Tobias Zielony wurde bekannt für seine Fotografien, die ausgegrenzte Jugendliche in benachteiligten urbanen Gegenden zeigen – Bilder des Rumhängens und des Wartens. Sozial benachteiligte und in der Wahrnehmung des Mainstreams nicht vorkommende Menschen und Subkulturen waren bereits ein Thema, für das sich Zielony während seines Studiums in der Industriestadt Newport, einer Wiege der britischen Dokumentarfotografie, interessierte. Seine Fotografien sind Porträts im weitesten Sinne, sie haben aber auch etwas von der ethnologischen Idee der teilnehmenden Beobachtung. Er verbringt viel Zeit mit den Menschen, die er fotografiert, gewinnt ihr Vertrauen, interessiert sich für sie. Getrieben von dieser Neugierde und Solidarität mit seinen Protagonisten und Protagonistinnen, halten seine Bilder immer eine Spannung zwischen Nähe und Distanz, unverstellter Wahrheit und Fiktion, Inszenierung und Spontaneität.
Tobias, wie hast du eigentlich zur Fotografie gefunden?
Mein Vater und mein Bruder waren beide Hobbyfotografen. Ich erinnere mich noch gut an die Familienbilder und die unzähligen Kodachrome-Dias, die mein Vater auf seiner Amerikareise gemacht hat. Es war für mich eigentlich selbstverständlich, dass ich irgendwann auch anfangen würde zu fotografieren.
Du bist 1997 zunächst nach Berlin an die Fachhochschule (die heutige Hochschule) für Technik und Wirtschaft gegangen?
Es war für mich relativ klar, dass ich Fotograf werden wollte. Es hatte mich anfangs nur keine der einschlägigen Hochschulen angenommen. Deswegen habe ich zunächst an der HTW Kommunikationsdesign studiert, wo ich unter anderem Typografie und Bleisatz gelernt habe, also noch richtig alte Schule.
Du bist dann aber 2001 nach Newport gewechselt, damals schon eine strukturschwache Industriestadt in Wales. Was hat dich ausgerechnet dorthin gezogen?
Newport selber bestand früher eigentlich vor allem aus dem Hafen und einem Stahlwerk. Wenn ich sage, ich habe in Newport studiert, höre ich heute noch von vielen Briten „I know, it’s a shithole.“ Es ist wirklich keine Stadt, wo man gerne hin möchte. In Berlin war ich aber nur so halb glücklich mit dem Studium, auch wenn ich damals mit Manfred Paul einen super Fotografie-Professor hatte. In der neuen Gesellschaft für bildende Kunst in Berlin hatte ich eine Ausstellung über britische Fotografie gesehen, die mich sehr beeindruckte, und Newport war lange Zeit eine wichtige Schule für dokumentarische Fotografie. Der Begriff Dokumentarfotografie war für mich damals zwar noch nicht sehr präsent, aber mich faszinierte die dortige politische Haltung der Fotografen und eine Art, zu fotografien, die nichts mit Reportage-Ästhetik zu tun hatte.
Es hält sich ja die Auffassung, dass die dokumentarische Fotografie die unverstellte Wahrheit darstellt.
Oft wird das Dokumentarische mit der Idee des Ungestellten, Objektiven verwechselt. Dieses Dogma hat sich recht lange gehalten. Es gab ziemlich wenige Momente, in denen ich an eine wahrheitsgetreue Dokumentation geglaubt hätte. Das Studium hat mich darin bestätigt. In Newport haben wir eher Geschichten mit Bildern konstruiert. Und in dem Wort „Geschichte“ ist ja auch schon Fiktion enthalten.
Wenn man sich Newport anschaut, dann schaut dort ja auch niemand hin. War diese Umgebung dann der Anlass?
Damals in Berlin haben wir im Studium Straßenfotografie gelernt – heimlich mit Weitwinkel zu fotografieren –, etwas, das man heute eigentlich kaum noch machen kann. Ich war damals oft in Marzahn unterwegs, bis ich da auch zweimal verprügelt worden bin und kapiert habe, dass man das einfach nicht macht, Leute heimlich zu fotografieren. Für mich war es viel interessanter, Menschen anzusprechen und sie kennenzulernen. In Newport habe ich genau das gelernt. Unsere Lehrer sagten, wer in Newport gute Bilder machen kann, der kann es überall auf der Welt. Und auf den ersten Blick ist es wirklich nicht so einfach, in dieser Stadt zu interessanten Bildern zu kommen. Irgendwann wachsen einem die Leute, die man fotografiert ans Herz, und man denkt, warum interessiert deren Leben eigentlich niemanden? Vielleicht war das auch so ein Trotz, zu überlegen, welche Bedeutung hat ihre Situation in einem größeren politischen Zusammenhang? Nur weil sich niemand für sie interessiert, sind diese Leute ja nicht unwichtig oder zweitranging? Deshalb war es vielleicht eine Mischung aus Pragmatismus, weil ich sowieso da war, und einer politischen Haltung, die sich entwickelt hat, zu sagen: Das ist jetzt wichtig.
An die Ränder der Gesellschaft zu gehen, ist seitdem ein unverkennbarer Teil deiner Arbeit geworden.
Die „Ränder“…, das ist so ein Begriff, dem ich im Zusammenhang mit meiner Arbeit öfter begegne und den ich aber kritisch sehe. Ich glaube nicht an diese klare Unterscheidung von Mitte und Rand. Denn eigentlich befinden wir uns in unserer Wahrnehmung ja immer selbst im Zentrum, ausgehend von dort, wo wir uns gerade befinden. Natürlich gibt es Leute, die marginalisiert werden, die schlechter dastehen oder benachteiligt werden. Auch für diese Menschen spielt sich aber in deren Umfeld der Mittelpunkt ihres Lebens ab. Ich glaube, dass es auch in meinen Bildern zu spüren ist, dass man sich als Betrachter sozusagen tatsächlich sehr nah bei den Menschen befindet, die ich fotografiere, und von dort aus wieder nach „außen“ schaut.
Wir hatten gerade schon über den dokumentarischen Stil in der Fotografie gesprochen, mit dem du gerne in Verbindung gebracht wirst, womit du selbst aber gar nicht so einverstanden zu sein scheinst. Wie würdest du deine Arbeit in eigenen Worten einordnen?
Ich sehe den Begriff des Dokumentarischen eher als ein Genre, als eine Konstruktion, auf die ich mich zwar beziehe, aber ich würde mich nie selbst als Dokumentaristen bezeichnen. Das, was mich beschäftigt, ist nicht so sehr das Dokumentarische an sich, sondern das Erbe des Dokumentarischen. Und zu diesem Erbe oder dieser Tradition gehört eben auch die Auseinandersetzung mit marginalisierten Gruppen.
Siehst du einen Bezug zwischen deiner Arbeit und der von bedeutenden Fotografen wie Nan Goldin oder Wolfgang Tillmans, die in ihrem fotografischen Werk Einblicke in Milieus wie die homosexuelle Szene gegeben haben und deren Bilder oft von einer großen Intimität mit den porträtierten Menschen zeugen?
Man könnte meine Arbeit in der groben Linie dort einordnen, aber gleichzeitig besteht ein großer Unterschied. Denn im Gegensatz zu Nan Goldin oder Wolfgang Tillmans bin ich nicht permanenter Teil der Gruppen, die ich porträtiere. Ich begebe mich für eine Zeit lang an einen anderen Ort, treffe Menschen, die ich zumeist vorher nicht kannte. Gleichzeitig bleibt aber eine gewisse Distanz, die auch meine Position als Fotografen betrifft. Das Medium wird genauso thematisiert wie die Menschen, die ich fotografiere.
Allein dadurch, dass die Kamera immer dabei ist, herrscht ja eine gewisse Klarheit der Verhältnisse?
Genau. Aber Intimität ist wahrscheinlich schon ein guter Begriff. Es geht darum, eine Form von Nähe herzustellen, die vielleicht gar nicht faktisch besteht, jedenfalls nicht dauerhaft im Sinne einer langen Beziehung oder engen Freundschaft. Diese Intimität kann auch für einen Moment oder für die Dauer eines eineinhalbjährigen Projekts entstehen.
Ist es dir auch wichtig zu verstehen, dass es klar ist, dass du zwar inmitten der Gruppe stehst, aber nicht Teil der Gruppe bist?
Ja, weil es auch immer um die Befragung meiner Rolle oder die Befragung der Fotografie geht. Es geht nicht nur um das, was auf den Bildern ist, sondern auch um die Frage, was bedeutet es, diese Bilder zu machen.
Was ist die eigentliche Frage, die dich umtreibt, wenn du dich – bleiben wir mal dabei – an den Rand der allgemeinen Aufmerksamkeit begibst?
Für mich stellt sich zwangsläufig die Frage: Wenn es einen „Rand“ gibt, was ist dann die Mitte? Wir befinden uns in einer Situation, wo sich das völlig auflöst. Was ist das Zentrum? Wer ist jetzt die Mitte. Wer steht am Rand? Was ich früher oft benutzt habe, ist die Frage nach der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Wer ist für wen sichtbar, und warum? Das verändert sich gerade sehr, auch durch soziale Medien.
Wie schaffst du es, Vertrauen mit den Menschen aufzubauen, die du fotografierst?
Es gibt da kein Geheimnis, das ich nicht verraten möchte, aber ich glaube, es ist eine Fähigkeit, die man nur schwer richtig erklären kann. Es geht erst mal um die Produktion eines Bildes. Das ist ja relativ klar, jedenfalls für mich, und ich hoffe auch für die Leute, die ich fotografiere. Im Laufe der zwanzig Jahre, in denen ich inzwischen fotografiere, habe ich, glaube ich, gelernt, Leute zu finden, die auch auf mich reagieren und selbst eine gewisse Offenheit oder empathische Fähigkeit mitbringen. Wir wurden damals in Newport dazu angehalten, unglaublich viele Fotos zu machen, an Türen zu klopfen und ständig Leute kennenzulernen. Und natürlich gibt es Menschen wie ich, denen das ein bisschen leichter fällt. Aber es ist mir auch nicht von Anfang an in die Wiege gelegt worden. Ich kann mich noch ganz gut an diese ständige Überwindung erinnern, Leute anzusprechen. Aber wenn man das immer wieder macht, entwickelt man eine gewisse Erfahrung darin.
Warum glaubst du, lassen sich Menschen von dir fotografieren?
Vielleicht, weil sie die Sache ernst nehmen, wenn sie verstehen, dass ich sie selbst ernst nehme. Wir verbringen ja viel Zeit miteinander, ich interessiere mich für sie. Dann hat es sicher auch mit Wertschätzung zu tun. Manchen ist vielleicht auch einfach langweilig. Manchmal ist es Eitelkeit. Es kann viele Gründe geben.
Hattest du schon einmal eine Situation, in der es für dich brenzlig wurde? Eine Kamera kann ja auch eine Provokation sein, auch wenn sie nicht heimlich eingesetzt wird.
Also ich bin nie verletzt oder verprügelt worden. Was natürlich auch schon eine Art von Wunder ist, muss man sagen. (lacht) Aber kurz davor war es, glaube ich, schon öfter mal. In Marseille hat mir jemand die Kamera aus der Hand gerissen und den Film rausgezogen. Oder hier in Berlin war ich mal in so einer Art „Russen-Disco“, da hat mir auch jemand die Kamera aus der Hand geschlagen und wollte sich mit mir prügeln. Es ist aber nie ernsthaft etwas passiert.
Warum, glaubst du, ist eine Kamera so eine Gefahr für manche Leute?
Vor zwanzig Jahren waren die Menschen nur viel argwöhnischer, manche haben gedacht, ich sei Polizist oder Spion oder so etwas. Heute macht jeder ständig Fotos von sich und von anderen. Das Misstrauen gegenüber meiner Kamera ist eher kleiner geworden. Es gibt aber Leute, die mit gutem Grund sagen, dass sie nicht fotografiert werden möchten. Selbst ich entwickle manchmal eine Art Aversion, wenn ich irgendwo andere Fotografen sehe. Ich frage mich dann manchmal selbst, wie ich aussehe, wenn ich mich mit der Kamera bewege.
Kannst du am Beispiel eines deiner Projekte beschreiben, wie du dich einer Gruppe von Menschen näherst und wie du ihr Vertrauen gewinnst? Zum Beispiel für deine Serie „Jenny Jenny“, für die du mehrere Frauen vom Berliner Straßenstrich porträtiert hast?
Die erste Begegnung war eigentlich völlig zufällig. Ich habe ein Pärchen in der U-Bahn angesprochen und gefragt, ob ich es fotografieren kann. Wir sind zusammen ausgestiegen, und ich habe gefragt, wo ich die beiden noch einmal treffen kann. Die Frau hat geantwortet: „Hier. Ich arbeite hier auf der Straße.“ Ich habe die Frauen aus Jenny Jenny über einen sehr langen Zeitraum, von 2011 bis 2013, immer wieder getroffen und zum Teil sehr gut kennengelernt. Es gab eine große Nähe, sicherlich auch weil sie wussten, dass ich nicht an Sex interessiert oder ein Voyeur war. Wir konnten sehr offen sprechen, auch über die Rolle, die jede der Frauen immer wieder in ihrem Job vorspielen muss. Das Leben einer Prostituierten ist nicht gerade einfach. Schon der Job an sich ist hart, und jeder Tag produziert neue Probleme. Die zwei Jahre für Jenny Jenny waren sehr intensiv, und ich habe auch nicht bei jedem Treffen fotografiert. Empathie für die Alltagssituation der Frauen zu entwickeln und gleichzeitig die Bilder zu produzieren, war nicht einfach.
Verfolgst du ein bestimmtes Konzept für die Bilder in einer Serie?
Am Anfang ist es ein völlig offenes Suchen. Da arbeite ich manchmal, ohne dass ich auf die technischen Einstellungen wie die korrekte Belichtung achte, und fotografiere einfach drauflos. Man muss eine gewisse Offenheit haben. Wenn man in jedem Moment immer gleich bewertet, ob etwas gut oder schlecht ist, dann schränkt man sich zu sehr ein. Manchmal habe ich filmeweise fotografiert, ohne dass ich gleich erkannt habe, was ich da eigentlich gesucht habe. Es gab einfach die Hoffnung, irgendetwas zu finden. In der zweiten Phase schaue ich dann näher hin, was ich da eigentlich gemacht habe, und überlege, wohin mich das führt. Meistens sind es zwei, drei Bilder, die dann die weitere Richtung vorgeben. Manchmal fehlen dir später noch ein paar Aufnahmen, ohne zu wissen, wie die eigentlich sein müssen. Du fährst dann dennoch ein zweites Mal hin, wie für meine Serie in Kiew, nur für ein oder zwei letzte Bilder, die aber wirklich wichtig sind.
Kannst du beschreiben, wie so eine Bildauswahl abläuft?
Die finale Auswahl treffe ich erst spät, meistens anhand von Probeabzügen, die ich lange auf dem Tisch hin und her schiebe. Ich entscheide nie schon beim Fotografieren, ob ein Bild auch Teil der Serie sein wird. Natürlich kann ich das Ergebnis inzwischen direkt beim Fotografieren auf dem Kameradisplay sehen. Und oft weiß ich, das ist ein gutes Bild! Aber erst im Laufe des Abeitsprozesses stellt sich heraus, ob das Bild auch eine Rolle für die Serie spielen wird. Gegenübergestellt mit anderen Bildern in unterschiedlichen Konstellationen, zeigt sich dann, wie wichtig ein Bild für die Serie ist.
Erzählen die Bilder einer Serie insgesamt eine Geschichte, oder sind es einfach ausgewählte Momente, die dir aus unterschiedlichen Gründen wichtig waren?
Das ist eine Frage, die mich selbst auch immer wieder umtreibt. Der Begriff der Erzählung ist relativ schwierig, weil er immer eine zeitliche Abfolge oder kausale Zusammenhänge erwarten lässt. Ich glaube, das Komplizierte an meinen Arbeiten ist, dass sie räumlich eigentlich nicht eingrenzbar sind und man als Betrachter nicht genau weiß, wo man ist und was die Bilder genau zusammenhält. Es sind eher die Bilder selbst, die den Zusammenhang konstruieren. Dennoch ergibt sich aus deren Zusammenspiel ein Raum oder ein Spannungsfeld, das man durchaus auch als Geschichte verstehen kann. Lieber als in einem Katalog, wo sie linear hintereinandergereiht abgebildet sind, sehe ich meine Arbeiten als bewegliche Konstellation wie hier auf dem Tisch in meinem Studio. Man fängt dann an, Bilder hin und her zu schieben und merkt, wie sich manche Fotos anziehen und andere abstoßen. Oft ergibt es sich, dass ich um ein einzelnes Bild oder eine Gruppe von Bildern herum arbeite, das bzw. die mir wichtig ist, und dann baut sich das so nach und nach auf.
Die meisten Leute kennen dich wahrscheinlich durch die Serie „Trona“, ein Porträt von chancenlosen Jugendlichen in der gleichnamigen kalifornischen Wüstenstadt, das 2008 entstanden ist.
Trona war mal eine industrielle Vorzeigestadt. Heute ist es aber eigentlich nicht mehr als eine Siedlung in der Wüste, ein sich selbst überlassener Ort, wo Leute abhängen, die auf Crystal Meth sind. Es ging mir darum, diesen exzessiven Drogenkonsum mit der Geschichte des Ortes zu verbinden. Was passiert, wenn soziale Strukturen zerfallen, die Leute plötzlich vom Nachbarn klauen? Es war eine sehr intensive Erfahrung. Es war eigentlich das einzige Mal in meinen zwanzig Jahren als Fotograf, wo ich echt ein ganz komisches Gefühl hatte und dachte, das könnte auch gefährlich werden. Denn diese Crystal-Meth-Typen, mit denen ich ja die ganze Zeit zu tun hatte, können wirklich auf komische Ideen kommen. Ich habe Trona übrigens erst zwei Jahre später veröffentlicht, weil ich in den Bildern von dort zunächst überhaupt keine Serie gesehen habe. Erst später wurde mir richtig klar, was die Bilder eigentlich zusammenhält.
Wir haben vorhin schon kurz darüber gesprochen, dass das Dokumentarische selten frei ist von Eingriffen und du auch gar nicht den Anspruch erhebst, dokumentarisch zu fotografieren, auch wenn es den Anschein haben mag. Wieviel Inszenierung ist bei deinen Fotos dabei?
Prinzipiell geht es erst mal um ein Beobachten aus der Mitte der Gruppe heraus. Aber selbst in der Ethnologie, also der teilnehmenden Beobachtung von Lebensweisen und kultureller Ausdrucksweise, ist klar, dass man in dem Moment etwas verändert, in dem man etwas beobachtet. Aber mich interessiert ja auch, wie die Jugendlichen auftreten und sich auch selbst inszenieren. Da spielen die Kamera beziehungsweise ich als Fotograf natürlich auch immer eine Rolle. Man muss sich bewusst sein, dass man am Ende ein Bild herstellt, also eine Konstruktion von Identität, von Selbstinszenierung und Selbstvergewisserung.
Du wurdest 2015, gemeinsam mit Olaf Nicolai, Jasmina Metwaly, Philip Rizk und Hito Steyerl eingeladen, den Deutschen Pavillon auf der 56. Kunstbiennale von Venedig zu bespielen und hast dort das immer noch sehr aktuelle Thema „Flucht“ aufgegriffen.
Flucht war schon immer eine Realität, nur hatte das Thema bis dahin wenig mediale Aufmerksamkeit erhalten. Mit immer mehr aus Syrien flüchtenden Menschen zum Zeitpunkt der Vorbereitungen für die Biennale war das Thema „Flüchtlinge“ plötzlich in aller Munde und stand im Zentrum der europäischen Politik.
Für deinen Beitrag hast du mit Geflüchteten zusammengearbeitet, die das Dach der früheren Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg besetzt hatten.
Genau, ich habe mit afrikanischen Aktivistinnen und Aktivisten gearbeitet. Flüchtlinge werden ja oft automatisch in eine Opferrolle gesteckt. Aber in meiner Arbeit geht es um Menschen, die ihr Schicksal in die Hand nehmen. Die aus den Flüchtlingsheimen rausgehen, um zu protestieren, die sich auflehnen gegen das Verbot, studieren zu können oder sich frei in Europa zu bewegen. Das sind mutige Leute, die oft schon in ihren Heimatländern politisch aktiv waren und deswegen auch fliehen mussten. Natürlich sind auch sie Opfer von Krieg und Verfolgung, und es ging mir nicht darum, das zu negieren. Es war mir aber wichtig, diese Menschen als selbstbestimmt darzustellen. Für mein Projekt habe ich mit afrikanischen Autoren und Autorinnen zusammengearbeitet, und meine Bilder aus Hamburg und Berlin wurden mit ihren Texten in afrikanischen Zeitungen und Magazinen veröffentlicht. Ich habe die Richtung der Berichterstattung, wie sie standardmäßig abläuft, versucht umzudrehen.
Was genau genommen abweicht von deinen anderen Arbeiten. Die meisten Menschen, die du in deinen Bildern zeigst, sind chancenlos und raus aus dem System.
Den Begriff „chancenlos“ würde ich selbst nie benutzen. Aber es gibt tatsächlich Unterschiede. Ich habe damals in einem Interview gesagt, dass diese Aktivisten die politisch aktivsten Menschen sind, die ich je fotografiert habe.
Ist deine Arbeit denn seit der Biennale politischer geworden?
Ja, das würde ich schon sagen. Ich glaube, es war sowohl für den Kurator Florian Ebner als auch für uns Künstler so ein Moment, in dem wir alle dachten, wir können jetzt eigentlich nicht nicht politisch sein.
Gab es etwas, das die künstlerischen Positionen von euch fünf im Pavillon verbunden hat?
Wir haben uns ziemlich oft getroffen. Aber man kann nicht sagen, dass wir uns inhaltlich oder konzeptionell immer abgestimmt haben. Dennoch gibt es ein paar Themen, die sich durch den Pavillon ziehen. Die sind vielleicht nicht allen so klargeworden, aber ein großes Thema war die Rolle von Bildern und wie Bilder in Umlauf kommen und wie sie sichtbar werden. Das steckt eigentlich in allen Arbeiten drin. Es war ein sehr intelligenter, politischer Pavillon, der aber vielleicht nicht so einfach zu lesen war. Das andere Thema, das sich durch alle Arbeiten auf unterschiedliche Weise durchzog, war interessanterweise das Dach. Das Dach als Ort der Flucht, aber auch als ein Ort des Protests oder der erhöhten Sichtbarkeit. Insofern gab es schon diese übergeordneten Themen.
Für deine aktuelle Serie „Maskirovka“ warst du mehrere Wochen lang in Kiew. Was hat dich da interessiert?
Für mich ist gerade die Ukraine und insbesondere Kiew einer der zentralen Orte, wo sich die europäische Krise manifestiert. Etwas löst sich auf, und vielleicht entsteht etwas Neues. Zumindest verändert sich dort etwas massiv. Es ging mir aber nicht darum, in das Kriegsgebiet in der Ostukraine zu fahren.
Anstatt dessen hast du in Kiew Menschen aus der Techno- und LGBTQ-Szene getroffen und hast ihren Alltag miterlebt.
Wie in anderen Arbeiten auch versuche ich mit Maskirovka tiefer liegende kulturelle und soziale Strömungen aufzuzeigen, die nicht unbedingt im Interesse der Massenmedien, aber immer in Verbindung mit dem politischen Kontext stehen. Die Leute, die ich fotografiert habe, sind natürlich alle von dem betroffen, was gerade in der Ukraine passiert – direkt oder indirekt. Viele waren an den Protesten auf dem Maidan beteiligt und sind politisch aktiv. Ich habe einen Monat lang in verschiedenen Clubs und in der AirBnb-Wohnung, die ich gemietet hatte, Leute aus der Szene getroffen, die ich teilweise sehr gut kennengelernt und immer wieder fotografiert habe. Für einige war es gefährlich, offen schwul oder queer zu sein. Zum Pride in Kiew zu gehen, bedeutet auch eine Konfrontation mit Nationalisten und rechtsextremen Kräften in Kauf zu nehmen und erfordert Mut. Krieg und Repression sind immer präsent, auch wenn die Leute auf einen Rave gehen.
Worauf verweist der Titel „Maskirovka“, russisch oder ukrainisch für Maskierung?
Mit der Idee der Maske, der Täuschung, habe ich versucht die Alltagswelt der Menschen mit dem größeren politischen Umfeld zusammenzubringen. Eskapismus und Travestie sind in der Techno- und LGBTQ-Szene Kiews sehr präsent und stellen für mich eine Realität dar, die für manche dort vielleicht realer als die postsowjetische Wirklichkeit geworden ist. Viele junge Leute maskieren sich dort auf Techno-Parties oder maskieren sich, um mit ihrer sexuellen Identität zu spielen. Masken zu tragen, hat aber gerade im Ukrainekonflikt auch eine politische Dimension. Um sich vor Tränengas zu schützen, haben die Protestanten der Maidan-Revolution Gasmasken getragen. Auch die von Russland entsandten Spezialeinheiten auf der Krim waren vermummt. Der russische Begriff „Maskirovka“ hat übrigens eine Doppelbedeutung. Er beschreibt die russische Tradition der verdeckten Kriegsführung und militärischen Täuschung.
Was planst du als nächste Projekte? Welche Gruppen von Menschen und welche Orte interessieren dich?
Ich würde gerne mal nach Minsk, also nach Weißrussland, fahren. Davon haben mir viele, die ich in der Ukraine getroffen habe, erzählt. Das ist, glaube ich, gerade ein ganz interessanter Ort. Vor Kurzem war ich in Japan und könnte mir gut vorstellen, da noch mal hinzufahren und mich unter anderem mit den dortigen Subkulturen zu beschäftigen. Zurzeit arbeite ich an einem Projekt in Riga. Und ich wollte schon immer mal eine Arbeit zum Thema „Polizei“ machen oder „Polizisten“. Aber wenn ich mir die angucke, frage ich mich immer, will ich das wirklich?
Da müsstest du vielleicht zur mexikanischen Polizei gehen?
Ja, das habe ich mir auch überlegt. Aber das ist vielleicht ein bisschen zu extrem. (lacht) Aber so in die Richtung … Dieser Widerspruch zwischen Gesetzmäßigkeiten und persönlichem Ermessen, wo es natürlich auch um Korruption geht, das fände ich interessant.
Kannst du beschreiben, wie du dich selbst gerne in die Geschichte der Fotografie eingeordnet sehen würdest?
Als ich angefangen habe, wäre mir die eigene Einordnung noch leichter gefallen. Vielleicht irgendwo zwischen Michael Schmidt, Wolfgang Tillmans und Paul Graham. Und Nan Goldin natürlich. Inzwischen findet aber eine unglaubliche Bildproduktion statt – eine Art Bilderkosmos ohne klaren Anfang und ohne klares Ende, produziert von Menschen, die mit ihren Handys fotografieren, begünstigt von der gesteigerten Bedeutung von Bildern in den sozialen Medien. Diese Entwicklung wirft zwangsläufig die Frage danach auf, was Fotografie überhaupt noch ist und was es heute eigentlich noch bedeutet, Fotografin oder Fotograf zu sein. Welche Rolle meine Arbeit, rückblickend betrachtet, einmal spielen könnte, kann ich nur schwer einschätzen. Ich weiß nur, dass ich immer weiter das machen werde, was ich mache.
Interview: Julia Rosenbaum, Florian Langhammer
Fotos: Michael Danner
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