Thilo Jenssens Arbeiten greifen nach Zeichensystemen, Popkultur und körperlichen Ausnahmezuständen. Vorhandenes Material wird so lange bearbeitet, bis eine brüchige Perfektion erreicht wird, die, wenn nötig, Halterung erfährt. Der studierte Bildhauer experimentiert mit unterschiedlichen Medien und Techniken, wobei eine malerische Praxis bevorzugt wird, die installative sowie thermoaktive Arbeiten hervorbringt.
Thilo, du hast in Kassel Kunst und Philosophie studiert und dich nach deinem Umzug nach Wien in die Klasse für Malerei von Daniel Richter eingeschrieben. Worin lag dein Antrieb, noch ein zusätzliches Studium in der Kunst zu absolvieren?
Obwohl ich bereits an der Kunsthochschule Kassel bei Florian Slotawa und Christian Phillip Müller Bildhauerei studiert und meinen Abschluss in Kunst und Philosophie gemacht hatte, lag mein künstlerischer Schwerpunkt schon immer auf der Malerei. In Wien hat sich das Bedürfnis entwickelt, noch eine reine Malerei-Klasse zu besuchen, um meine malerische Praxis in einer neuen Stadt und in einem anderen Kontext weiter zu vertiefen.
Obwohl dein Schwerpunkt auf der Malerei liegt, erscheinen deine Arbeiten auf den ersten Blick wie Installationen und Skulpturen.
Ich habe immer mit unterschiedlichen Medien gearbeitet und experimentiert. Tatsächlich werden meine Arbeiten fortlaufend installativer und mein Arbeitsprozess beinhaltet bereits skulpturale Ansätze. Oft stelle ich dabei Halterungen oder „Displays“ für Bilder her, die Teil der Arbeit werden und mir ermöglichen, anders mit ihnen im Raum umzugehen. Diese Elemente verstehe ich als malerische Erweiterung und sie stellen auch weitere Bezüge her. Je nach Positionierung der Werke oder deren reflektierender sowie thermoaktiver Bildoberfläche erhalten auch der Raum sowie die unmittelbare Umgebung eine weitere Bedeutung.
Kannst du beschreiben, wie der Arbeitsprozess die skulpturalen Ansätze in deiner Malerei auslöst?
Meine Malerei ist sehr prozesshaft angelegt und entsteht in einem speziellen Verfahren, welches die Bilder schlussendlich generiert. Ich lackiere, spachtle und schleife meine Malereien in Schichten, bis sich eine „sleeke“ Oberfläche ergibt, die schon fast „screenartig“ wirkt. Durch das Auftragen von Farbe und das Schleifen der Bilder entsteht ein archäologischer Zugang, bei dem unterliegende Farbflächen immer wieder freigelegt werden. Die Bilder bekommen dadurch etwas Körperliches, und es entstehen Risse, Brüche und Ungeplantes, was den Produktionsprozess thematisiert beziehungsweise sichtbar macht. Gerade diese kleinen Fehler und Missgeschicke interessieren mich und geben dann oft den Anlass für weitere Arbeiten.
Wie hat sich dieser Arbeitsprozess entwickelt?
Einerseits wollte ich Eigenschaften der Malerei verschieben und visuelle Eindrücke der Gegenwart einbeziehen. Als Einfluss diente mir auch die „Finish Fetish“-Bewegung der 1960er-Jahre in Los Angeles. Dort hat eine Gruppe von Künstlern und Künstlerinnen rund um John McCracken verschiedene Materialien aus der industriellen Welt verwendet, um die kalifornische Kultur zu thematisieren. Viele Techniken, die dabei eingesetzt wurden, waren aus der Autoindustrie entlehnt. Auch ich greife auf Lacke und industrielle Materialien zurück oder male schimmernde Objektbilder, die oftmals die Sub- und Popkultur meiner Generation behandeln oder einfache Alltagsbeobachtungen beinhalten.
Kannst du deinen Zugriff auf popkulturelle oder alltägliche Phänomene näher erläutern?
Ich arbeite sehr viel mit „found footage“. In der Pop- und Subkultur verweise ich auf Sprach- und Zeichensysteme und kombiniere diese mit alltäglichen Ereignissen, die mir begegnen. Zum Beispiel greife ich in manchen Arbeiten auf die Songtexte von Bonnie Tyler oder Plattencover von Iron Maiden zurück. Auch kunsthistorische Verweise, wie die Arbeit von Blinky Palermo oder von Henri Matisse, können eine Rolle spielen. Wichtig ist für mich auch der urbane, öffentliche Raum. Hier interessieren mich die Umdeutungen und Aneignungen öffentlicher Architekturen und Strukturen, wie es auch im Graffito oder Skateboarding passiert. Der spielerische Zugang zu Systemen und Handlungsregimen ist in diesem Zusammenhang sehr spannend.
In deinen Arbeiten können auch philosophische Gedankengänge, wie jene von Michel Foucault, entdeckt werden. Wie gehst du mit diesen philosophischen Theorien um?
Ich übertrage keine komplexen, philosophischen Theorien in meine Arbeiten, sondern verwende Gedanken, die ich spannend finde und an denen ich weitere Überlegungen anfügen möchte. In meiner Arbeit Stabile Zustände aus dem Jahr 2014, bei der ich mich sehr stark mit der stabilen Seitenlage des Menschen auseinandergesetzt habe, stütze ich mich auf Michel Foucault und seine Gedanken zu Subjektivierung, Biopolitik und Gouvernementalität und frage nach der Dressur des Körpers. Diese inhaltlichen Referenzen funktionieren als Subtexte und fließen in meine formale Arbeit ein.
Zusätzlich hegst du ein besonderes Interesse für die fotografischen Abbildungen Erster-Hilfe-Maßnahmen. Wie arbeitest du mit diesen Bildern und was fasziniert dich so daran?
Ich war immer schon von den Abbildungen Erster-Hilfe-Maßnahmen fasziniert, da sie, aus dem ursprünglichen Kontext gelöst, andere Assoziationen wachrufen können, die sehr verstörend wirken. Ich verwende Ausschnitte dieser Bilder und arbeite die Choreografie der abgebildeten Körper heraus, die teilweise übergriffig, rituell, sexuell oder zärtlich erscheinen. Mich interessieren diese inhaltliche Ambivalenz sowie die vorhandenen Momente von „Halt“ und „Einschränkung“, die sich daraus ergeben. Die Abbildungen der Körper sind positioniert, werden gesteuert und greifen gleichzeitig ineinander und werden zu einer Kollaboration. Es geht um eine Stabilität in Ausnahme- und Notsituationen, und ich thematisiere diese als temporären Zustand, der immer wieder durch menschliches Zutun hergestellt werden muss.
Beschäftigen dich neben der Ersten Hilfe auch „emotionale“ Hilfsmaßnahmen?
In meiner Arbeit existieren unterschiedliche Ebenen, die ineinanderfließen. Stabile Zustände, die in sich zusammenfallen und immer wieder neu erschaffen und aufgebaut werden müssen, finden sich natürlich auch in emotionalen und existenziellen Bereichen. Mir ist es jedoch wichtig, dass die Arbeiten nicht pathetisch werden. Daher erfasse ich die emotionalen Aspekte meiner Arbeit im Umgang mit körperlichen Komponenten und sehe den Menschen mehr als „haltbedürftiges“ Wesen, das immer auf Stützen angewiesen ist.
Viele Referenzen, egal ob popkulturelle oder Alltagsverweise in deinen Arbeiten, wirken kontext- beziehungsweise ortsgebunden. Welche Rolle spielen diese beiden Komponenten?
Die aktuelle Umgebung und alltägliche Erfahrungen haben immer großen Einfluss auf meine Arbeiten. Das sieht man besonders gut bei den Ausstellungen New Energy und Restless Legs. Beide Shows haben denselben Ausgangspunkt, unterscheiden sich aber aufgrund des veränderten Kontexts und Settings. Bei Restless Legs habe ich auch mit einer Serie von Skulpturen, den Cigarettes aus dem Jahr 2017, begonnen, die den typischen Wiener Aschenbechern im öffentlichen Raum nachempfunden sind. So werden die Objekte anders gelesen, je nachdem, ob man mal in Wien war oder nicht. Die spezifischen Gestaltungen oder Lösungen von Strukturen und Phänomenen erzählen viel von ihrem Kontext und erzeugen darüber hinaus oft ganz andere oder widersprüchliche Assoziationen. Krankenhäuser, Auto-Tuning und Nail-Design sind ebenfalls Bereiche, die ihre eigenen Codes und Regeln sowie Logiken haben. Damit spielerisch umzugehen, sie zu verschieben und auf die eigene Praxis anzuwenden, finde ich sehr spannend.
Vor deinem Antritt deiner Residency in Willingshausen warst du selbst auf Erste Hilfe angewiesen. Dieses Erlebnis hat auch Eingang in dein Kunstschaffen gefunden. Kannst du davon erzählen?
Ein paar Wochen vor Beginn meiner Residency habe ich mir auf dem Zentralfriedhof in Wien mein Bein schlimm gebrochen. Während eines Spazierganges fiel durch einen unglücklichen Zufall ein 250 Kilogramm schwerer Obelisk auf mich. Nach Erster Hilfe auf dem Friedhof und einem Aufenthalt im Krankenhaus begann meine Residency in Willingshausen etwas verspätet. Diesen Unfall thematisiere ich in meiner Werkserie New Energy, die 2016 vor Ort entstand, inspiriert von meinem Bedürfnis nach Ruhe und Erholung.
Wie genau hast du dies umgesetzt?
Ich kam auf Krücken in Willingshausen an und fand mich in einer frühlingshaften Idylle wieder, die mich fast an ein kommerzielles Bild von Natur und Genese erinnerte. Ich unternahm lange Spaziergänge und fühlte mich wie auf einem Kururlaub. Dabei entstanden dann farbenfrohe, monochrome „Landschaftsmalereien“, und ich baute die Krücken zu Halterungen für meine Bilder um. Einige waren auch mit thermoaktiver Farbe gemalt, sodass sie durch Sonnenlicht oder Wärmequellen permanent ihre Erscheinung veränderten. Zusätzlich zeigte ich süßlich-banale Fotografien von grünen Wiesen und leuchtend gelben Rapsfeldern, die ich bei den Wanderungen gemacht hatte und die an Stockfotos erinnerten. New Energy war also als produktiver und ironischer Umgang mit meinem Unfall angelegt. Für meine Ausstellung Restless Legs bei König2 habe ich das Thema weitergetragen und mich diesmal eher mit Genesung im urbanen Raum auseinandergesetzt. Ich war ja wieder in Wien und von ganz anderen Dingen umgeben. Dabei entstand das Bild eines Raucherbereichs einer Hospitalanlage in meinem Kopf, der von krückenartigen Wesen in einer seltsamen sozialen Konstellation benutzt wird.
Deine Bilder weisen alle eine ähnliche, auch sehr handliche Größe auf. Gibt es Hemmungen „größer“ zu werden?
Im Moment arbeite ich viel auf einem Format, auf dem ich zügig agieren und schnell Ideen ausprobieren kann. Dadurch kann ich Beobachtungen und Ansätze direkt umsetzen und weiter verfolgen. Große Formate müssen wegen des recht aufwendigen Verfahrens lange vorbereitet werden, und das kann manchmal die Möglichkeit, Fehler und Überraschendes zuzulassen, hemmen. Ich arbeite grad aber auch parallel an größeren Bildern. Oft wirken die auf Halterungen montierten Bilder wie Figuren oder karikaturhafte Wesen. Hier spielt dann das Format eine wichtige Rolle, um den Moment von Körperlichkeit zu verstärken.
Arbeitest du gerade an neuen Projekt? Wenn ja, kannst du etwas davon erzählen?
Momentan bereite ich mich auf mehrere Projekte vor, da im nächsten halben Jahr verschieden Gruppenausstellungen anstehen. Unter anderem auch eine Show in Los Angeles mit der amerikanischen Künstlerin Hannah Boone, die für Anfang 2019 geplant ist. Halterungen und Arretierungen werden weiterhin eine Rolle spielen, es werden aber auch vermehrt gegenständliche Elemente auftauchen. Ansonsten kuratiere ich zusammen mit den beiden Künstlerinnen Anna Schachinger und Michaela Schweighofer die Ausstellungsreihe SEASONS, in der wir vierteljährlich eine junge künstlerische Position nach Wien einladen. Hier versuchen wir den Fokus auf Künstler und Künstlerinnen zu legen, die noch nicht in Wien ausgestellt haben und die unserer Meinung nach eine ungewöhnliche künstlerische Praxis auszeichnet.
Interview: Alexandra-Maria Toth
Fotos: Florian Langhammer