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Yorgos Stamkopoulos, Berlin

In the Studio

»Meine künstlerische Identität ist von der Dekonstruktion geprägt.«

Air-Brush-Horizonte und skulpturale Leinwände, verschwommene Bildwelten und abgekratzte Schichten: Der Grieche Yorgos Stamkopoulos ist ein besonderer Maler, denn er arbeitet wie ein Bildhauer und liebt dabei das Spiel mit dem Zufall. Seine Arbeiten zeigen abstrakte Formen, bunte Farbfelder und Linien, die scheinbar keinen Anfang und kein Ende haben. Der Entstehungsprozess, bei dem der in Berlin lebende Künstler mit einem Gussmaterial die Leinwand mit einer Art Haut bedeckt, Farbschichten darüberlegt und schlussendlich wieder abträgt, bringt seine melancholischen Gemälde hervor.

Yorgos, hat Kunst schon in deiner Jugend in Griechenland eine Rolle gespielt?
Das hat sie. Ich bin in einer kleinen Stadt geboren und aufwachsen: in Katerini im Norden von Griechenland. Die Stadt liegt eine halbe Stunde von Thessaloniki entfernt. Dort gab es kaum Zugänge zu Kunst und Kultur. Es gab kein Museum, keine Galerie oder Künstler. Und deshalb musste man alles selbst machen. Ich war schon als Kind sehr kreativ und habe die Wände meines Zimmers bemalt. Mein Vater war Maler, weswegen ich den Vorteil hatte, das machen zu können. Die Wände wurden zu meiner Leinwand.

Du hast sie dann einfach als Kind selbst bemalt?
Ganz genau. Zweimal im Jahr konnte ich alles neu bemalen und vollzeichnen, dann hat mein Vater die Wände frisch gestrichen und es ging wieder von vorn los. Die ersten Rothkos habe ich dann auch bei meinem Vater gesehen. Im Sommer durfte ich ihn bei seiner Arbeit begleiten. Er wollte, dass ich verstehe, was er in seinem Job macht. In einem der Häuser hat er mit mir bunte Quadrate an die Wände gemalt. Als ich viele Jahre später auf die Kunstakademie ging und dort erstmals einen Rothko gesehen habe – ist mir diese Szene ins Gedächtnis gekommen. Für meine Kunst war mein Vater prägend, obwohl er gar keine Ahnung von Kunst hatte. Das war alles intuitiv.

03 Yorgos Stamkopoulos c Patrick Desbrosses

Warum hast du dich dazu entschieden, Kunst zu studieren?
Ich war sehr schlecht in der Schule. Mathematik, Philosophie oder Altgriechisch waren nicht mein Ding. Ich war deshalb ständig am Zeichnen oder Malen. Kurz vor dem Abitur kam mir dann der Gedanke, dass es vielleicht das ist, mit dem ich auch mein Leben verbringen möchte. Meine Eltern haben mich sehr in meiner Leidenschaft unterstützt, und sie haben mir geraten, Unterricht zu nehmen und dabei zu schauen, wo mich das Ganze hinbringen könnte. Ein Jahr später habe ich mich an den beiden griechischen Kunstakademien in Athen und Thessaloniki beworben. Beim dritten Versuch wurde ich dann endlich angenommen. Das war eine schwierige Zeit für mich. Ich dachte zunächst, dass ich nicht gut genug bin. Bevor ich an die Kunstakademie gegangen bin, habe ich sehr viele Graffitis gemacht.

Gab es eine Crew, mit der du Street Art gemacht hast?
Mit Schulfreunden. Es war supercool. In Griechenland war das damals ganz neu und noch unbekannt. Wir haben einfach angefangen, ein bisschen zu sprühen und unsere Tags zu setzen. Das war aufregend und ein besonderes Gefühl von Freiheit. Aber ich war wirklich schlecht und ich bin auch bis heute nicht besser in der Street Art geworden. Mein Charakter hat dann doch besser in die Kunstakademie als auf die Straße gepasst.

01 Yorgos Stamkopoulos c Patrick Desbrosses

Was waren inspirierende Momente an der Kunsthochschule, gerade am Anfang deiner Karriere?
Die ersten zwei Jahre waren sehr akademisch. Wir haben viel gemalt, gezeichnet und Techniken erlernt – Farbe, Linien, Punkte. Im dritten Jahr gab es dann die Befreiung. Wir durften völlig frei arbeiten. Die Professoren haben uns losgelassen. In dieser Zeit habe ich mit dem Experimentieren begonnen. Zunächst machte ich vor allem Collagen, die ich mit darauf liegender Malerei verbunden habe. Ich habe die Collage dabei dekonstruiert; damals wusste ich noch nicht, dass diese Technik mich prägen wird. Als mein Professor erste Proben dieser Werke sah, wollte er direkt mit mir reden. Er hat mir gesagt, dass das was Interessantes sei. Dann hat er mir Künstler empfohlen, die ich mir ansehen sollte – Jacques Villeglé, Mimmo Rotella oder John Heartfield zum Beispiel. Den kannte ich damals überhaupt nicht, weswegen ich mich dann über Wochen in kunsthistorische Bibliotheken eingeschlossen und alles gelesen habe, was ich lesen konnte – die politische Situation in der Zeit, die Biografien der Künstler, die soziale Lage.

Was hat dich daran begeistert?
Für mich war das eine unglaublich prägenden Phase. Besonders der klassische Prozess, der mit der Collage verbunden ist, die Dekonstruktion, etwas abzureißen und neu zusammenzusetzen, hat mich überwältigt. Das wollte ich weiterentwickeln. Schon damals habe ich die Dekonstruktion mit neuen Techniken betrieben. In Berlin habe ich dann vor allem Bilder mit Air Brush gemalt und sie durchs Abtragen wieder dekonstruiert.

Was hat dich zu deinen Air-Brush-Arbeiten inspiriert?
Sehr starke Inspiration hat die Berliner Techno-Szene geliefert. Der Himmel über der Stadt war grau. Im Club gab es Dunkelheit und Nebel.

Und wie hast du diese Technik für dich perfektioniert?
Da war ich gerade Student in Berlin. Und ich hatte ein Studiogespräch mit meinem Professor, bei dem ich ihm einige Bilder gezeigt habe. Er sagte zu mir, dass er sie interessant findet, ich aber die Figuren, die ich damals auch mit draufgemalt hatte, weglassen sollte. Daneben waren meine frühen Arbeiten sehr grafisch und genau komponiert. Er empfahl mir, die gleichen Motive einmal mit Air Brush aufzutragen. Ich war dann erst mal erstaunt und sagte ihm auch, dass ich technisch überhaupt nicht die Möglichkeiten oder das Geld dazu hätte, mir so ein Gerät für die Bilder anzuschaffen. Und dann hat er mir geraten, mal in der Bildhauerei-Abteilung nachzufragen, weil die einen Kompressor hätten. Das habe ich gemacht und dann meine ersten Air-Brush-Bilder entwickelt und gemalt. Das sah direkt richtig und genau aus und ergab total Sinn. Die ganze Textur, der Farbauftrag und die Bildinhalte haben sich dadurch geändert und eine ganz andere Aussagekraft bekommen.

Wie ging es dann damit weiter?
Ich habe mich immer mehr an die Technik angenähert. Für mich wurde sie zu einem Werkzeug, aber auch zu einem experimentellen Spiel. Das liegt auch an einer ganz zentralen Eigenschaft des Air Brushs: Du hast einen gewissen Abstand zum Bild, wenn du die Farbe aufträgst. Beim Pinsel überträgt sich die künstlerische Energie über das Werkzeug direkt auf das Bild. Beim Air Brush gibt es den Abstand zwischen dem Instrument und der Leinwand, der meistens zwischen 15 und 20 Zentimeter groß ist. Und das veränderte alles für mich.

Spielt diese Distanz für dich eine Rolle als künstlerisches Konzept?
Damals nicht. Heute finde ich es interessant, über die technischen Aspekte nachzudenken und den besonderen künstlerischen Charakter dieses Werkzeuges und wie es mich auch geprägt hat zu reflektieren.

Ist das auch mit deinem Konzept der Dekonstruktion verknüpft?
Ja, so ist es. Für mich ist die Dekonstruktion das wichtigste Element meiner Kunst. Meine künstlerische Identität ist von der Dekonstruktion geprägt. Kunst ist immer auch Dekonstruktion.

Wie bist du dann zur Skulptur gekommen?
2017 habe ich die erste Skulptur gemacht, bei einer Ausstellung in der Galleria Mario Iannelli in Italien. Ich habe dort keine Bilder präsentiert, sondern die gesamte Galerie in ein riesiges, begehbares Bild von mir umgeformt – also eine Rauminstallation entwickelt. Auf meinen großformatigen Bildern waren Linien sichtbar, die ich mit Air Brush gesprüht hatte, und durch skulpturale Elemente wollte ich diese Linien auf die dritte Dimension heben. Ich habe dann mehrlagige Metalldrähte mit der Hand abgeformt, die als freie Linien im Raum schweben und stehen. Trajectory habe ich dieses Projekt genannt. Es gab in der Galerie nur dieses eine Gesamtwerk. Die Betrachter sind mitten durch das Werk gelaufen und waren Teil davon. Es war eine immersive Mischung aus haptischer und gemalter Kunst.

Gibt es eine Ausstellung, die prägend für dich war?
Eigentlich hat mich fast jede Schau irgendwie geprägt. Meine erste Präsentation in Italien war sehr besonders. Der Galerist wünschte sich eine Ausstellung, bei der ich meine Air-Brush-Horizonte zeigen sollte. Aber die Absprache zur Ausstellung hat über ein Jahr gedauert, und meine künstlerische Sprache hat sich in dieser Zeit sehr stark weiterentwickelt. Ich habe ihm dann meine neuen Ideen gezeigt, und er war überrascht und erstaunt. Ich stand damals gerade am Beginn meiner Karriere und hatte Angst, dass er alles ablehnt. Aber er hat gesagt, dass wir die Schau auch mit den neuen Arbeiten machen können. Das war ein besonderes Gefühl – ernst genommen zu werden und auch zu sehen, dass meine künstlerischen Ideen umgesetzt werden und ich auch ein Mitspracherecht habe. Und wie gesagt, Trajectory in Rom war einfach von den Ausmaßen her bombastisch.

Wie konzipierst du deine großformatigen Arbeiten und Skulpturen?
Er gibt bei mir keinen generellen Prozess. Ich fertige keine Zeichnung davor an. Ich gehe sehr intuitiv an meine Arbeiten heran und auch an die Leinwand. Ehrlich gesagt, weiß ich nie, wie meine Arbeiten am Ende aussehen werden. Ich würde dieses Vorgehen als „Blind-Prozess“ bezeichnen.

Was bedeutet das konkret?
Ich beginne meistens ganz abstrakt und trage ein Maskierungsmittel auf die Leinwand auf. Hier zeigt sich auch der Bezug zur Bildhauerei. Ich fühle mich in den letzten Jahren mehr als Bildhauer denn als Maler. Mit den Mitteln, die Bildhauer zum Abformen nutzen, male ich gestisch auf die Leinwand. Ich lasse sie dann trocknen und dann gebe ich Ölfarbe drauf und male wieder sehr großflächig.

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Wie fährst du anschließend fort?
Danach lasse ich es wieder trocknen und male abwechselnd mit Maskierungsmittel und Ölfarben. Das ist ein Mehr-Ebenen-Verfahren. Ich weiß nicht, wie sich die Formen dabei entwickeln, wie Vertikalen entstehen oder welche Bereiche von der Leinwand ohne Farbe sind. Ich weiß nur eine Sache – wenn auf der Leinwand keine freie Fläche mehr ohne Farbe ist, dann kratze ich die Farbe wieder ab und arbeite an meinen Werken bildhauerisch. Ich bin dann wie der Bildhauer, der von den vielen Ebenen des Bildes, wie bei einer Skulptur, die Schichten abträgt. Es ist dasselbe Prinzip wie beim Abformen: Die Leinwände werden für mich zur Skulptur.

Und das geschieht auch intuitiv?
Ja, weswegen ich nie weiß, wie meine Bilder am Ende werden. Ich nenne dieses Prinzip „Demaskieren“. Wenn ich ein Bild demaskiert habe und mir die Komposition, die Farben oder die Schichten nicht gefallen, dann ändere ich das auch nicht. Das würde meinem künstlerischen Prinzip wiedersprechen. Dann mache ich lieber gleich ein ganz neues Bild.

Wer oder was inspiriert dich in deinem Schaffensprozess?
Die Musik inspiriert mich. Ich bekomme dadurch eine besondere Balance und Harmonie, und diese musikalische Energie spürt man auch in meinen Bildern. Künstlerische Vorbilder habe ich viele. Ich mag die Malerei von Mark Rothko und die großen Werke von Clyfford Still. Es gibt sehr viele Menschen und Künstler, die mich inspirieren. Ich mag auch viele Arbeiten, die gar keinen Bezug zu meinen Werken haben. Sie müssen mich gefühlsmäßig ansprechen und berühren. Dann ist es gut.

Welcher Musik-Stil bedeutet dir besonders viel?
Ich mag sehr dunklen psychedelischen Rock und Doom Metal, der viel Energie hat und mir wirklich gute Harmonien gibt. YOB ist eine Band, die ich sehr mag. Dieser Musikstil hat viele Gemeinsamkeiten mit meiner Malerei, und die Art, wie die Sounds entstehen, erinnert mich sehr an das griechische Theater – es baut sich langsam auf –, und am Ende gibt es eine Katharsis. Und genauso funktioniert auch mein künstlerisches Prinzip des Demaskierens. Die Band Swans aus den Vereinigten Staaten gefällt mir auch sehr gut und geht bei ihrem experimentellen No-Wave-Rock ähnlich vor. Die Läuterung gibt es da auch immer am Ende. So wie am Ende auch mein Bild eine Schlussfolgerung hervorrufen soll.

Die Läuterung ist also immer Teil deiner Arbeit?
Ja, weil ich eben immer mit Musik arbeite. Ich lege mir pro Tag eine Platte auf und male dann dazu.

Welche Platte ist es gerade?
Ich werde später etwas auflegen. Heute scheint die Sonne und es gibt blauen Himmel. Heute möchte ich dann etwas Positives hören. Nichts Melancholisches. Nichts Deprimierendes.

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Wie war es für dich, von Griechenland in das graue Berlin zu kommen, und was hat das mit deiner Kunst gemacht?
Ja, ich brauchte Zeit, um mich an diese Stadt, ihre Atmosphäre und ihr Wetter zu gewöhnen. Ab dem Punkt, ab dem ich mich entschieden hatte, in Berlin zu bleiben und zu arbeiten, sind diese Fragen aber verschwunden. Ich habe mich dann eben dafür entschieden. Ich bin da auch sehr freigeistig. Wenn ich keine Lust mehr auf das Wetter und den Vibe habe, dann ziehe ich eben weiter. Es liegt ja in mir selbst und an mir selbst. Und wenn ich mich für etwas entschieden habe, dann will ich auch das Gute darin sehen. Es gibt auch in diesem Grau immer etwas Besonderes und Schönes. Und das will ich dann finden und mich mit dieser Energie aufladen. Das gibt mir kreative Kraft.

Was wird der nächste künstlerische Schritt für dich sein und welche kommenden Ausstellungen planst du?
Eine sehr gute Frage. Ich stelle mir die selbst viel zu selten. Im Moment möchte ich mich einfach im Atelier einschließen und arbeiten. Ich habe viele Ideen im Kopf und bin jetzt zwei Monate weg gewesen. Ich freue mich wieder auf den malerischen Prozess. Ich freue mich darauf, wieder anzukommen. Daneben arbeite ich gerade an einer Ausstellung für Collectors Agenda, bei der Werke von meinem Kollegen Ilari Hautamäki und mir gezeigt werden und die sozusagen unser aktuelles Œuvre präsentieren wird. Und ich bin sehr aufgeregt, weil ich gerade damit angefangen habe, Bronzeskulpturen zu entwickeln.

Was hat es mit den Bronzeskulpturen auf sich und wo lässt du sie fertigen?
Die Bronzeskulpturen sollen eine ganz neue Werkreihe für mich bilden. Ich bin gespannt, ob diese Skulpturen, die gerade in Griechenland gegossen werden, gut geworden sind. Ich arbeite mit einer sehr guten Gießerei in der Nähe von Athen zusammen, wo alle Mitarbeiter fantastische Handwerker sind, die sich mit der Materie bestens auskennen und mich unterstützen. Ich war schon zweimal selbst dort und mag besonders den jungen Meister. Er gießt da in der dritten Generation und weiß genau, worauf ich mit meinen Ideen abziele, und setzt die gut um. Auch er ist gerade aufgeregt, weil er nicht wusste, ob meine Ideen machbar sind. Meistens hat es am Ende geklappt und wir beide waren glücklich. Nun warte ich darauf, dass auch meine Bronzeskulpturen fertig werden. Sie werden stilprägend sein und eine große Überraschung werden. Kunst sollte ja auch immer überraschen. Auch das gibt gute Energie.

Hyper hyper, Ausstellungsansicht, Callirrhoe, Athens, 2022 , Gruppenausstellung, Foto: Alexandra Masmanidi

Touch Me Don't Touch Me, Ausstellungsansicht, Zeller Van Almsick Gallery, Wien, 2023, Duo mit Bianca Phos, Foto: Kunstdokumentation

Worlds Beneath, Ausstellungsansicht, Nathalie Halgand Gallery, Wien, 2018 Foto: Julian Mullan

Untitled, Öl und Ölschläger auf ungrundierter Leinwand, 2022, Foto: Trevor Good

Interview: Kevin Hanschke
Fotos: Patrick Desbrosses

Links:

@yorgosstamk

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