Die nordeuropäische Szene für zeitgenössische Kunst entwickelt neue Dynamiken und wird zunehmend von internationalen Sammlern beobachtet. Mit den Nordic Notes lenken wir regelmäßig den Blick auf die nordische Kunst- und Kulturszene und stellen ihre wichtigsten Akteure vor.
Ville Kylätasku befasst sich mit existentiellen Themen, sowohl auf der Ebene der Realität, die wir sehen und erfahren, aber auch im Kontext der Wahrnehmungspsychologie. Auf schwarze oder milchige hi-tech PVC-Planen gemalt, verweisen seine Gemälde auf die Faszination des Künstlers für verschiedene Materialien, Texturen und Prozesse. Trotz ihrer intensiven Textur und Plastizität erscheinen sie nahezu schwerelos. Wir trafen Ville Kylätasku in seinem Atelier in Berlin-Hohenschönhausen, das dort direkt gegenüber dem Gefängniskomplex des ehemaligen DDR Ministeriums für Staatssicherheit, heute eine Gedenkstätte, liegt.
Ville, dein Atelier liegt in einem Gebäude, das in der ehemaligen DDR von der Stasi genutzt wurde.
Richtig. Wir befinden uns hier in den Studios des Informationsdienstes, oder auch kurz „Studios ID“. Früher gehörte dieser Gebäudekomplex zum Ministerium für Staatssicherheit der DDR, in dem die gesamte Spionageausstattung das Landes entwickelt, hergestellt und unterhalten wurde. Heute beherbergt er eine sehr heterogene Gruppe von Künstlern, Designern, Fotografen, Bildhauern und anderen Kreativen. Es ist schon paradox, dass frei denkende Menschen dieses Gebäude übernommen haben und der frische Wind künstlerischen Schaffens nun durch seine Flure weht.
Kannst du jemandem, der mit deiner künstlerische Arbeit nicht vertraut ist, erklären, worauf sich deine Kunst konzentriert?
In der Geschichte der Philosophie und Religion wurden die ultimativen Fragen des Lebens als immerwährend bezeichnet – Fragen, die ständig wiederkehren ohne eine endgültige Antwort zu finden. Ich interessiere mich für diese immer wiederkehrenden, die Existenz des Menschen betreffenden Fragen. Meine Kunst befasst sich vor allem mit dem, was Persona, Verstand und Bewusstsein ausmachen und bedingen.
Worum geht es in den Untersuchungen unserer Existenz?
Die Tatsache, dass wir existieren, lässt sich aus der Beziehung von Gegensätzen ableiten, die in Abhängigkeit zueinander stehen. Erkenntnis beispielsweise erfordert sowohl Materialität als auch sensorisches Talent, denn nur so lassen sich Realität und Selbstbewusstsein erklären. Gegensätze sind auch die Grundlage unserer sozialen und moralischen Existenz. Selbstsein erfordert ein Gegenüber, Individualität und Identität entwickeln sich durch soziale Beziehungen, die uns das eigene Sein widerspiegeln. Mich interessieren diese Gegensätze, die das Leben definieren.
Was hat dich veranlasst, metaphysische Fragen zum Thema deiner Kunst zu machen?
Heute ist unsere Gesellschaft mit sehr oberflächlichen Dingen beschäftigt. Diese Seichtigkeit wird von visuellen und schnell konsumierbaren Medien wie Instagram und Facebook zunehmend verstärkt. Ich glaube, es gibt noch einen unerforschten Raum für Kunst, die spirituelle Fragen der menschlichen Existenz, wenn man so will die Bedeutung des Lebens anspricht. Ich interessiere mich sehr für Mythologie und moderne Wissenschaften. Das Leben ist ein Mysterium, das nicht rational begriffen, aber gefühlt werden kann. Ich konzentriere mich darauf, diese Emotionen zu evozieren. Ich denke, wir brauchen eine Kunst, der es gelingt, unsere Seele zu berühren.
Es wird oft behauptet, dass du einen Bezug zur Renaissance suchst. Auf welchen Ebenen ziehst du Verbindungen?
In der Renaissance wurden die Maler von ähnlichen Motiven, die wir eben angesprochen haben, bewegt. Es war eine Zeit, in der ein neues Selbstbewusstsein entstand, in der die Gesellschaft, die Wissenschaften, die Philosophie und Künste ein gesteigertes Interesse für die Fähigkeiten des menschlichen Geistes entwickelten. In der Malerei drückte sich das in dem Verlangen der Maler aus, im Betrachter positive Gefühle für ihre Kunst zu entfachen. Gemälde waren mehr als reine Darstellungen. Sie waren damit ein Wendepunkt in der Kunstgeschichte, und bis heute haben sie nichts an ihrer Anziehungskraft eingebüßt.
Du verfolgst nicht nur ähnliche konzeptuelle Ideen, sondern ziehst auch auf einer formalen Ebene Parallelen zur Kunst der Renaissance?
Ich habe gewisse Techniken adaptiert, verwende sie aber in einem zeitgenössischen Kontext, so dass sie nicht sofort erkennbar sind. Die Meister der Renaissance hatten die fantastische Fähigkeit, Licht und Schatten in Malerei umzusetzen. Meine Arbeiten haben das Konzept von Licht und Schatten, Weiß und Schwärze, oft fast buchstäblich adaptiert wie zum Beispiel in diesem Gemälde hier mit dem Titel We came from the Stars. In anderen Fällen adaptiere ich diese Prinzipien metaphorischer, indem ich Materialien verwende, die ein gegensätzliches Konzept repräsentieren. Aus technischer Perspektive betrachtet, trage ich Schichten verschiedener Farben oder Pasten, aber auch Materialien wie Perlen oder Stoff auf. Das Auftragen von Schichten und die Prinzipien des Hinzufügens und Weglassens, waren eine populäre Praxis in der Renaissance. Vor meinem Kunststudium habe ich eine Designausbildung abgeschlossen. Sie ist wahrscheinlich der Grund dafür, dass ich sehr ungezwungen mit diesen räumlichen Kategorien umgehe. Ich verfolge jede Schicht und gehe in meinen Gedanken zwischen den einzelnen Schichten hin und her.
Viele deiner Arbeiten vermitteln tatsächlich ein starkes Raumgefühl, fühlen sich fast wie Collagen aus Materie an. Ist das auch der Designer in dir?
Vielleicht. Obwohl ich mit der konventionellen Technik von Öl auf Leinwand zu malen begann, die ich übrigens unter anderem immer noch verwende, haben meine Gemälde über die Jahre tatsächlich eine plastische Qualität angenommen. Ich habe schon immer großes Interesse für neue Materialien gehabt. Da Gegensätze eine so wichtige Rolle in meiner Arbeit spielen, betonen die Materialien, die ich verwende, dieses Spiel mit Gegensätzen. Du kannst mich in Berlin in allen möglichen Geschäften für Designer- und Architekturbedarf finden, wo ich ständig nach Materialien mit gegensätzlichen Eigenschaften suche, wie etwa glänzende und matte, oder nicht durchlässige und transparente Materialien.
Könntest du ein paar Worte zu einer konkreten Werkserie sagen, um zu verstehen, wie man deine Gemälde lesen muss, wenn man direkt vor ihnen steht?
Nehmen wir dieses Gemälde aus der Vanitas Serie, auf dem man vage eine Blume erkennen kann. Blumen repräsentieren gemeinhin Schönheit, möglicherweise aber auch Verlangen. Und nun stell dir eine welkende Blume vor, die, wenn man so will, auch ein Hinweis auf das Vergängliche, auf den Tod, sein kann. In meinen Arbeiten wird der Aspekt des Verlangens häufig repräsentiert, oft in einem philosophischen Kontext. Das ist, was meine Arbeit inspiriert, ich lasse mich von meinem Verlangen antreiben.
Verlangen ist ein komplexes Konzept, es kann auch mit Sexualität assoziiert sein. In welchem Kontext verwendest du es?
Ja, absolut. Als sexueller Aspekt ist Verlangen in meinen Arbeiten natürlich auch immer wieder präsent. Warum Verlangen? Vielleicht weil uns immer etwas zu fehlen scheint und wir uns deshalb als unvollständig empfinden. Und die Religion legt noch etwas drauf, indem sie uns lehrt, dass wir schuldig, unvollkommen und unwürdig sind. Als Gesellschaft sind wir in dem Gefühl der Unvollkommenheit gefangen. Um dem zu entkommen, suchen wir Aufmerksamkeit und Anerkennung von anderen, möchten möglichst viele Sexpartner finden und suchen natürlich Rettung im Konsum. Aber kein Verlangen, das sich auf Materielles stützt, kann jemals dauerhaft gestillt werden.
Aber was macht die Blume in der „Vanitas“ Serie anders?
Die Blume wendet sich der Sonne zu. In philosophischer Hinsicht ist auch dies eine Form von Verlangen – das Verlangen zu wachsen, zu sein, zu überleben. Aber es ist ein Verlangen, das von innen kommt. Ein solch wesenhaftes Verlangen findet seine Erfüllung in einem profunderen und dauerhafteren Prozess in sich selbst.
Darf ich sagen, dass die Auswahl deiner Farben und Materialien für einen männlichen Künstler sehr ungewöhnlich ist?
Ja, ich weiß. Es sind nicht die Farben, die normale „Kerle“ verwenden würden. (lacht) Ich male manchmal auf eine sehr „fleischige“ Art, mit vielen Rot- und Orangetönen und füge oft auch noch rosa und violett hinzu. Meine Farben und Materialien provozieren. Viele Menschen hassen rosa, aber das ist mir egal. Ich möchte nicht gefallen, sondern verführen. Um diese weichen, manchmal Barbie-ähnlichen Farben auszubalancieren, arbeite ich mit schwarz oder übertreibe mit leuchtenden, glänzenden Materialien.
Wie beginnst du eine neue Arbeit?
Meist beginne ich Gemälde mit einer flüssigen Farbe, so dass die aufgetragene Farbe fast transparent wird. Statt Leinwand verwende ich PVC-Plane, die Farbe weniger schnell absorbieren, so dass ich sie während des Malprozesses länger manipulieren kann. Für diese Technik muss ich die Bögen auf den Boden legen, um zu verhindern, dass die Farbe verläuft. So wie hier … (geht in die Hocke, um auf einem auf dem Boden liegenden, frischen Bogen zu malen)
Wenn man dich so beim Malen beobachtet, erscheint alles sehr spielerisch und impulsiv. Hast du einen unausgesprochenen Plan, während das Gemälde Form annimmt?
In gewisser Weise ist meine Arbeitsweise sehr intuitiv und impulsiv. Während des Malens folge ich meinem Verlangen, wobei das Arbeiten mit PVC diesen Ansatz unterstützt, weil das Material nachsichtiger als Leinwand ist – man muss nicht jede Bewegung so genau überlegen. Das ermöglicht es mir, mich einfach mal hinzusetzen und einen Moment zu überlegen, was der nächste Schritt sein soll. Es ist ein Wechselspiel von Impulsivität und Reflektion, die am besten mit „kontrollierten Impuls“ beschreiben werden kann. Alles beginnt mit einem Mysterium und endet im Mysterium. Wie das Leben selbst!
Da deine Arbeiten ziemlich abstrakt sind und du dich gewissermaßen von deinem Impuls leiten lässt, wann entscheidest du, dass eine Arbeit fertig ist?
Das ist ein Bauchgefühl, das ich nicht erklären kann. Nichtsdestotrotz versuche ich meine Arbeiten liegen zu lassen, wenn sie zu 70 oder 80 Prozent fertig sind. Ich betrachte sie mehr oder weniger als Grundlage für Gemälde, auf die ich zurückkommen kann und die ich in der Zukunft fertigstellen will. Zum Beispiel das Gemälde, an dem ich hier gerade mit dir gearbeitet habe, werde ich möglicherweise zur Seite bis zu zwei Jahre beiseite legen, bis ich es brauche. Wenn ich eine Ausstellung plane und ein maskulineres oder dunkleres Gemälde brauche, durchstöbere ich mein Lager so lange, bis ich das Richtige finde. Erst dann beende ich eine solche Arbeit. Meine Arbeiten sind Teil eines Kontinuums und kommen in mehreren Konstellationen zusammen. Menschen, die mich in meinem Atelier besuchen und sich die wie zufällig im Raum aufgestellten Gemälde betrachten, verstehen oft nicht, was ich mache – bis sie die Gemälde in einem Ausstellungskontext wiedersehen.
Was passiert denn mit deinen Gemälden in einem Ausstellungskontext?
In meinen Ausstellungen versuche ich die gleiche Dramaturgie der Anziehung und Abstoßung von Gegensätzen, die meinen Gemälden innewohnen, zu verwirklichen. Ich kann nicht genau beschreiben, wie eine Ausstellung entsteht. Ich habe kein konkretes Konzept oder einen Zeitplan. Ich beginne mit einer Intuition, und je näher das Ausstellungsdatum kommt, nimmt alles Form an, insbesondere wenn ich feststelle, dass gewisse Arbeiten etwas gemeinsam haben oder sich gegenseitig abstoßen. Jede Arbeit repräsentiert eine Art Geste, die Überlegungen wie Licht und Dunkelheit, Glück, Linearität, Männlichkeit oder Weiblichkeit verkörpern. Wenn sie erst einmal zueinander in Beziehung gesetzt werden, verweben sie sich auf einer immateriellen Ebene und es entfaltet sich eine Geschichte. Wenn du in meinen Ausstellungen genug Zeit verbringst, wirst du dieses Gewebe von Unterbrechung, Gegenwirkung und Spannung erkennen. Ich versuche, einen Präsentationraum zu gestalten, der aktive Beteiligung einfordert und einen dauerhafteren, über den Moment hinaus gehenden Eindruck erzeugt. Würde ich fünfzehn gleich aussehende Arbeiten präsentieren, würde sich das für mich wie Fastfood anfühlen.
Du hast erwähnt, dass du immer auf der Suche nach neuen Materialien bist. Ist das vielleicht ein Verlangen nach ständiger Erneuerung in deiner künstlerischen Arbeit?
Ja, ich halte dieses Verlangen und das persönliche Interesse für meine künstlerische Arbeit in mir wach. Das Studium neuer Materialien hilft mir, offen zu halten, wohin sich meine Kunst entwickelt. Vor einiger Zeit habe ich begonnen, mehr mit transparenten Materialien zu arbeiten. Sie sind materiell und doch ätherisch – es ist keine rein materielle Erfahrung, aber ohne das Material wäre diese Erfahrung nicht möglich. Metaphysisch ausgedrückt, ist dies der Sinn des Lebens: Ideen durch physische Erfahrungen zu verstehen. Ich mag auch das gewisse Techno-Gefühl von Neonplatten. Techno-Musik hat mich schon immer angezogen, seit den 90er Jahren. Aber natürlich war ich viel zu jung, um in die Clubs zu gehen. Aber seit ich 2012 nach Berlin umgezogen bin, bin ich mehr eingetaucht in die Szene und spiele beim Arbeiten im Atelier häufig Techno oder House.
Warum bist du eigentlich nach Berlin gegangen?
Wie soll ich sagen, meine finnische Heimatstadt Tampere ist eine kleine Welt. Auch als ich in Lahti und später dann an der Freien Kunstakademie in Helsinki studierte, habe ich mich immer etwas eingeengt gefühlt. Ich bin eher ein Großstadtmensch, und ich wollte mit meiner Kunst weiterkommen. Berlin hat sich richtig angefühlt. Es ist eine der Kunstmetropolen und liegt geographisch im Herzen Europas. Von hier aus kann ich den Kontakt mit meiner finnischen Galerie, der Galerie Forsblom in Helsinki, und mittlerweile auch mit einer Dependance in Stockholm, halten. Und natürlich hier vor Ort mit meinem Berliner Galeristen Russi Klenner. Außerdem man kann leicht mit Menschen aus anderen Teilen Europas zusammenkommen und gemeinsame Projekte verfolgen, wie erst kürzlich, als ich in den Projektraum der Galerie Lisa Kandlhofer in Wien eingeladen wurde.
Gibt es irgendetwas aus deiner finnischen Heimat, mit dem du dich verbunden fühlst?
Ich schätze, dass wir die Schönheit auch in den einfachen Dingen sehen können. Die finnische Natur ist einerseits sehr üppig, aber dabei auch sehr einfach und klar. Diese minimalistische Kultur der klaren Linien leben wird in vielen Aspekten des Lebens. Ich schätze das Konzept der Reduktion, habe aber gleichzeitig ein Verlangen nach Üppigkeit an Farben und Materialien. Ich habe das Gefühl, das beide Konzepte in meiner Arbeit vorhanden sind.
Wie hast du dich entschieden, Kunst zu deinem Beruf zu machen?
Die Motivation, Kunst zu seinem Beruf zu machen, ist immer eine sehr persönliche. Vielleicht kann ich es so beschreiben, ich hatte immer mehr das Verlangen, Dinge zu finden als sie zu suchen, was vielleicht mit meiner Veranlagung zu tun hat, aus Intuition und Impuls zu handeln. Ich habe mich schon mit 20 zur Kunst hingezogen gefühlt. Aber es dauerte noch eine Weile, bis ich den Mut hatte, mir Kunstmachen als Beruf vorzustellen.
Kannst du schon etwas zu deiner geplanten Ausstellung in diesem Herbst, in der Galerie Forsblom in Helsinki sagen?
Ich werde dort Gemälde auf verschiedenen PVC-Formaten zeigen, die meisten davon auf schwarzem oder weißen Grund, in Neon-Plexiglass gerahmt. Im Zusammenspiel mit der Wahrnehmung der betrachtenden Person führen die Arbeiten einen energischen, immerwährenden Kampf des Lebens. Thematisch gehen die meist abstrakten, leuchtend-bunten Gemälde philosophischen Lebensfragen nach, wie etwa der Frage nach der eigenen Identität und dem Sinn des Lebens.
Interview: Florian Langhammer
Fotos: Florian Langhammer