel in meiner Zusammenarbeit mit dem kanadischen Künstler Jeremy Bailey für die Ausstellung Deflection in der Galerie CRONE in Berlin, als in der Ausstellung von ihm gestaltete Avatare verstorbener Künstler*innen der Galerie meinen Arbeiten begegneten.
Bei deinen malerisch-abstrakten Werken finden sich durchaus Elemente, in die das Reale hineinspielt und von denen man sagen könnte, das ist der Himmel, eine Hauswand oder eine Straße …
Es ist ein Spiel, das Abstraktion und Figuration, Klarheit und Unklarheit vermischt. Vielleicht liegen die Anfänge davon bei meinem Diplom an der Akademie, wo es um das Wechselspiel von Pixel- und Vektorgrafiken ging und wie man diese im Verhältnis zur Malerei verwenden kann. Mich interessiert es, wenn amorphe, mikro- oder makroskopische Strukturen ins Gegenständliche wandern. Wenn aus verschwommenen, leuchtenden Gefäßen plötzlich nächtliche Straßenzüge – aus dem Flugzeug betrachtet – werden. Ich finde es schön, wenn sich ein großer Freiraum für Interpretationen öffnet. Es gibt in meinen Augen nichts Langweiligeres als schnell erfassbare, auf eine Lesart durchdeklinierte Kunst.
Gibt es Reaktionen, die du dir wünschst?
Nein. Ich bin mit allem zufrieden, selbst wenn es harte Kritik gibt. Es kam auch schon vor, dass Leute die Orte, von denen die Satellitenbilder stammen, erkannt haben, was ziemlich unwahrscheinlich und absurd ist. Es ist aber unerheblich für das Betrachten der Bilder. Auch den Austausch im Atelier mag ich gerne, mit jemandem über meine oder auch die Arbeiten anderer zu sprechen, weil es oft ein näheres Feedback bringt, das tiefer gehen kann.
Wie würdest du deine Arbeit in wenigen Worten beschreiben?
Es ist eine Beschäftigung mit Raum und wie man diesen durch die Malerei darstellen oder mit einfachen Mitteln verändern kann, sei es jetzt analog, digital oder architektonisch gedacht. Meine Arbeit bewegt sich derzeit immer in Verbindung oder im Kontext zur Malerei.
Du meintest einmal: „Malerei – das ist nicht nur ein Bild flach an der Wand.“ Kannst du das ausführen?
Das könnte man kunsthistorisch beantworten, vom Bauhaus über Sam Gilliam bis Katharina Grosse. Seit 2011 arbeite ich mit Installationen, mit gespannten bemalten Stoffbahnen oder geformten MDF-Platten, die Ausstellungsräume, deren Architektur und Sichtachsen definieren. Auch die Arbeiten, die ich jetzt gerade mache, sind entweder objekthaft oder geben eine Räumlichkeit illusionistisch vor und bewegen sich nicht in einem klassischen Format.
Wie genau nimmst du den Raum ein?
Das kommt darauf an. Für eine Einzelausstellung ist das ein Prozess mit vielen Skizzen und Modellen, die Ideen klarer machen. Bei einer Gruppenausstellung versuche ich defensiv vorzugehen, also zu sehen, was möglich ist … Wenn es beispielsweise um eine Installation geht, arbeite ich größtenteils erst im Aufbau an der endgültigen Form, im Austausch mit den anderen Beteiligten. Da die Arbeiten meist die anderen Positionen und die Ansichten im Raum beeinflussen, ist es eine Herausforderung. Aber das macht es auch spannend, es ist reizvoll.
Um bei der Räumlichkeit zu bleiben: Musst du vor Ort sein, oder reichen dir Raumpläne für die Umsetzung?
Lieber bin ich vor Ort. In den letzten beiden Jahren, also während der Pandemie, habe ich es auch über lange Distanzen organisieren können; zum Beispiel in einer Ausstellung mit Bente Skjøttgaard bei Stereo Exchange in Kopenhagen. Oder in einer Strandhöhle in Sydney, aber da gebe ich mehr oder weniger klare Anweisungen und sage, so oder so kann der Stoff angebracht und zerschnitten werden. Für eine andere Ausstellung in Sydney hat mein Freund, der Künstler Alexander Jackson Wyatt, beim Aufbau gesagt: „Ah, ich kann mit deinen Arbeiten also machen, was ich will!“ Und ich meinte: „Eigentlich schon, ja.“ Aber diese Leichtigkeit hat auch viel mit meinen Erfahrungen mit Kollaborationen zu tun, wo zusammen etwas entwickelt wird. Die Ehrfurcht vor der eigenen Arbeit habe ich abgelegt. Wenn damit irgendetwas Unvorhersehbares passiert, etwas, das man nicht aufhalten kann, dann gehört das dazu.
Das klingt fast so, als dürfe deine Kunst ein Eigenleben haben …
Ja, ich denke schon. Nichts wird ewig bestehen. Die meisten meiner Bilder sind auf MDF gemalt; sie sind zwar mit Acrylbinder fixiert, aber sie werden keine 500 Jahre überdauern. Ich glaube, so wie ich und viele meiner Kolleg*innen die Umstände der Haltbarkeit und Nachhaltigkeit nicht unbedingt in die Kunstproduktion mit einbeziehen, wird es wohl ein goldenes Zeitalter für Restaurator*innen werden (lacht).
Passt deine Kunst also nur in die heutige Zeit?
Hier ergibt sich für mich eher eine Gegenfrage: Wie wird man die Arbeit in 50 Jahren sehen? Das beschäftigt mich mehr. Ob sie ins Heute passt oder nicht, das steht außer Frage, weil ich sie jetzt mache. Eine gewisse Zeitlosigkeit würde ich mir aber schon wünschen …
Bedeutet das, es gibt manchmal Zweifel im Arbeitsprozess?
Ja, jeden Tag. Ich glaube, das gehört dazu und ist das, was einen weiterbringt. Wenn ich sagen würde, jeder Entwurf und jede Arbeit sind wahnsinnig gut, wäre das eher ein sehr angenehmes Hobby als ernsthafte Auseinandersetzung … Besser, man kommt über Schwierigkeiten an einen Punkt, der einen wirklich interessiert. Das hat ja auch damit zu tun, dass man andere und deren Kunst auch meist kritisch betrachtet und dass das einem wieder etwas zurückgibt für das eigene Denken, für die eigene Arbeit.
Es heißt, du verzichtest bewusst auf bedeutungsschwere Titel.
Teilweise sind sie bedeutungsschwer. Es gibt zum Beispiel die Serie DATA SIO, NOAA, U.S. Navy, NGA, GEBCO, die US-Organisationen anführt, deren Satellitenbildmaterial an Copyright gebunden ist. Das ist ein Scherz, gibt eine Richtung vor und ist politisch. Aber ich kann besser damit umgehen, wenn meine Arbeiten nicht benannt werden.
Arbeitest du immer in Serien?
Schon, ja. Es gibt einige größere Serien, die sich gegenseitig beeinflussen. Die Stoffinstallationen heißen zum Beispiel texture mapping, kleinere Formstudien, Malereien und Collagen images, bemalte 3D-Drucke heißen formants und große, in Form geschnittene Bilder templates.
Neben den bürokratischen Hürden im Alltag, wie sieht denn der typische Schaffensprozess bei dir aus? Legst du dir ein Konzept zurecht oder arbeitest du eher intuitiv?
Das ist unterschiedlich, aber es gibt gemeinhin einen Grund, irgendetwas zu machen, und dann ist für das meiste, wie für die größeren Einzelausstellungen, die Arbeit am Computer sehr relevant – das beinhaltet das Skizzieren und Modellieren; hierfür verwende ich Software-Programme und habe eine Art eingespielte Arbeitsweise. Darüber hinaus hatte ich das Glück, dass ich vor den letzten größeren Ausstellungen Artist-in-Residence-Aufenthalte hatte. Das ist recht gut, weil man sich dann ein bisschen abschotten kann. Aber an sich ist es oft die Arbeit am Screen, bei der viele Entscheidungsprozesse stattfinden, und erst dann geht es in den Produktionsprozess, um die Bilder zu malen. Manchmal passiert das auch gegenläufig und die gemalten oder collagierten Bilder tauchen als Fotos in den 3D-Modellen und Renderings wieder auf.
Was treibt dich in deinem künstlerischen Schaffen an?
Am meisten wohl Kunst an sich: Ausstellungen in Museen, Galerien oder anderen Räumen anzuschauen … Und dann kommt vieles hinzu, wie Reisen, Bücher etc. Oder der Austausch mit anderen Kunstschaffenden. Ich denke, das ist sehr organisch und es fließt vieles unterbewusst mit ein. Vor allem ist es ja nicht mehr so, dass ich bei Punkt null anfangen muss, sondern ich entwickle die Dinge weiter.
Wien ist mittlerweile die Stadt, in der du lebst und arbeitest. Was zeichnet die Stadt als Ort zum Kunstmachen aus?
Erstens ist Wien immer noch günstig im Vergleich zu anderen Städten. Ich könnte mir nicht vorstellen, so ein Atelier, wie ich es jetzt miete, in Paris oder London zu haben, ohne dabei drei Nebenjobs machen zu müssen und keine Zeit mehr für die eigene Arbeit zu finden. Im Vergleich zu anderen Ländern in Europa ist auch die Unterstützung durch die öffentliche Hand wahnsinnig gut, es gibt Stipendien und Preise. Das heißt, dass Kunst und Kultur im Allgemeinen ein großer Stellenwert zugeschrieben wird – auch wenn diese Förderungen, vor allem was die freie Szene abseits der großen Häuser und Institutionen betrifft, oft durch rechte Politik in Bedrängnis geraten. Eine der interessantesten Entwicklungen der letzten Jahre war sicherlich die Etablierung des Independent Space Index, ein Zusammenschluss der Wiener „Off-Spaces“ und der daraus resultierende Austausch untereinander. Der Künstler Francis Ruyter hat das einmal sinngemäß sehr gut auf den Punkt gebracht: Würde man alle Artist-run Spaces, Kulturvereine, Projekträume etc., deren Ausstellungsfläche und das irrsinnig vielfältige Programm zusammenrechnen, ergäbe sich daraus das größte, dichteste programmierte Ausstellungshaus, ausgestattet mit dem geringsten Budget überhaupt.
Woran arbeitest du derzeit?
Es war in letzter Zeit sehr viel los, und ich freue mich auf das kommende Jahr, da ich mit meiner Partnerin, die Performance-Künstlerin ist, und unserem Sohn für einige Zeit in Paris sein werde, weil sie dort ein Stipendium bekommen hat. Eine sehr gute Zeit, um den Kopf wieder freizubekommen, Ordnung zu schaffen und mich auf Neues einzulassen.
Interview: Marieluise Röttger
Fotos: Christoph Liebentritt